Damals in Paris

11. September 2022. Am Berliner Ensemble hat Luk Perceval mit großem Ensemble, einem Bewegungschor und einem Bühnenbild voller Stühle Lion Feuchtwangers Roman "Exil" inszeniert, der im Paris der 1930er Jahre spielt. Leider ohne die eigentlich aktuellen Fragen, von denen das Buch handelt, ins Heute zu holen.

Von Simone Kaempf

Stühle in "Exil" @ Jörg Brüggemann

Berlin, 10. September 2022. Ihr Leiden mag nicht blutig sein. Aber bedroht sind auch jene, die nicht an vorderster Kriegsfront kämpfen, sondern flüchten, ins Exil gehen. Ihr Leben wendet sich unerbittlich, auch in der scheinbaren Sicherheit. Lion Feuchtwanger hat das modellhaft beschrieben in seinem 1940 erschienenen Roman "Exil", der im Paris der späten Dreißigerjahre spielt. Eine Gruppe von Exilanten und von Nationalsozialisten führt der Schrifsteller darin zusammen, alles gespeist aus realen Vorbildern und seiner eigenen Biografie. Im Zentrum steht der aus München geflüchtete Komponist und Musikprofessor Sepp Trautwein, der erlebt, wie ein Journalist von den Nazis verschleppt wird und nun an seiner Stelle in der Redaktion der "Pariser Nachrichten" gegen das deutsche Regime anschreibt, in wachsender Verzweiflung, dass die weltgeschichtliche Bedrohung nah rückt und doch nur wenige die Warnrufe hören wollen.

Brennende Fragen

Einen dicken Brocken hat sich Luk Perceval mit dem Roman für seine erste Inszenierung am Berliner Ensemble vorgenommen. Aber um Großtaten war er nie verlegen. Und er fährt groß auf. Mit einem 12-köpfigen Ensemble, darunter Constanze Becker, Paul Herwig, Peter Moltzen, mit großem Bewegungschor, der Stimmungsbilder illustriert zwischen Nachtclub-Atmophäre und Wartehallen-Stillstand. Und mit einem hochwachsenden Bühnenbild, das anfangs Aha-Effekte auslöst. Hunderte von Stühlen hat die Bühnenbildnerin Annette Kurz zu einem Eiffelturm aufgetürmt, ein fragiles Gebilde. Wenn der Turm in einer Party-Szene erklettert wird, fürchtet man kurzzeitig den Zusammenbruch. Aber so schnell geht es an diesem Abend nicht. Perceval nimmt sich viel länger Zeit, um die Stühle zu rücken, die Bühne zu leeren und mit allen Illusionen ein Großreinemachen zu halten. In den Bann nimmt er einen damit jedoch nicht.

Exil2 805 JoergBrueggemannConstanze Becker, Paul Zichner, Oliver Kraushaar, Pauline Knof, Peter Moltzen, Jonathan Kempf © Jörg Brüggemann

Das Stuhlbühnenbild gerät dabei auch zu einem Problem des Abends, der weniger von innen erspielt, sondern kostümierter und aufgesetzter geraten ist als man es vom Regisseur kennt. Viele der Dialoge haben Perceval und die Dramaturgin Sibylle Baschung als Kommentare und kleine Monologe übereinander aus dem Roman gewonnen. Auch große Ausbrüche schenken sie ihren Figuren, die eigentlich genau die Fragen enthalten, die der Gegenwart auf den Nägeln brennen. Aber hier doch seltsam historisch wirken.

