Magie und Mathematik

10. September 2022. Bühnenmagier Robert Wilson, Minimalkomponist Philip Glass und Tanz-Ikone Lucinda Childs sind wieder vereint. Wie einst bei "Einstein on the Beach". Theaterlegendenstoff. Am Hamburger Thalia greifen sie jetzt nach Einsteins legitimem Nachfolger in Sachen Astrophysik und Pop: Stephen Hawking. "H – 100 seconds to midnight" erforscht die Urgründe des Universums.

Von Stefan Forth

"H – 100 seconds to midnight" von Robert Wilson am Hamburger Thalia Theater © Lucie Jansch

10. September 2022. Unsere Welt ist schmutzig, verrottet und dem Untergang geweiht. Auch wenn es bis dahin vielleicht noch ein paar Millionen Jahre dauert. Am Hamburger Thalia Theater sucht Regie-Altmeister Robert Wilson Trost in den dunklen Tiefen des Universums und den unerklärlichen Rätseln der Natur. Seine neueste Raumerkundung "H – 100 seconds to midnight" ist außerdem eine Zeitreise in die endlichen Weiten der Bühnengeschichte des vergangenen Jahrhunderts.

Das große leuchtende H über der Rampe steht für den Astrophysiker Stephen Hawking, der mit seinen Texten über die großen Fragen des Menschseins eine der zentralen Inspirationsquellen dieses relativ kompakten Abends ist. Wie ein Satellit kreist die Inszenierung darum, wer oder was uns in die Welt geworfen hat, was Anfang und was Ende von allen Dingen ist – wobei der Zufall von Vornherein ganz gute Karten hat, das Rennen gegen mythologische oder religiöse Erklärungsversuche jeglicher Couleur um Längen zu gewinnen. Auch wenn der Schöpfer selbst, Robert Wilson, immer wieder hallend aus dem Off fragt: "Is there a god?"

Kindliches Staunen über das All

Der 81-jährige hat nicht verlernt, wie’s geht: "H" hat keine Handlung, höchstens andeutungsweise so etwas wie Restbestände von Figuren und schafft immer wieder neue poetische Assoziationsräume für Formen, Klänge, Musik, Körper und Gedankenfetzen. So verwandelt sich ein animiertes Standbild in das nächste. Die schattenhaften Bühnenlandschaften verändern sich, aber die großen Themen bleiben die gleichen, oszillieren zwischen der Ewigkeit von Zeit und Seele und der Endlichkeit von Mensch und Natur, erzählen von der schöpferischen Kraft der Fantasie und dem kindlichen Staunen über das Universum selbst.

H 100 Seconds1 805 Lucie Jansch uDer Gabentisch Gottes ist leer: Jens Harzer unter weißer Maske © Lucie Jansch

"Wir haben unsere Visionen abgetötet. Ich denke, wir müssen von vorn anfangen", sagt Schauspieler Jens Harzer zu Beginn dieses Abends. Und tatsächlich sucht die Inszenierung in der Vergangenheit nach Anhaltspunkten für Hoffnungen der Zukunft. Harzer selbst ist ein weiß getünchter trauriger Clown, der im tiefschwarzen Gehrock an den US-amerikanischen Schauerschriftsteller Edgar Allan Poe erinnert und sich passenderweise erst einmal auf einer halbrunden Steinbank vor einem neogotischen Gebäudeklotz inklusive ausgestelltem Grusel-Wasserspeier niederlässt. Das düster-graue Haus hat Regisseur Wilson als sein eigener Mit-Ausstatter im 80°-Winkel schief auf die Bühne des Thalia-Theaters gebaut. Mit seinen rätselhaft erleuchteten Fenstern scheint es direkt aus einem Stummfilm gefallen zu sein.

"Das Quadrat ist die Leidenschaft des Kreises"

In ähnlichen Schräglagen lässt Wilson immer mal wieder Körperteile seiner Schauspieler:innen einfrieren. Mensch und Maschine verschmelzen, als wären Astronauten Roboter. Jede Geste scheint hier geometrisch vermessen und genau durchchoreographiert zu sein, ein verspieltes, detailverliebtes Formenballett, das augenzwinkernd Magisches hinter Mathematischem vermutet: "Das Quadrat ist die Leidenschaft des Kreises."

