Der braucht einen Arzt!

6. Oktober 2022. Im letzten Jahr feierte Karin Henkel mit "Richard the Kid & the King" einen großen Erfolg. Nun bringt sie erneut in Hamburg einen Shakespeare auf die Bühne. Das Ergebnis überrascht.

Von Falk Schreiber

Macbeth am Schauspielhaus Hamburg © Lalo Jodlbauer

6. Oktober 2022. "Blut! Überall Blut!" Macbeth, wie ihn Kristof Van Boven spielt, braucht keine Hexen, die ihn auf die dunkle Seite ziehen, er braucht auch keine Gattin, die ihm Mordideen einflüstert. Er ist von Anfang an porös, ein Nervenbündel, dieser Macbeth hat schon lange verstanden, dass er Souveränität nur in exzessiver Gewalt erlangen kann. Also übt er Gewalt aus. Zunächst an einem Stuhl, der auf Katrin Bracks schiefer Bühne kippelt, und dessen Beine gnadenlos abgesägt werden, bald auch an Menschen. Überall Blut.

Karin Henkel hat vor eineinhalb Jahren schon einmal einen Shakespeareschen Bösewicht fürs Hamburger Schauspielhaus inszeniert: Richard the Kid & the King hieß die Koproduktion mit den Salzburger Festspielen. Der aktuelle "Macbeth" ist auf eine gewisse Weise eine Spiegelung von Richard. Den zeigte Henkel als jungen Menschen, der in Gewalt und Terror hineingedrängt wurde, und Lina Beckmann verkörperte dieses Bösewerden mit grausamer Zwangsläufigkeit.

Helft dem Tyrannen!

In "Macbeth" wird hingegen gar nichts mehr durch Biografie oder Umstände erklärt, Van Boven zeigt ihn als einfach böse, da kann er noch so holprig "Was ist passiert? Ich hab’ doch nicht etwa …?" stammeln und seine blutigen Hände betrachten. Nur einmal, in einer gespenstischen Krönungsfeier, deutet sich eine pathologische Erklärung für diese charakterlichen Verwerfungen an: "Entschuldigung", stottert der gerade an die Macht gekommene Herrscher, "mir gehts nicht gut", dann verliert er sich in Spasmen. Der bräuchte einen Arzt, und vielleicht ist das ja der große Fehler seiner Mitmenschen: dass ihm niemand Hilfe zukommen lässt.

Regisseurin Henkel und Dramaturg Roland Koberg haben eine konzentrierte, gerade mal gut zwei Stunden kurze Fassung geschrieben, die praktisch alles weglässt, was Shakespeare um Macbeth herumgebaut hat. Sexualität – weg. Übersinnliches – weg. Politischer Hintergrund – weg. Selbst Macbeths Tod findet nicht wirklich statt. Dass sich der Wald von Birnam gegen das Schloss des Herrschers erhebt, wird durch fallende Blätter angedeutet, die Angelika Richter hübsch prosaisch einordnet: "Das ist ein Blatt! Es ist Herbst!" Einzig Macbeths Wahn sagt ihm, dass jetzt seine letzte Stunde geschlagen hat, und dann ist das Stück auch schon vorbei. Was bleibt, ist Gewalt. Sie wird erst in der Ermordung Banquos (Lars Rudolph) als lustvoller Splatter beschrieben und dann, beim Tod von echten und vermeintlichen Verrätern, auch explizit gezeigt.

Inkompetente Mörderinnen

Das ist konsequent gemacht, sorgt allerdings für eine gewisse Distanz zum Geschehen. Der Abend hat keine Fallhöhe, keinen Moment, an dem man der Figur wünscht, sich doch noch für die gute Seite zu entscheiden. Weil nämlich Macbeth nicht rauskommt aus dem Gespinst, in das ihn seine inneren Dämonen eingesponnen haben. Die Dämonen: ein Horrorchor, bestehend aus 21 Mädchen in schwarz-weißen Schuluniformen und Mireille-Mathieu-Perücken, die immer wieder "Macbeth, König von Schottland!" in den Saal zischen.

Und Kate Strong und Angelika Richter, die das Geschehen irgendwie in Gang halten, Schrumpfversionen der weggekürzten Hexen einerseits, der ebenfalls weggekürzten Lady Macbeth andererseits. Schließlich legen sie auch noch mit Hand an beim Morden: zwei so redselige wie inkompetente (und deswegen extra brutale) Killerinnen, die einem Coen-Film entsprungen sein könnten.

Der Körper verhärtet

Weil einen also Macbeths Schicksal verhältnismäßig kalt lässt, freut man sich umso mehr an den Schauspielerleistungen. An Jan-Peter Kampwirth, der die Nicht-Rolle des betrunkenen Pförtners zu einem mehrminütigen Solo macht, zu einer echten, vielschichtigen Figur, die gar nicht merkt, wie sich der Tod hinter ihrem Rausch versteckt. Oder an Strong, die mit mittelenglischer Prollhaftigkeit durch die Handlung holzt: "What do you think this is, darling? Fucking art?" Oder daran, wie Van Boven Ticks ausbildet, wie er immer wieder in den Schneidersitz tänzelt, gleitet, springt, wie er sich nervös im Ohr kratzt, wie seine Stimme immer mehr ins Metallische kippt. Van Boven zeigt in diesen Ticks eine Verhärtung des Körpers, mit der er sich gegen seine inneren Stimmen wehrt. Er hat keine Chance.