Nachrichten aus der Vergangenheit

In einer Szene ist der Dirigent Riemann (Paul Herwig) zu Besuch in Paris. Gemeinsam mit Trautwein (Oliver Kraushaar) und seiner Familie hören sie die Symphonie, deren Vollendung der Komponist eigentlich schon aufgegeben hat, desillusioniert drüber, dass die Musik politisch nichts verändern kann. Aus dem Lob der Musik entfacht sich ein moralischer Streit: Ist es besser stillzuhalten und weiterzuarbeiten, so wie sich Riemann in München entschieden hat? Oder soll man die Kunst aufgeben, weil nur die Politik etwas bewirken kann, wie es Trautwein behauptet? Oder von der Politik lieber die Finger lassen, weil man als Intellektueller nichts davon versteht, wie es Anna Trautwein (Pauline Knof) beharrlich ins Feld bringt. Der nazitreue Journalist Erich Wiesener (Marc Oliver Schulze) wiederum hält Politik für reinen Selbstzweck: "Der Entfaltung meiner Persönlichkeit willen. Wofür ich sie treibe, ist mir gleich." Doch all diese Fragen gehen unter, und die Positionen bleiben hölzern in den ausschweifenden Choreografien der Stühle balancierenden Menschen, in Redaktions-Szenen mit Hin- und Her-Rennen kurz vor Druckschluss.

Einen falschen Zeitgeist mutet der Abend den Figuren nicht zu, aber aus dem Hier und Jetzt sind sie auch nicht gewonnen. Ihre Historizität bleibt ihnen anzumerken und ihre Konflikte wirken eingesargt und ohne den Resonanzkörper der Gegenwart. "Exil" hätte ursprünglich vor zwei Jahren Premiere haben sollen und wurde wegen der Pandemie verschoben. Die Frage, was ein Einzelner gegen ein Regime bewirken kann, zumal im Exil, steht mittlerweile, wo seit mehr als einem halben Jahr in der Ukraine ein Krieg tobt, völlig neu im Raum. Dass davon nichts spürbar wird, ist eine echte Leerstelle des Abends und mehr als nur schade. Es verweist den Text auf seine Vergangenheit, als gehöre er dorthin.

Kunst als Medium

Nach der Pause ist der Eiffeltum weggeräumt, die Welt ist für die Figuren enger, aller Dilemma größer: für die Journalisten und Herausgeber der Pariser Nachrichten, die Missetaten offenlegen und darüber in Streit geraten. Genauso für den nazitreuen Eric Wiesener, der den französischen Lebensstil pflegt und wegen seiner halbjüdischen Frau unter Druck gerät.

Luana Velis als seine Sekretärin Maria, eben noch souverän das Geschehen kommentierend, ringt ihrer Figur jetzt bittere Noten ab. Constanze Beckers versnobte Noblesse als Geliebte Lea Chassefiere gleitet in den Wahnsinn ab. Heraus sticht vor allem Pauline Knof als Anna Trautwein, illegal angestellte Zahnarzthelferin, müde geworden vom Antreiben und Ermahnen. Eine, die das kleine Glück gegen die Politik verteidigt und sich am Ende doch nur umzubringen weiß. An ihrer Seite ein Grobklotz von Ehemann, ein Granteler, der vom Bühnenhochdeutsch in saftigste Bayerisch fällt. Oliver Kraushaar als Trautwein nimmt man den zaudernden Intellektuellen so gar nicht ab. Immer gröber fluchend begegnet er der Welt, ein emotionales Abwehrfeuer, aber dennoch wie fehl am Platz.

Dass Feuchtwanger ihm im Roman ein fanales Ende bereitet und die Symphonie, von der soviel die Rede ist, doch noch gelingen lässt, darin steckt auch eine Botschaft: In dieser Musik, in der Kunst also, ist all das Warten, Hoffen und Bangen, aller Schmerz hörbar. Diese Botschaft kommt an diesem sperrigen Abend allerdings nur aus weiter Ferne an. Nah und lebendig wird sie nicht.

