Hamlet lebt

17. September 2022. Was macht man heute mit Hamlet, diesem überinterpretierten ewigen Sinnsucher und Zaudernden? Vielleicht: Ihn nachvollziehbar ins Heute holen mit allen seinen Fragen. So wie Lisa Nielebock in Hannover.

Von Frank G. Kurzhals

Torben Kessler als Hamlet in Hannover © Kerstin Schomburg

17. September 2022. Was haben sie miteinander gemein, Shakespeare und Freddy Mercury? Im von Lisa Nielebock in Hannover inszenierten "Hamlet" werden sie zu Blutsbrüdern, zumindest im Geiste. Ophelia (Amelle Schwerk) schmettert vollkommen überraschend, dafür aber mit überzeugender Inbrunst "Bohemian Rhapsodie" von Mercury, jenen pathosgesättigten Song, in dem es um Fatalismus geht, um Identitätsfragen und um den schwindenden Glauben an die Welt. Mit diesem popkulturellen Ausbruch setzt sie sich zur Wehr und fordert verzweifelt Wahrhaftigkeit ein, als alles längst zu spät ist.

Es ist eng im Staate Dänemark

Polonius, die von Anja Herden als hinreißend intrigante Helikopter-Mutter Ophelias gespielt wird, ist da von Hamlet bereits im Affekt erdrosselt worden, und es dauert in der insgesamt zweistündigen Inszenierung nicht mehr lange, und alle, auch die wieder zum Leben erweckten Toten, fangen an, sich noch einmal wie wilde Tiere zu zerfleischen. Am Rand der Bühne steht Hamlet (Torben Kessler) als Beobachter, einsam und gefasst fassungslos. Was bleibt dem Zauderer und Zweifler Hamlet noch vom Leben?

Hamlet2 805 KerstinSchomburgHamlets Kopfstand bringt zwar einen Perspektivwechsel, aber keinen Erkenntnisgewinn © Kerstin Schomburg

Zu Beginn hatte er eine dicke Wachskerze angezündet und auf den Boden gestellt, dem Theaterraum damit symbolisch Licht gegeben. Die Kerze könnte noch Stunden weiterbrennen, doch was soll sie beleuchten, wenn es kein Leben mehr gibt? Hamlet bleibt nur noch, sie auszupusten, auch das eine Pathosformel. Es wird wieder dunkel auf der Bühne (Oliver Helf), die nie die klare Helligkeit des Tages erreicht hat. Grau in allen Schattierungen dominiert. Eine hohe, nach vorne gerückte Wand verkleinert den Lebensraum des Hofes Dänemark; es ist eng in diesem Staate. Einige Sitzbänke direkt an der hinteren Wand, die auch Requisiten beherbergen, sind das einzige Mobiliar. Lange Schlagschatten (Licht: Hendrik Möschler) und diffuses Licht wechseln sich ab.

Symphonie fein abgestimmter Grautöne

Immer sind alle gleichzeitig auf der Bühne, hören einander zu, schreien sich an, ignorieren sich, machen sich Vorwürfe, versuchen das Publikum als Komplizen zu gewinnen. Königin Gertrud (Sabine Orléans) blinzelt manchmal verschwörerisch in die Sitzreihen vor ihr, trägt aber meist Sonnenbrille, als wäre sie ein mäßig intelligenter Hollywoodstar, der die Wirklichkeit nicht so genau sehen möchte.

Hamlet3 805 KerstinSchomburgIn Hamlets Schatten: Gertrud (Sabine Orléans) und Ophelia (Amelie Schwenk) © KerstinSchomburg

Aber sie ist genauso durchtrieben wie ihr Mann Claudius, König von Dänemark, der seinen Bruder mit Gift tötete und von dem sie sich dann zur Frau nehmen ließ. Claudius beherrscht alle Register der Intrige, des Verstellens, Heuchelns und der Macht, die von Philippe Goos bis in die Haarspitzen verkörpert werden. Bei ihm ist Claudius ein Filou. Wenn er erschreckend überzeugend den zuckenden Todeskampf seines Bruders zeigt, ist die Symphonie der fein abgestimmten Grautöne auf der Bühne schon längst zu einer Kakophonie des Grauens geworden. Hamlets Zauderei, seine Skrupel, seine Zweifel an sich und an der Wirklichkeit – was ist das überhaupt, Wirklichkeit, Wahrheit, scheint Torben Kessler in jedem Satz zu sagen – sind der Sand im Getriebe des höfischen Motors, der längst zu stottern begonnen hat.

