Alle oder Heiner

1. Oktober 2022. Hat er uns heute noch etwas zu sagen, der markante DDR-Autor, der Sätze ersann wie "Das Herz ist ein geräumiger Friedhof"? Oder ist es wie mit der Schachtel Streichhölzer, der nach 1989 erst die Reibfläche abhanden kam und die dann noch Feuchtigkeit gezogen hat? Regisseur Sascha Hawemann gibt eine anregende Antwort.

Von Frank Schlößer

 

"Müller : Eine Chronik in sechs Jahrzehnten" in der Regie von Sascha Hawemann am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin © Silke Winkler

1. Oktober 2022. Kennen Sie diese Wasserhähne aus den Nippes-Läden? Die in der Luft stehen und aus denen endlos Wasser läuft? Wenn man die zum ersten Mal sieht, dann braucht es eine Weile, bis man nicht mehr fasziniert ist. Über zwei Stunden ohne Pause lief gestern Heiner Müller auf der Bühne des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin. Sascha Hawemann hatte aufgedreht.

Immerhin macht Sascha Hawemann den Zuschauern ein dramaturgisches Angebot: Wer will, der darf diesen assoziativen Abend als Müllers Nahtod-Erfahrung wahrnehmen. Es beginnt mit dem letzten Zug an einer Zigarette, die Heiner Müller von der Krankenschwester gereicht wird. Zu den Klängen der des Liedes von der "Jarama-Front", gesungen von Ernst Busch. Und endet mit diesem prägnanten Piiiiep der Herzmaschine.

Das Szenario: Ein Raum aus vier Meter hohen weißen Folienwänden, die langsam vollgeschrieben werden. Dazu vollgeschriebene Papiere auf dem Boden, von denen vorgelesen wird. Und ein paar Schreibmaschinen, auf denen die acht Schauspieler herumhacken als gäb's kein Morgen.

Erste Müller-Station

Gibt's auch nicht. Müller ist tot. Fast 67mal hatte die Welt mit Heiner Müller die Sonne umkreist. Bis zum 30. September 1995. Danach ging es schnurstracks ohne ihn weiter auf der Kreisbahn.

Sascha Hawemann hat sich für eine Dekonstruktion von Müllers Werk und Leben entschieden – und klar: Das Theater in Schwerin ist zuständig für Heiner Müller, denn das mecklenburgische Städtchen Waren ist nur 100 Kilometer entfernt, und das war die erste Station für den zehnjährigen Kommunistensohn aus Sachsen.

 Müller3 Silke Winkler uAlle Müller oder was? Jawohl: Frank Wiegard, Emil Gutheil, Laura Fouquet, Jonas Steglich, Julia Keiling, Robert Höller und Rosalba Thea Salomon durchschreiten den Dramatiker-Kosmos © Silke Winkler

Der Abend ist halbwegs chronologisch angelegt, die Schauspieler bleiben ohne Rollen und Namen. Alle sind Müller, gelegentlich auch seine Frauen oder seine Kollegen oder die Charaktere seiner Stücke, und wenn sie sich die Instrumente greifen, dann sind sie auch noch die Musiker. Das Bühnenbild konfrontiert die Zuschauer wahlweise mit einem kommunistischen Wandgemälde, einer vier Meter hohen Giraffe oder einem Scheinwerfer, der aus der Tiefe des Bühnenraumes blendet.

Munteres Textrauschen

Ja, und dann geht es munter durch: Biografie und Sozialismus, der Schriftstellerverband und der Gasherd für Inge Müller, Fetzen aus der Wolokolamsker Chaussee und "Vergessen und Vergessen und Vergessen". Dazu diese prägnanten Sätze: "Fleisch und Fleisch gesellt sich gern." Oder "Das Herz ist ein geräumiger Friedhof." Natürlich die "Fickzellen". Es ist ein Rauschen aus jeder Menge Text, und nicht immer ist zu unterscheiden, was zu Hawemann gehört und was aus Müllers Texten stammt: War das jetzt "Hamletmaschine"? Oder etwas aus "Zement"? Oder aus der "Umsiedlerin"? Hawemann gibt bei diesem Ratespiel nur spärlich ein paar Tipps.

Müller1 Silke Winkler uDie Inszenierung zeigt Müller auch als Handwerker, der sich aus den Texten seiner Frau Inge bedient: Jennifer Sabel und Jonas Steglich in Wolf Gutjahrs Bühnenbild © Silke Winkler

Ein bisschen fies ist es, Heiner Müller auch als Handwerker zu zeigen, der sich einerseits aus den Texten seiner Frau Inge bedient und andererseits bewusst an seinem Image schnitzt: Hammse lange nicht mehr über dich geredet, musste halt mal wieder was Tiefgründiges raushauen.

Selbst die hartgesottensten Kenner werden Neues entdecken. Die interessierten Laien werden Lust bekommen, sich zu fragen, ob Heiner Müller auch heute noch was zu erzählen hat. Oder bleibt es dabei: Heiner Müller ist die Schachtel Streichhölzer, der nach 1989 erst die Reibfläche abhanden gekommen ist – und die dann noch Feuchtigkeit gezogen hat?

Bleiben oder gehen?

Gelegentlich wir der Strom mit Müllers Miniaturgeschichten unterbrochen, und ein paar Minuten lang gibt es eine Struktur und Gelegenheiten für nachdenkliches Lachen. Bettina Wegner spielt mit, und Thomas Brasch ist dabei, und Manfred Krug singt was und sagt was, und natürlich geht es in diesem Kapitel um die Frage "Bleiben oder Gehen"?

Für Wolf Biermann gab es 1976 da nur eine Antwort: "Bleib drüben!" Sein Auftritt ist ein Höhepunkt des Abends – natürlich als Parodie des Gitarristenpoeten im Stil von Wladimir Wyssozki, der sich das Attribut "Unbequem" wie einen Orden angeheftet hat. Grandios.

Diesen textlastigen, schrägen, lustvollen Abend auf eine gesunde Länge zu kürzen, das war sicher harte Arbeit. Aber es hat sich gelohnt.

 

Müller : Eine Chronik in sechs Jahrzehnten
mit Texten von Heiner Müller 
Regie: Sascha Hawemann, Bühne: Wolf Gutjahr, Kostüme: Hildegard Altmeyer, Dramaturgie: Katharina Nay.
Mit: Laura Fouquet, Emil Gutheil, Robert Höller, Julia Keiling, Jennifer Sabel, Rosalba Thea Salomon, Jonas Steglich, Frank Wiegard.
Premiere am 30. September 2022
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.mecklenburgisches-staatstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Hawemanns etwas überfrachtete Chronik ist ohne Heldenpose, ohne Lorbeerkranz ein herausforderndes Denk-mal", schreibt Manfred Zelt in der Schweriner Volkszeitung (4.10.2022). "Es zu betrachten, macht Kopfarbeit." Hawemanns Regie lockere die oft verwickelte Gedankenlast spielerisch mit einem Kaleidoskop auf. "Es ist ein heftiger postdramatischer Rückblick für die Heiner-Gemeinde. Wie groß ist sie noch?"

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