Abgespaced

1. Oktober 2022. Pat To Yan ist einer der wichtigsten systemkritischen Autoren der Theaterszene Hongkongs. In Gießen laufen jetzt drei seiner Stück als Trilogie: "Posthuman Journey", inszeniert von Thomas Krupa, erforscht die Zukunft der überwachten Menschheit in Cyberspace und Weltraum.

Von Martin Schäfer

"Posthuman Journey" von Pat To Yan in Gießen © Johanna Senger

1. Oktober 2022. Viel, vielschichtig, verrückt. So präsentierte sich das Stadttheater Gießen zur Spielzeiteröffnung mit der Trilogie "Posthuman Journey" des Hongkongers Pat To Yan. Das Werk hätte nicht besser gewählt werden können. Es ist ein Werk zur Zeit, vielleicht zur rechten Zeit. Es geht um Geschichten – Geschichten sammeln, erzählen, auswählen und beherrschen. Und wenn man im Hinterkopf behält, dass selbst Politiker heute vom "Narrativ" (der Erzählung) sprechen, einem Begriff, der eher aus der Wissenschaft stammt, dann ist man schon genau drin im Thema: Geschichten enthalten Wahrheiten (aus bestimmten Perspektiven), und Geschichten manipulieren. Geschichten geben auch Macht.

Den im Jahr 1975 in Hongkong geborenen Autor Pat To Yan interessiert genau diese Rolle von Geschichten wie die Rolle des Theaters in unseren Gesellschaften. Dabei hat er als Hintergrundfolie meist die chinesische Diktatur im Sinn. Doch wie verblüffend lassen sich seine Erkenntnisse auf andere autoritäre Staatssysteme übertragen, etwa aktuell auch Russland.

Dass Pat To Yan derzeit den zweiten Teil seine Trilogie in Hongkong inszenieren kann, grenzt fasst an ein Wunder, da seine Stücke voll von versteckter Kritik sind. Der Autor nutzt einen Double-Speech, der metaphorisch über das Gesagte hinaus geht und eigentlich intellektuell anspruchsvoll Systemkritik betreibt. Dabei geht es auch mal ins Dadaeske, Gaga oder puren Nonsense – so müssen das zumindest westliche Rezipienten empfinden, denen nicht jede Anspielung geläufig sein kann.

Kritische Dichtkunst aus Hongkong

Doch man kann sich auch einfach nur der Spiellaune und -lust der Schauspieler*innen, Tänzer*innen und Musiker*innen der Theaters hingeben. Ein buntes Spektakel, in dem Regisseur und Bühnenbildner Thomas Krupa alle Register zieht.

Für den ersten Teil der Trilogie (in Gießen gibt es die Stücke erstmals en suite) mit dem Titel "Eine kurze Chronik des künftigen China" hat Krupa den Zuschauerraum ausgeräumt. Hinten drei Stuhlreihen, auf dem Boden Matten. Wir sehen eine Art Roadmovie, in dem "der Außenstehende" (David Gaviria) durch ein vom Bürgerkrieg geplagtes Land zieht, Geschichten erlebt und sammelt.

posthuman journey2 johanna senger uZeitreise von China aus in die Zukunft der Menschheit: das Gießener Ensemble im Bühnenbild von Thomas Krupa © Johanna Senger

Die Zuschauer*innen können sich überall hinbegeben, auch auf die Bühne selbst, sich niederlassen, während der Performance den Ort wechseln. Die Schauspieler*innen und Tänzer*innen bewegen sich durch das Publikum. Der ganze Platz mit Ensemble und Publikum organisiert sich selbst. Eine gute Lichtführung und Tontechnik hält dabei den Fokus auf die Akteure. Videoinstallationen (Stefano Di Buduo) unterstreichen die Szenerie. Die Musik wurde eigens komponiert von Hannes Strobl und Michael Emanuel Bauer. "Der Außenstehende", der aus der nahen Zukunft kommt (etwa 2026), ist mit einer kriselnden oder zerfallenden Gesellschaft konfrontiert, wo demokratische Rechte immer mehr unter Druck geraten.