Im Handstand die Welt prüfen

Bei Nielebock wird "Hamlet" zur Versuchsanordnung, in der geprüft wird, wie genau dieser Motor läuft und ob er noch repariert werden kann. Die Werkstatt besteht nicht nur aus Worten. Einmal lässt Hamlet seine Hosen runter, ohne dass allerdings mehr Wahrheit zum Vorschein käme, macht Handstand, um zu prüfen, wie alles aus anderer Perspektive aussieht, testet, ob nicht alle anderen statt seiner verkehrt herum in der Welt stehen. Und da kommen dann ganz unversehens Shakespeare und Freddy Mercury wieder zusammen, treffen sich Hoch- und Popkultur in der Theaterwerkstatt von Lisa Nielebock mit der Botschaft: Hamlet lebt. Überall. Nicht nur am Hofe, sondern bis in alle Hinterhöfe des Alltagslebens hinein.

 

Hamlet
von William Shakespeare, deutsche Übersetzung Marius von Mayenburg
Regie: Lisa Nielebock, Bühne: Oliver Helf, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Thomas Osterhoff, Dramaturgie: Mazlum Nergiz.
Mit: Torben Kessler, Philippe Goos, Sabine Orléans, Sebastian Nakajew, Anja Herden, Amelie Schwerk, Fabian Dott.
Premiere am 16. September 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Regisseurin Lisa Nielebock habe einen gegenwärtigen "Hamlet" inszeniert, "ausgesprochen schulklassentauglich, unterhaltsam und geschickt mit Brüchen operierend", schreibt Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.9.2022). "Das Stück ist gestrafft, seine Seitenstränge sind gestutzt, die Sprache ist modernisiert, Shakespeares mitunter eher langatmiger Wortwitz wird stellenweise kurz und trocken ins Heute geholt." Auf der offenen Bühne, die Tag und Nacht bespielt werde, sehe jeder jeden, "hört, was gesprochen wird, weiß alles von allen, sieht das Unglück kommen – und kann es doch nicht verhindern". Allerdings glaube man Hamlet weder, dass er Ophelia je geliebt habe, noch wirke Ophelias "Bohemian Rhapsody" richtig überzeugend.

"Allerbestes, präzises Sprechtheater" sei dieser "Hamlet", schreibt Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (19.9.2022). Es gelinge, aus den "zu Karikaturen erstarrten Figuren aus dem Kanon" lebende Menschen zu schälen. Torben Kessler in der Titelrolle schlage aus dem Schwarzweißgrau der Bühne "Funken in 1001 Facetten", findet der Rezensent und jubelt: "Was für ein Ensemble! Und was für ein Zeitenkommentar!"

"Merkwürdg glatt und fern", findet Ronald Meyer-Arlt dagegen in der Hannnoverschen Allgemeinen Zeitung (19.9.2022) den Abend: "Was will die Inszenierung - außer den Text nachzubuchstabieren?" Es fehle der "Haken, mit dem sie sich ins Publikum krallt". Das sei insbesondere "schade", weil die Schauspieler:innen "wirklich viel geben". Doch ihre Worte klängen "oft wie auf einer Probe gesprochen".

Regisseurin Lisa Nielebock setze "mutig" auf "Reduzierungen", schreibt Jörg Worat in der Celleschen Zeitung (19.9.2022). "Da die Regie den Akteuren kaum Requisiten zugesteht, (...) müssen sich alle in erster Linie auf die Sprache verlassen." Und da habe vor allem Torben Kessler "sehr viel zu bieten", wenn er mit seinen "Nuancen in der Artikulation" teilweise "das Gegenteil der Aussage" hervorbringe. Es sei eine "radikale Inszenierung", die vom Publikum gleichwohl "zwiespältig" aufgenommen worden sei.

Lisa Nielebooks "Hamlet" ist eine "auf allen Ebenen platte Modernisierung geworden, die das komplexe Drama auf die Ebene einer Bunte-Geschichte drückt", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (20.10.2022).

Kommentare  
Hamlet, Hannover: Hinweis
Das Licht für diese Inszenierung habe nicht ich, sondern mein geschätzter Kollege
Hendrik Möschler gemacht.

(Anm. Red.: Lieber Heiko Wachs, haben Sie vielen Dank! Wir haben die Angabe im Text berichtigt. Herzlich, Christian Rakow / Redaktion)
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