Glücklich durchgeschüttelt

20. September 2022. Es hat geknallt und geglitzert: der Berliner Saisonauftakt macht euphorisch – trotz der düsteren Prognosen, die dem Theater zuletzt gestellt wurden. Auch, oder gerade wegen schweren Stoffen in Krisenzeiten: Grund für ein Loblied.

Von Esther Slevogt

20. September 2022. Die Prognosen waren zuletzt ja eher mäßig, was die Zukunft des Theaters betrifft. Aber jetzt hat in Berlin der Spielzeitauftakt so gerumst und geglänzt, dass ich optimistisch, ja fast euphorisch bin. Gut, Berlin ist noch nicht Deutschland oder repräsentativ für das (deutschsprachige) Theater. Aber wenn kurz hintereinander zwei Saisoneröffnungen nahtlos vom Ende des Stücks in Standing Ovations übergehen, finde ich das angesichts der vielen Totenklagen der letzten Monate erleichternd – und eine Kolumne wert.

Aktuelle Theaterwucht

Standing Ovations zum Beispiel in der Schaubühne, wo es die Reflexion über ukrainische Theatermacher:innen im Krieg "Sich waffnend gegen eine See von Plagen" von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie gab. Ein Abend, der sich von lakonischen Überlegungen und persönlichen Berichten von der Front in das Innerste einer Künstlerseele schraubte, die sich am Widerspruch aufreibt, dass sie nicht töten und Krieg führen will, aber Kollegen eben genau das tun – im Sinne der Verteidigung der eigenen Freiheit. Theater am Puls der Zeit (und der täglichen Newsfeeds). Am Ende sprangen die Leute im Publikum auf und applaudierten begeistert. Darunter viele Ukrainer:innen, die sich hier, im Berliner Exil, offenbar besonders berührt von den Fragestellungen dieses Abends fanden. Aber auch ich, irgendwie unentschieden, ob ich mich hier von Kriegspropaganda (als die ich das streckenweise auch empfand) im Theater nicht lieber distanzieren oder doch von dieser Zerrissenheit berühren lassen wollte, ging durchgeschüttelt wie schon lange nicht mehr aus dem Theater.

Ein paar Tage später dann der größte Begeisterungssturm, an den ich mich überhaupt erinnere: in der Volksbühne, wo Florentina Holzingers Stück "Ophelia's Got Talent" herauskam. In knapp drei Stunden wurde mit derartiger Verve, Kraft und Theaterwucht die Schichten eines zementierten Frauenbildes aufgesprengt, dass ich am nächsten Morgen noch immer ganz benommen war. Auch, weil ich dadurch selbst in den Schleudergang eigener Bilder und Erfahrungen geraten war. Die eigene Sozialisation als Frau war wie eine zweite Spur den ganzen Abend mitgelaufen. Manchmal hat sie heftige Gegenreaktionen, aber am Ende ein Gefühl großer Befreiung produziert. Auf der Bühne versetzten Frauen, meist mit nichts als ihrer Haut bekleidet, sexualisierte Aufladungen weiblicher (verdinglichter) Körper in einen Status der Unschuld zurück, und mit atemberaubenden Bildern zwischen Artistik, Archaik, Schmerz und überbordender Lust am Theater brachten sie ganze Klischee- und Vorstellungs-Cluster zum Einsturz. Ein Theaterfest! Das Fest, das am Ende der Vorstellung dann auch im Publikum losbrach, war unglaublich.

Aus der Pandemie herausgeschält

Man konnte aber auch ins Maxim Gorki Theater ("Mother Tongue") oder ins Deutsche Theater ("Der Einzige und sein Eigentum") gehen – überall herausragende Arbeiten und begeistertes Publikum. Im Dock 11 zeigten Nico and the Navigators und Chris Ziegler beim Festival "Humandroid" ihre Performance "Du musst Dein Leben rendern!", die aus zwei Etüden für drei Tänzer:innen bestand. Sie vermaßen das Feld zwischen virtuellem und analogem Raum, virtuellen und den eigenen Körpern – und öffneten Denkräume. Forschungsergebnisse aus digitalen Labs, die während der Pandemie entstanden, aus der sich das Theater gerade wieder erhebt. Und zwar mit Macht – wenn man auf diese Stichproben einer Berliner Theaterwoche blickt.