Cyber-Projekte anno 2092

Der zweite Teil ("Eine posthumane Geschichte") geht ans Eingemachte. Wir schreiben das Jahr 2092. In der Rahmenhandlung wird der ehemalige Chicken-Wings-Bräter und Videogamer Frank (Christian Zacharas alias Robozee) vom Militär angeworben, um Kampfdrohnen zu steuern. Was Frank auch willig macht, durch seine Untaten aber Schuld auf sich zieht, auf die einer chinesischen Fabel nach Ungemach folgt: Sein Sohn "Anders" wird ohne Po geboren und erhält einen Cyber-Po.

Ja, hier wird es grotesk und humorvoll. Und auch noch viel bunter. Im Kern geht es darum, mit Künstlicher Intelligenz neue Geschichten, alternative Wahrheiten aka Fake News, zu erzeugen und als Erinnerungen den Menschen abzuspeichern. Die Menschen wären glücklich, aber manipuliert. Das Unternehmen wird aber abgewendet. Die Theaterleute verbreiten Optimismus.

Sternenfahrt am Ende der Menschheit

Abgespaced bis verrückt ist dann der dritte Teil ("Überall im Universum Klang"), in einer fernen Zukunft des Jahres 3082. Die Erde längst tot. Der Nachfolgeplanet OO rast in ein schwarzes Loch und kommt transformiert als Planet QQ wieder heraus. Doch was passiert mit den Menschen? Bleibt ein Wesenskern erhalten, wie etwa beim Protagonisten "T" (David Gaviria), der in dieser rührenden Liebesgeschichte seine Frau "Aries" sucht und "Mesa" (beide Mirjam Rast) findet?

Die Zuschauer sitzen diesmal auf der Bühne und schauen wie durch eine Art Fenster in die spacige Welt der Astronauten und Transformierten. Und leider ist es auch hier wieder dasselbe: Die Herrscher wollen über die Geschichten herrschen und damit ihre Macht festigen – als sei das eine Konstante, die sich über Raum und Zeit erstreckt. Menschenrechte und demokratische Grundrechte bleiben eine fragile Geschichte.

 

Posthuman Journey
von Pat To Yan
Deutsche Erstaufführung der Trilogie "Eine kurze Chronik des künftigen China" – "Eine posthumane Geschichte" – "Überall im Universum Klang"
Regie und Bühne: Thomas Krupa, Kostüme: Monika Gora, Musik und Klangkonzept, Komposition: Hannes Strobl und Michael Emanuel Bauer, Video: Stefano Di Buduo,
Choreographie: Raphael Moussa Hillebrand, Chorleitung: Jan Hoffmann, Dramaturgie: Simone Sterr, Christian Förnzler.
Mit: Davíd Gaviria, Pascal Thomas, Trang Dông, Mirjam Rast, Gustavo de Oliveira, Julia Araújo, Christian Zacharas Robozee, Carolin Weber, Magdalena Stoyanova, Roman Kurtz, Anne-Elise Minetti, Wolfgang Wels, Haruka Ouchi, Alexandra Speckbrock, Jorid Helfrich, Emily Härtel, Aleksander Zhibaj, Emily Härtel, Aleksander Zhibaj, Chor des Stadttheaters Gießen.
Premiere am 30.September 2022
Dauer: 3 mal 1 Stunde, zwei Pausen

www.stadttheater-giessen.de


Kritikenrundschau

"Es wimmelt von allegorischen Figuren und Anspielungen auf das Theater. Aber auch die ganz großen Gesellschaftsfragen rund um Künstliche Intelligenz, (un)wahre Geschichten oder Machtmissbrauch werden hier im Stil eines 'magischen Realismus' verhandel", so Karola Schepp in der Gießener Allgemeine Zeitung (4.10.2022). Der Beginn ist eine Dystopie voller verwirrender Rätsel, später werde Pat To Yans kritische Sicht auf Künstliche Intelligenz, aber auch auf ein China, in dem schon das Tragen eines Regenschirms Hongkonger verdächtig macht, am ehesten greifbar. Regisseur Thomas Krupa setze Pat To Yans wilde Reise durch Raum und Zeit mit einer Fülle von beeindruckenden Bildern im multimedialen Erlebnisraum um und erweitere Sprache, Gesang und Bewegungen oft noch um eine zusätzliche Ebene.

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