Faust - Volkstheater Wien
Mehr Blitz-Licht!
25. September 2022. Der Worte sind genug gewechselt – lasst mich auch endlich Selfies sehn: Loop-Liebhaber Kay Voges inszeniert den Goethe-Klassiker als elektrisierendes Wumms-Theater mit Sofortfoto-Sendungen aus einem Castorf-Container, knalligem Soundtrack und einem gepflegten Desinteresse an Handlungsbögen.
Von Martin Thomas Pesl

25. September 2022. "Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!" Profaner gesagt: Werd ich ein Foto machen. Dass Kay Voges seine "Faust"-Inszenierung auf diesem sehr spezifischen Gedanken aufbaut, killt von vornherein jegliche Klassikerpflege-Erwartung. "Worte, Worte, Worte", wie sich Uwe Schmieder als Direktor aus dem "Vorspiel auf dem Theater" echauffiert, sind Voges' Sache nicht. Er interessiert sich für das, was die Worte zum Theater macht: das scharf gestellte Bild, den perfekten Ton, der so befriedigend den Raum ausfüllt, die smoothe Datenübertragung – Elemente übrigens, an die im Wiener Volkstheater vor drei Jahren nicht mal zu denken gewesen wäre. In der Übergangszeit zur Ära Voges wurde das Haus saniert und modernisiert.
Und es ist – bei dieser Premiere zumindest – rammelvoll, genau, wie das der besagte Direktor im Vorspiel beschreibt, während sich aus der ersten Reihe der Star des Abends erhebt. Journalist:innen kennen seinen Namen von den Aufführungsfotos, deren Verwendung "im Rahmen der Berichterstattung honorarfrei" ist. Jetzt sehen wir mal den Körper zu "© Marcel Urlaub / Volkstheater": Schwarz gekleidet ist er und trägt ein Goldketterl, wie es bald (in protziger Vergrößerung) Faust dem Gretchen schenken wird. Er knipst zunächst mit grellem Blitz das Publikum, das sich wenige Sekunden später amüsiert auf einer Leinwand betrachten kann.
Sofortfotos Marke Hollywood
Im weiteren Verlauf des Abends sendet Urlaub meist aus einem Castorf'sch verschlossenen Haus seine blitzschnell bearbeiteten Sofortbilder. Deren Ästhetik ist Marke Siebzigerjahre-Hollywood-Gangsterfilm, eine Körnigkeit ist zu erkennen, zudem Experimente mit längeren Belichtungszeiten und verschwommenen Gesichtern. Der (Bild-)Kunst sind keine Grenzen gesetzt, während die Worte, Worte, Worte – besonders in der ersten der gut zwei Stunden – ernst und wuchtig nach vorne stoßen. Mit der Entpsychologisierung ist die Deklamation ins Volkstheater zurückgekehrt. Andreas Beck beherrscht sie einwandfrei, er ist einer von mehreren Fausts, der Teufelspakt-Eingeher vom Beginn. Aber auch Claudio Gatzke, die von Mephisto verjüngte Variante, kann Groß.
So sehen sie aus, die blitzschnell bearbeiteten Sofortbilder, die Marcel Urlaub während der Vorstellung aus einem Castorf'schen Container sendet (hier speziell von Frank Genser und Lavinia Nowak) © Marcel Urlaub / Volkstheater
Den Eindruck offensiven Spektakels verstärkt der Soundtrack, ein Mix aus Eigenkompositionen, donnernden Nummern wie der "Carmina Burana" und thematisch Passendem wie Dolly Partons "Satan’s River" oder "I Turn My Camera On" von Spoon. Nebelmaschinen dampfen mal musicalmäßig den Raum ein, mal erhellt ihn ein Blutmond. Die Mephistos kleiden sich in exzentrischem Rot (etwa Uwe Rohbeck mit Satanshörnern oder Lavinia Nowak im Domina-Outfit), die Gretchens in lieblichem Grün, "Fäuste" ziehen sich Andreas-Beck-Masken an und veranstalten Fotoshootings mit Selfie-Sticks vor rasant wechselnden Hintergründen. Kay Voges feiert die visuelle Opulenz, als sage er seinem Faust: Du armer Tor! Was du alles verpasst hast in deinem 19. Jahrhundert!
Wer braucht denn heute Auerbachs Keller?
"Faust", der Tragödie beide Teile in nur etwas mehr als zwei Stunden, auch das ist erfrischend. Wer braucht denn heute (außer vielleicht den Deutschlehrer:innen, die ihre Oberstufenklassen hinschicken) jeden einzelnen Besucher im Studierzimmer, jeden Move zur Eroberung des keuschen Gretchens oder Auerbachs Keller? Und in "Faust II" kennt sich eh niemand aus. Da kommt das mittlerweile auch in Wien bekannte Desinteresse des Loop-Liebhabers Voges für Handlungsbögen gelegen.