H 100 Seconds2 805 Lucie Jansch uVerwinkelte Wirklichkeit: Jens Harzer mit Pauline Rénevier, Barbara Nüsse und Marina Galic auf der expressionistischen Stummfilm-Bühne von Robert Wilson © Lucie Jansch

Mit solchen bildgewaltigen und symbolträchtigen Ansätzen hat sich Wilson vor Jahrzehnten einen Namen gemacht. Er hat dem Theater kraftvoll einen Weg ins 21. Jahrhundert geebnet, und in der ersten Hälfte dieses neuen Abends in alter Gestalt entwickelt sich tatsächlich immer wieder ein energetischer Sog, den die suggestive Musik von Philip Glass wirkungssicher verstärkt. Das Ensemble spielt hochkonzentriert und spannungsgeladen. Barbara Nüsse und Marina Galic etwa verschmelzen in bis zum Hals hochgeschlossenen Kleidern oft geradezu mit den Bildkompositionen der Bühne – und haben doch eine ungeheure Präsenz, entwickeln eine feine Ironie.

"Bleibt neugierig und gestaltet die Zukunft!"

Toll auch, wie Jens Harzer und sein Schauspielkollege Tim Porath über den Ursprung und Sinn des Lebens philosophieren. Als wäre der eine das rückwärtige Spiegelbild des anderen, taumeln sie gemeinsam verloren über die Bühne. Bis Harzer sich umdreht und Porath ihn breit zähnefletschend angrinst wie die Katze aus "Alice im Wunderland". Dann brezeln sie sich für einen kurzen Moment auf, lassen sich Glitzerzylinder, Glitzerhandschuhe und Glitzerschals anlegen und verwandeln Randy Newmans Songversprechen "I'll be home" in eine Slapstick-Playback-Revuenummer.

H 100 Seconds4 805 Lucie Jansch uAn den Stränden der Zeit: das Thalia-Ensemble spielt im formstrengen Arrangement von Robert Wilson © Lucie Jansch

Nicht alles macht allerdings so viel Spaß wie diese kleine Showeinlage vor der Projektion einer übergroßen dunkelbraunen Holztreppe, deren Stufen von gleißend weißen, parallel gesetzten Lichtstreifen markiert werden. Andere Stellen schrammen allzu spürbar die Grenze zum Kitsch. Da zeigt eine riesige Videoanimation, wie ein Greifvogel über tosende Wellen hinwegfliegt, während darüber sinniert wird, wie wir "den Urgewässern" entsprangen, "Du und ich". Da steht das Ensemble mit weit emporgerissenen Armen schreiend vor einer Feuerprojektion, während die Zeit bis zum Weltuntergang heruntergezählt wird. Da spielen nach dem Doomsday Kinder (wie der junge Stephen Hawking) friedlich am Strand – verbunden mit der Botschaft: "Bleibt neugierig und gestaltet die Zukunft!"

In solchen Szenen verliert sich der Effekt der jahrzehntelang erprobten Mittel, weil sie zu wenig überraschen, um noch Räume zum Träumen und Nachdenken zu eröffnen, weil sie nicht mehr verwundern und staunen lassen. Auch deshalb entstehen in der zweiten Hälfte des Abends Längen. Im Angesicht ganz konkreter, realer Katastrophenszenarien unserer Tage scheint die Inszenierung in ihrer bewusst reduzierten Formenstrenge zum Ende hin zu erstarren. Als wäre sie entrückt von dieser Welt und aus der Zeit gefallen.

 

"H" – 100 seconds to midnight
inspiriert von Stephen Hawking und Etel Adnan
Regie, Bühne, Licht: Robert Wilson, Musik: Philip Glass, Choreografie: Lucinda Childs, Co-Regie: Nicola Panzer, Co-Bühne: Stephanie Engeln, Kostüme: Julia von Leliwa, Maske: Julia Wilms, Mak-Up Design: Manu Halligan, Video: Tomasz Jeziorski, Sounddesign: Dario Felli, Licht: Marcello Lumaca, Dramaturgie: Joachim Lux, Produktionsleitung: Christian Persico.
Mit: Marina Galic, Jens Harzer, Barbara Nüsse, Tim Porath, Pauline Rénevier; Tänzerinnen: Yunseo Choi, Ping-Cheng Wu, Moe Gotoda.
Premiere am 9. September 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

Kritikenrundschau

Jens Harzer spiele nicht, "er verkörpert, bis in jede angespannte Fingerkuppe hinein, er deutet die Verwundung und Erkrankung des Physikers nur subtil an, aber der Schmerz, der überträgt sich noch in die letzte Reihe," sagt Peter Helling im NDR (10.9.2022). Auch die anderen Ensemblemitglieder seien voll und ganz Geschöpfe Robert Wilsons. "Wie Wachsfiguren positionieren sich die Frauen, mit der typischen Wilson-Spreizung der Finger." Das sei "wunderschön, hochästhetisch - aber irgendwann auch eine Spur: überspannt."