Die mäßigen Prognosen und Klagen, zuletzt über ausbleibendes Publikum, decken sich also nicht mit meinen jüngsten Erfahrungen und dem damit verbundenen Zuschauerinnenglück. Zufall? Glück? Wird es so weitergehen? Das ist schwer zu sagen. Auch, weil noch niemand wirklich weiß, wie dieser Coronawinter wird. Fest steht: Die Spielzeit hat toll begonnen und ich habe den schönsten Beruf.

 

Kolumne: Aus dem bürgerlichen Heldenleben

Esther Slevogt

Esther Slevogt ist Chefredakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

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Kommentare  
Kolumne Slevogt: Premierenstau abgearbeitet
Ja, das war ein überraschend schwungvoller Start in die Berliner Spielzeit, der bei Publikum und Kritik ziemlich gut ankam.

Nach einer recht mauen letzten Spielzeit war das nicht zu erwarten. Ich möchte drei Beobachtungen ergänzen:

1.) Die Theater haben das Glück, dass dank niedrigerer Infektionszahlen endlich wieder ohne größere Ausfälle geprobt werden konnte. Premieren müssen momentan nur noch selten verschoben werden. Für den Herbst/Winter ist zu befürchten, dass dieses Glück nicht von Dauer ist. Dieses konzentriertere, störungsfreiere Arbeiten ist den Inszenierungen deutlich zu anzumerken. Wäre ja auch seltsam, wenn sich dies nicht niederschlagen würde...

2.) Der Premierenstau scheint weitgehend abgearbeitet. Nach vielen Arbeiten, die aus der Zeit gefallen schienen oder halbfertig im Lockdown abgebrochen und neu aufgetaut wurden, erleben wir jetzt Arbeiten, die ihre Zielgruppen sehr genau adressieren und damit Erfolg haben.

Beispiel "Mother Tongue", ein Volltreffer beim jungen, weiblichen Publikum, Beispiel "Sich waffnend...", das bei geflohenen Ukrainer*innen sicher sehr gut ankommt. Hier war die Begeisterung und die Auslastung aber schon bei der zweiten Vorstellung nicht mehr so, wie Esther Slevogt es für die Premiere schilderte. Danke, dass Sie auf die Propagandafallen dieses Abends hinweisen und die Debatte aus der Kommentarspalte aufgenommehn haben! Ein Sonderfall ist Florentina Holzinger, die als "feministisches Top Gun" (O-Ton Wiebke Hüster, DLF) geschickt feministische Buzzwords mit Hollywood-Überwältigungsstrategie verknüpft. Zustimmung: einen solchen Jubel hat Berlin lange nicht erlebt, zuletzt vielleicht beim chilenischen FIND-Gastspiel 2019!

3.) Die Theater setzen derzeit nicht auf klassisches Sprechtheater, sondern spielen mit den unterschiedlichsten Genres (Hartmann mit Video und Musical zu Philosophie-Schnipseln, Holzinger mit Varieté, Burlesque, Stunts und deutlichem Hollywood-Blockbuster-Kino-Einfluss, Arias ebenfalls mit Revue und Musical, Zhykov/Arie mit einem betont ausgestellten Werkstatt- und Tagebuchformat). Diese Einflüsse saugt der Stadttheaterbetrieb auf und setzt sein komplettes technisches Arsenal ein, auch hier nirgends so konsequent wie bei Holzinger.

Beim Blick in die Spielpläne zeigt sich: den Rest der Saison dominieren wieder traditionellere Ansätze.

Den Abend, der am ehesten der gewohnten Sprechtheater-Ästhetik entsprach und am wenigsten Begeisterung hervorrief, hat Esther Slevogt in ihrer Kolumne ausgespart: "Exil". Er erfüllt auch meine Kriterien Nr. 2 und 3 nicht: Premiere war schon 2020 geplant, aktuelle Bezüge wurden von vielen vermisst. Zu statisch gab es keine erfrischenden, experimentierfreudigen Einflüsse aus anderen Künsten.
Kolumne Slevogt: Auch in Hamburg!
Liebe Frau Slevogt,
Eben ihre begeisterte Premierenberichterstattung gelesen.
Danke einfach mal für diese positiven Worte und Eindrücke.
Theater kann Stimmungen, soll Stimmungen erzeugen und damit den Alltag bereichern und verschönern.

Bei uns in Hamburg ist es ähnlich gewesen.

Hoffen wir, dass wir uns nicht gleich von politischen Misstönen verunsichern lassen müssen.
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