Dieser "Macbeth" ist ein eigenwilliger Abend. Minimalistisch, aber gleichzeitig mit einem Sinn für Ausbrüche in den Eklektizismus. Distanziert, aber gleichzeitig mit einem Herz für einzelne Figuren. Weit weg vom Shakespearetext, aber gleichzeitig nahe an der Vorlage. Auf grausame Weise humorvoll. Im Grunde: ganz starkes Theater.

 

Macbeth
nach William Shakespeare. Deutsch von Thomas Brasch, Fassung von Karin Henkel und Roland Koberg
Regie: Karin Henkel, Bühne: Katrin Brack, Mitarbeit Bühne: Sanghwa Park, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Kostümmitarbeit: Tabea Harms, Licht: Holger Stellwag, Musik: Friederike Bernhardt, Matti Gajek, Sprechchöre: Alexander Weise, Dramaturgie: Roland Koberg, Dramaturgiemitarbeit: Finnja Denkewitz.
Mit: Jan-Peter Kampwirth, Lars Rudolph, Angelika Richter, Kate Strong, Kristof Van Boven, Michael Weber.
Premiere am 5. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.de

Kritikenrundschau

"Fast möchte man von einem Solo für Kristof Van Boven sprechen - ein enorm wendiger, feinnerviger, intensiver Spieler", freut sich Katja Weise im NDR (6.10.2022). Regisseurin Karin Henkel habe einen "hochspannenden Ansatz" gefunden, obwohl mancher Witz "aufgesetzt" wirke. Vor allem in der zweifen Hälfte ziehe der Abend an, werde "dialogstärker". Das Bühnenbild von Katrin Brack sei zudem "sensationell".

Schon ästhetisch sei dieser Abend eine "puristische, tiefschwarze Angelegenheit", meint Katrin Ullmann im Deutschlandfunk Kultur (6.10.2022). Bei Kristof Van Boven sei dieser Macbeth wie ein "verunsichertes Kind, das sich aus Versehen auf den Thron gemordet" habe. Van Boven "meistere" den ganzen Abend, es sei "in weiten Strecken ein Solo". Die Fassung von Karin Henkel und Roland Koberg sei "sehr lose" am Shakespeareschen Original entlang gehangelt, dabei aber "sehr unterhaltsam". Trotzdem gehe der Abend nicht wirklich auf, da man aus dem Alptraum des Macbeth "recht ungerührt" wieder aufwache.

"Unterhaltung durch Übertreibung" sei dieser Abend, findet ein enttäuschter Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (7.10.2022). Leider wirke "diese ganze Verkindlichung kranker Ambitionen die meiste Zeit wie ein Wurmfortsatz von Henkels großartiger Shakespeare-Adaption 'Richard the Kid & the King'", von Teilen der Besetzung und ihren Marotten über die Bühne bis hin zu Inszenierungsdetails. Diese "ziemlich uninspirierte Inszenierung, die gegen Ende trotz hohen Einsatzes von roter Farbe immer blutärmer wird", erzähle eher von kreativer Erschöpfung und wirke so wie ein unfreiwilliger Kommentar auf die Gegenwart.

Van Bovens "dabei zu beobachten, wie er über die Bühne rast und in die Hocke springt, sich aufbäumt, zuckend zu Boden stürzt und sich im Schlingern verausgabt, ist ein großes Ereignis", schwärmt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.10.2022). Allerdings seien die Kosten des Beinahe-Solos hoch: "Der Abend kennt nur seinen Gedankenkampf." Es wirke, als habe sich Henkel diesmal alle Verweise auf eine irgendwie geartete Gegenwart verboten.

Van Bo­ven spiele den Mör­der wie ei­nen Co­me­di­an, der sei­ne Mord­plä­ne tri­um­phal als Poin­ten her­aus­kräht, schreibt Peter Kümmel in der Zeit (13.10.2022). "Et­was Un­er­wach­se­nes, Schüch­ter­nes, Be­flis­se­nes geht von dem Mann aus. Ei­gent­lich for­dert Mac­beth im­mer­zu uns, sei­ne Zeu­gen und heim­li­chen Mit­tä­ter, da­zu auf, dass wir ihn be­glei­ten und ihn nach voll­zo­ge­nem Ver­bre­chen lo­ben: Hat er das nicht fein ge­macht?" Allerdings betrüge Henkels Dreh, dass ihr Mac­beth "un­ser Ge­schöpf ist, un­ser Spiel­ball, das Dra­ma aber ums Ent­schei­den­de, um das Ge­heim­nis und so­gar die Wür­de des Prot­ago­nis­ten. Um das In­ter­es­se an der Fra­ge: War­um tut er das al­les?"