Das Auge suche und suche und bleibe doch überall und nirgends hängen, beschreibt Simon Strauss den Abend in der FAZ (12.9.2022). Robert Wilsons Theater sei nicht veraltet, aber es sei, "als ob eine gläserne Mauer zwischen Bühne und Publikum verliefe, ein durchsichtiger Schutzschild, der die Kunst vor der Anteilnahme ihrer Betrachter ab­schirmen soll."

Auch Till Briegleb in der SZ (11.9.2022) betont die Leistung von Jens Harzer und Barbara Nüsse, deren Figuren als Gegenpole fungieren würden. "Zwischen diesen gegensätzlich temperierten Figuren hat Wilson Raum gelassen für weitere Akteure," wie Lucinda Childs und Philip Glass. "Und in dieser vielseitigen Kooperation eigenständiger Formen bleibt dann auch genügend Ungeklärtes stehen, um das große Rätsel der menschlichen Zukunft vielleicht doch nicht so eindeutig zu erleben, wie das Verrinnen der Zeit auf der Doomsday Clock es suggeriert."

Wirr seien die Texte. Da werde sehr hoch gegriffen und sehr wenig erzählt, findet Katrin Ullmann von Deutschlandfunk Kultur (9.9.2022). D"ie Fragen und Antworten zur Entstehung der Welt könnte man tatsächlich besser in GEOlino nachlesen." Wilson inszeniere sehr minutiös, die drängende Musik Philip Glass bringe Drive hinein, die Choreographien fand die Kritikerin jedoch unmotiviert.

Kommentare  
"H" 100 seconds, Hamburg: Magier
Robert Wilson is back! "H" 100 seconds to midnight in der Regie von Robert Wilson (Bühne, Licht) inspiriert von Stephen Hawking und Etel Adnan mit der Musik von Philip Glass und der Choreografie von Lucinda Childs hatte seine Uraufführung am Thalia Theater in Hamburg. 1987 inszenierte R. Wilson erstmalig am Thalia Theater den Parzival von Tankred Dorst und jetzt 35 Jahre später eröffnet er mit seiner Uraufführung die neue Spielzeit 2022/23. Robert Wilson wird seinem Ruf als Magier unfassbarer Bilder auch in dieser Inszenierung gerecht. Er schafft Bilderfluten und -stürme, die sich wie Engramme in die Erinnerung einbrennen. Mit Texten und Ideen von S. Hawking und E. Adnan wendet er sich existentiellen Fragen zu. Hawking prophezeite 2016 der Menschheit große Gefahren, die die Existenz des Menschen gefährden, wie z. B.: gentechnisch veränderte Viren, Atomkriege, künstliche Intelligenz und die globale Erwärmung. Die größte Gefahr für den Mensch sei aber der Mensch. Nur sechs Jahre später steht diese Vision als grausame Realität vor unserer Tür. All dies erzählt Wilson mit seiner eigenen Bilderwelt, die ihre manieristischen Züge nicht verhehlen kann, insbesondere nicht in seiner Figurengestaltung. Wilson verführt mit seinen Bildern zu einer Reise in das Land der Fragen, nach dem Sinn des Lebens, nach der Existenz Gottes, nach Raum und Zeit und die Uhr des Untergangs tickt. Doch diese apokalyptische Traumreise fasziniert in ihrer Gegensätzlichkeit von Trostlosigkeit, Anmut und Poesie, wie das Quadrat die Leidenschaft des Kreises ist. Im Angesicht realer Katastrophen unserer Tage, bleibt Wilson bewusst bei Formenstrenge bis zum Ende. Seine Uhr des Untergangs tickt der Apokalypse entgegen – ergreifend schön, als wäre sie entrückt von dieser Welt und aus der Zeit gefallen. Trotz allem bleibt Wilson versöhnlich wie Hawking und fordert uns auf „Bleibt neugierig und gestaltet die Zukunft!“
H – 100 Sekunden.., Hamburg: abgehoben
Gähn. Man muss schon sehr abgehoben argumentieren,um etwas spannendes festzumachen.
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