Da steht er nun, der arme Tor: Andreas Beck als Faust © Nikolaus Ostermann / Volkstheater
Trotzdem wächst die Ungeduld mit der Zeit. Denn wer nicht erzählen will, hat auch nichts zu sagen. Da liegt eine Schwäche von Voges' elektrisierendem Wumms-Theater. Plättendstes Pathos wird im nächsten Moment durch selbstironische Witzchen unterminiert: Da macht "Direktor" Schmieder sich als Regiezampano lächerlich oder kommentiert Claudio Gatzke die radikale Kürzung mit einem eigenen Reim: "Dementsprechend stark entschlackt zitieren wir bloß den fünften Akt."
Zäh kommt der Tod
Dafür dehnt sich die Kerker-Szene, die in das berühmte "Heinrich, mir graut’s vor dir" mündet (Gitte Reppin und Friederike Tiefenbacher sprechen Gretchen im Chor), ins schier Endlose, bevor der greise und blinde Faust in Gestalt Uwe Schmieders einen noch zäheren Tod sterben darf. Im darauffolgenden Black konnte – durfte! – der Regisseur dieser fotografischen Goethe-Inszenierung sich freilich nicht die Worte verkneifen, die angeblich die letzten des Geheimrats waren: "Mehr Licht!" Dann ist es aber wirklich aus. Überraschenderweise kein finaler Blitz aus Marcel Urlaubs Apparat, kein Erinnerungsfoto zur späteren Abholung im Foyer. Dabei hatte ich mir, ich gebe es zu, schnell noch die Haare gerichtet.
Faust
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Musik: Paul Wallfisch, Video: Max Hammel, Licht: Voxi Bärenklau, Ton: Michael Sturm Dramaturgie: Matthias Seier.
Mit: Andreas Beck, Claudio Gatzke, Frank Genser, Hasti Molavian, Lavinia Nowak, Gitte Reppin, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher, Marcel Urlaub.
Premiere am 24. September 2022
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.volkstheater.at
Kritikenrundschau
Kay Voges zerlege den Abend "in einzelne Bausteine (Spiel, Bilder, Tonspur)", trübe das Setting mit Nebelschwaden ein und lasse "fürs Gefühl auch viel Musik spielen", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (25.9.22). Das sei "als Grundkonzept interessant", halte in der Praxis aber nicht über den gesamten Abend stand, argumentiert die Kritikerin und resümiert: "Am Ende erweist sich diese ins Reich der Fotografie verfrachtete philosophische Erörterung als wenig ergiebig. Der ästhetische Mehrwert des Abends bleibt ebenso überschaubar, auch wenn die immer noch neue Technik des Volkstheaters nach wie vor beeindruckt."
"Kay Voges und sein Team haben einen neuen, sehenswerten Zugang zu einem Teil des Monumentalwerks gefunden, der manches Opfer rechtfertigt", schreibt Thomas Götz in der Kleinen Zeitung (25.9.22). Für den Regisseur und seinen Dramaturgen Michael Seier fände Fausts Suche nach dem vollendeten Augenblick "in der Fotografie ihren alltäglichen Ausdruck". Stückkenntnis setze Voges allerdings voraus. "Hart sind die Schnitte, wer die Zusammenhänge nicht kennt, verliert sich wohl im Textgestöber", vermutet der Kritiker.
"Völlig der Transzendenz entkleidet" sei dieser "Faust" und Regisseur Kay Voges gehe es stattdessen "postdramatisch" an, so Thomas Kramar in der Presse (26.9.2022). Dennoch lasse er Goethes Text "sein Recht und seinen Raum", wenngleich dieser auch zumeist "statisch am Bühnenrand ins Mikro" gesprochen werde. "Läppisch" werde der Abend da, wo er "Theater über Theater" versuche. Das bringe trotz Voges' "ausschweifender Ästhetik" wenig. Aber noch in ihrem Scheitern sei diese Inszenierung "wenigstens interessant".
Eine Art "Volksbühnen-Nostalgie" habe Kay Voges mittlerweile im Wiener Volkstheater eingerichtet, findet Peter Jarolim im Kurier (26.9.2022), womit er auf den berühmten Versprecher des Intendanten bei dessen erster Pressekonferenz am Volkstheater verweist. Im Wiener Haus sei inzwischen "so ziemlich alles erlaubt" und Voges' Faust ein "Spaßtheater für Informierte", in dem "Goethes Zitatenkammer lustvoll geplündert" werde. Das mache zwar Spaß, aber "des Pudels Kern" finde Voges in alledem nicht, so Peter Jarolim.
"Mit dieser technisch perfekten Inszenierung bestätigt Kay Voges seinen Ruf als Bühnen-Nerd. Die Foto-Idee ist bestechend. Darüber hinaus ist dem Regisseur aber nicht genug eingefallen", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (28.9.2022).
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Den Fotoabend gab es original vor Jahren in Dortmund, als Ersatz für eine angekündigte Faust-Inszenierung ;-)
Nun same same. But mit Faust. Und ausgefeilterer Technik.
Gespannt auf den nächsten selbstreferentiellen Remix. Stangenberg goes Mülltonne? Meese im Männerhort? Cut it, shake it, glue it, sell it. I love it.