Exil
von Lion Feuchtwanger
in einer Bearbeitung von Luk Perceval und Sibylle Baschung
Regie: Luk Perceval, Bühne: Annette Kurz, Mitarbeit Bühne: Emmanuelle Bischoff, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Musik: Rainer Süßmilch, Sound Engineering: Jannes Noorman, Choreografie: Ted Stoffer, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Oliver Kraushaar, Pauline Knof, Jonathan Kempf, Lili Epply, Peter Moltzen, Marc Oliver Schulze, Luana Velis, Constanze Becker, Paul Zichner, Paul Herwig, Gerrit Jansen, Martin Rentzsch, Bewegungschor: Charlotte Brohmeyer, Bar Gonen, Giada Grieco, Ji Sun Hagen, Liadain Speranza Herriott, Valeriia Kuzmenko, Ilil Land-Boss, Aaron Lang, Anela Luzi, Aldo Spahiu, Madeleine Rose White, Alina Yeshchenko.
Premiere am 10. September 2022
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Klar, schlackenlos und gerade in der Nüchternheit berührend" inszeniere Luk Perceval, "einer der großen Geschichtenerzähler des europäischen Theaters", diesen dritten Band von Feuchtwangers "Wartesaal"-Romanen, schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (11.9.2022). Bühnenbildnerin Annette Kurz zeige "die Möblierung des Dauerprovisoriums der Unbehausten", zwecks "Atmosphären-Verdüsterung" werde die Bühne in Nebel und Halbdunkel getaucht. "Publikumsbelehrungen und Zeigefinger-Aktualisierungen" gebe es zum Glück nicht. An die Not und Verzweiflung heutiger Exilanten denke man beim Zusehen auch ohne Querverweise.

In einem "seltsamen äußerlichen Behauptungsmodus" komme die Inszenierung daher, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (11.9.2022). Den feinsinnigen Sepp Trautwein bayere Oliver Kraushaar "als prinzipiell gemütlichen, ja fast phlegmatischen Teddybären-Typus". Vom Innenleben der Figuren erfahre man wenig, obgleich die Textvorlage deren individuelle Seelenzustände "bis in ihre feinsten Verästelungen hinein" zeichne. Was Sepp Trautwein beruflich und moralisch antreibe, werde nicht deutlich – "eine immense Verkleinerung von Thema und Figur". So gehe es mit dem übrigen Cast weiter, und auch ausstattungstechnisch greife die Iinszenierung auf das Nächstliegendste zurück. All das entrücke den Abend "ins angestaubt Museale".

In einer zähen Abfolge des Geschehens zerrinnt der Abend für Dorte Lena Eilers vom Neuen Deutschland (12.9.2022). "Stillhalten oder protestieren?", diese zeitlos aktuelle Frage stelle Feuchtwangers "komplexes literarisches Werk voll menschlicher, moralischer, existenzieller und auch politischer Dilemmata", mit dem er die Widersprüche seiner Epoche auch in den ambivalenten Figuren thematisierte. "An diesem Abend im Berliner Ensemble indes scheint die Intention des Romans irgendwie lost in translation", so Eilers. "Was sich auf der Bühne abspielt, ist so statisch wie der hölzerne Eiffelturm, den Bühnenbildnerin Annette Kurz aus dunkelbraunen Wartesaalstühlen hat errichten lassen." Weder mit den Stühlen noch mit den Figuren wisse das weitgehend in die Eindimensionalität entlassene Ensemble "so recht umzugehen". Unbefriedigend sei, wie in der Bearbeitung ein komplexer Roman auf wenige Aussagen reduziert werde.

Psychologisches Feingefühl für die Protagonisten und ehrliche Emotionen verdichte Perceval zu einem spannungsreichen Plot, bemerkt Barbara Behrendt im rbb (11.9.2022). Seine Inszenierung könne es mit jedem Hollywood-Blockbuster aufnehmen. Wenn sich Pauline Knof als Anna Trautwein das Leben nehme, sei das "großes, wunderbares Schauspieler:innen-Theater". Doch bei der Reduktion von 900 Romanseiten auf 60 komme den Figuren "das Wichtigste abhanden: ihre Ambivalenz". Anna und Sepp seien die Guten, dem Opportunisten Erich Wiesener hingegen leuchte das käufliche Herz schon beim ersten Auftritt aus den Augen und sein Konkurrent Spitzi verkomme bei Peter Moltzen "zur Karikatur der Nazi-Dumpfbacke", so Behrendt. Diese Erzählhaltung führe zur "bekannten Crux" von Romanadaptionen: "statt gespielt wird behauptet, statt miteinander gesprochen wird monologisiert".