Kommentare  
Macbeth, Hamburg: Theater, das begeistert
Kristof van Boven als Macbeth am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Eine Bühne voller Prospektzüge. Die Prospektzüge entschwinden in den Schnürboden und an ihnen entfalten sich weiße Papiergirlanden, die sich zu einem Wald erheben und letztlich auch im Schnürboden verschwinden. Auf leerer schwarzer Bühne liegt regungslos ein nackter Körper mit dem Rücken zum Publikum. Nach einiger Zeit erhebt sich der Körper, zieht die schwarze Unterhose übers nackte Gesäß und wendet sich zum Publikum. Van Boven als MACBETH. Stunden später steht er wieder allein auf der Bühne und hebt ein Laubblatt vom Boden auf. Er fragt, was das sei, und es wird erwidert, dass es ein Laubblatt sei und es Herbst sei. Herbstblätter wehen ihm entgegen und bedecken den Bühnenboden. Macbeth bricht zusammen und liegt reglos auf dem Herbstlaub – Black Out. Zwischen diesen Bildern entspannt sich das Psychogramm Macbeths. Macbeths Solo, die Geschichte des Paradoxons „Fair is Foul, and Foul is Fair”, dessen Analyse zu einem klareren Verständnis der Situation führt und eventuell den zunächst scheinbaren Widerspruch auflöst.

Karin Henkel stellt in den Mittelpunkt ihrer Inszenierung K. v. Boven als Macbeth, der diesen Abend weitgehend monologisch, als „One man Show“ beherrscht. Henkels Macbeth benötigt weder Hexen noch eine Lady Macbeth, um die Reise zum Schlächter unkontrollierter, allgegenwärtiger Gewalt anzutreten. Stattdessen übernimmt eine Gruppe junger Mädchen in schwarz-weißen Schuluniformen die Rolle der inneren Stimme Macbeths, der identisch gekleidet ist. Kembles setzte bereits ebenfalls seit 1794 einen Chor von singenden und tanzenden Hexen ein. Van Boven ein blutrünstiger Macbeth, dessen Ehrgeiz oft zu groß und Charakter zu klein für einen König sind und deshalb trotz Tyrannei lächerlich wirkt. Dieser Macbeth folgt der Versuchung der Macht und politische Morde gehören halt zum alltäglichen Geschäft. Macbeth - ein Mensch - wie jeder von uns, der einer Versuchung nachgeben und vom eigenen Ehrgeiz angestachelt, sich dem Bösen ergeben kann. Van Boven ein in seinen Entscheidungen zunächst unsicherer Macbeth, der durch seine innere Stimme - die Gruppe junger Mädchen - leicht beeinflussbar ist und im Laufe des Geschehens zunehmend paranoide Züge entwickelt. Zu Beginn fehlt ihm das notwendige rücksichtslose Verhalten, um seine Ziele zu erreichen. Doch einmal König geworden möchte er es für immer bleiben. Bestialische Morde werden zu seinem Handwerkszeug, um seine Angst vor Machtverlust zu kompensieren. Van Boven ein Macbeth mit naiven Machtträumen, der sich vermeintlich aus Versehen auf den Thron mordete. Van Boven als Macbeth, die Verkörperung des kleinen Mannes mit linkischen Bewegungen und diversen Ticks, um seine Ängste zu unterdrücken, gegen die er, letztendlich keine Chance hat. Van Boven versucht ständig das Publikum mittels seiner unsichtbaren Wirklichkeiten und Emotionen ins Geschehen einzubinden. Nicht Vernunft haut das Publikum vom Hocker, sondernd begnadete Agitation auch im Sinne von Eigeninteresse und mag sie noch so lächerlich daherkommen. Man lacht teilweise über diesen Macbeth aber unterschätzt seine Bestialität. Van Boven verleiht diesem Macbeth unzählige Gesichter und in seiner Körperlichkeit verdeutlicht sich die verunsicherte Bestie Mensch, die aus Machtgier und Angst zum mordenden Monster wird. Im Programm werden nur die Schauspieler*innen namentlich genannt ohne Zuordnung zu einzelnen Rollen. Ein spannender, eigenwilliger Theaterabend der nicht nur van Boven lebt, der die Bühne rockt, sondernd auch von der hochkarätigen Besetzung mit A. Richter, K. Strong, J.-P. Kampwirth und M. Weber, die mit ihrem Spiel, dem Affen Zucker geben, für dieses humoreske Grauen. Theater, das mich begeistert. Merci & Chapeau!
Macbeth, Hamburg: Nichts gelingt
Gesehen in Feb. 2024. Nichts gelingt in diesem Stück - Ton, Licht, Spannung, Stimmen. Das Jammer und ‚Humm!‘, ‚Rrrr‘ und ‚ohhh‘ von Van Boven ist voll daneben. Vor allem allen Spannungsfeldern und Emotionen in Macbeth (übrigens, von Shakespeare) sind abwesend.
Eine Fälschung.
Macbeth, Hamburg: Hinweis
Sehr geehrtes Daneben,

ich finde es völlig DANEBEN eine Theaterarbeit mit "voll daneben" zu beurteilen, wenn man inkognito bleibt.

Ich wünsche einen erkenntnisreichen Tag
Reiner Schmedemann
Kommentar schreiben