Luk Perceval, für seinen Hang zum Düsteren, Schweren bekannt, zeige einen Abend, der ganz auf die Spielpräzision seiner Darstellerinnen und Darsteller vertraue, so Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.9.2022). Der aus Holzstühlen aufgebaute Eiffelturm stürze nicht, wie man erwartet, irgendwann pompös in sich zusammen, sondern werde nach der Pause einfach weggeräumt. "Das steht sinnbildlich für den Gestus dieses Abends, für eine gelassene Regie, die ruhig erzählen und nicht künstlich aufpeppen will. zwischendurch gebe es immer wieder auch sehr komische Auftritte. "Die dichte Erzählung steht hier über allem, statt Zeichen zu setzen und Sinn aufs Heute zu übertragen, wird hier Geschichte anschaulich gemacht."

"Die Inszenierung von Luc Perceval braucht etwas Zeit, bevor sie Fahrt aufnimmt," schreibt Tom Mustroph in der taz (15.9.2022), der daraus "viel Stoff zum Denken" gewinnt. "Nach der Pause, wenn die vielen Erzählfäden endlich ausgelegt sind, verdichtet sich die Inszenierung zu einem mit bedingungsloser Härte ausgefochtenen Kammerspiel ums Überleben."

Kommentare  
Exil, Berlin: Treffend
Sehr treffende Nachtkritik, "hölzern" war auch mein zentraler Eindruck von diesem überlangen Abend.

Eine Menge Holz sind auch die gewaltigen Textmassen, die hier auf das Publikum niederprasseln. Durch das Gewimmel von zwölf Spieler*innen, die in einigen Fällen auch noch Doppel- und Dreifach-Rollen besetzen, und ebenso vielen Statist*innen, die sich in Ted Stoffers Choreographie mal lethargisch wie in Zeitlupe, mal traumatisiert zuckend bewegen, hätten der belgische Regisseur und seine Dramaturgin Sibylle Baschung noch deutlichere Schneisen schlagen müssen. So bleibt der Eindruck von Unmengen an Monologen, die abgespult werden. Oft handelt es sich dabei um innere Monologe der Figuren aus Lion Feuchtwangers Roman, die die Spieler*innen aufsagen müssen, so dass der Abend stellenweise eher wie eine szenische Lesung wirkt. Dies wird im nächsten Moment durch oft unmotiviertes Schreien und Brüllen zu kompensieren versucht, was die Sache aber nicht besser macht.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/09/10/exil-luc-perceval-berliner-ensemble-kritik/
Exil, Berlin: Eine Entdeckung
Treffend beschrieben...!

Oliver Kraushaar ist ein starker Charakter, aber man nimmt ihm weder ab, dass er neutönerische Musik komponieren, noch kritische Zeitungsartikel schreiben soll.

Im ersten Teil wird einem in viel zu viel Zeit viel zu wenig erzählt. Das Bewegungsensemble fand ich an der Grenze zur Lächerlichkeit agierend, wenn in der Redaktion wild herumgerannt, in Zeitlupe getanzt oder bedeutungsschwer Leichen über die Bühne gezogen werden.

Auch das Bühnenbild, das beim Betreten des Saals wie eine imposante und einleuchtende Metapher für den Wartesaal Paris wirkt, bleibt Oberfläche, spätestens wenn der Eiffelstühleturm hilflos beklettert wird.

Luana Velis war für mich nichtsdestotrotz eine Entdeckung, die für mich jede Szene aufgewertet hat und auf die ich mich in anderen Inszenierungen freue.
Exil, Berlin: Eine feine Wucht
Den vorhergehnden kritisierenden möchte ich entgegensetzen, dass ich einen grossartigen Schauspielerabend gesehen habe. Wann konnte man zuletzt menschliche Interaktion in dieser reinsten Form auf der Bühne sehen. Und dennoch schafft es Luc Perceval dem durchaus literarischen Abend, grossartige spielerische Momente einzuweben. Keine Spur Langeweile, eine feine Wucht!
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