Der Meister und Margarita - Nationaltheater Weimar
Über Moskau fliegen
8. Oktober 2022. Spektakulärer Geschichtscomic, schwindelerregende Bühne, großes Schauspiel: was Luise Voigt aus Michail Bulgakows Romanstoff gemacht hat, hat den Nachtkritiker so begeistert, dass sein Text spontan eingesandt und ins Programm genommen wurde: Kunst, die Denkräume öffnet und atemlos macht.
Von Matthias Schmidt
8. Oktober 2022. Einigermaßen sprachlos schaut man auf die Bühne. Ein in die Horizontale gekippter Hinterhof, in dessen Zentrum, also im Himmel, ein schwarz gekleideter, seltsam breitschultriger Mensch steht. Krähen kreisen über ihm, während ein Bulgakow-Brief auf die Seitenkulissen projiziert wird: ein Hilferuf an die sowjetischen Funktionäre, ein Bericht seiner Verzweiflung über Zensur und Verbote.
Mit diesem expressionistischen Bild auf der von Natascha von Steiger gefertigten Bühne beginnt ein atemloser, knapp zweistündiger Ritt durch Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita". Das Leben im Moskau der Stalinzeit – eine Hölle und zugleich ein teuflisches Vergnügen.
Wie Luise Voigt den gerne ins Epische gezogenen Stoff in diese optische Täuschung einstürzender Altbauten hinein entkernt, ihn zu einem klugen, farbenfrohen, rasanten Geschichts-Comic umformt, ist spektakulär. Die Fenster öffnen sich, die Schriftsteller Berlioz und Lichodejew schauen heraus, von heftigem Schluckauf geplagt, und Volands Spiel mit der Welt beginnt. Es wird nahezu durchgehend in einer Slapstick-Ästhetik ablaufen, mit Effektgeräuschen aus der Trickfilmkiste, mit Musiken, die das Ensemble rhythmisch antreiben auf der Stelle zu rennen, auf dem Boden zu schwimmen oder – ganz ohne Hexenbesen – über Moskau zu fliegen. Wer abzugehen hat, springt schon mal wild aus dem Bild heraus. Krräng.
Monty Python in Moskau
"Der Meister und Margarita" mit den Mitteln von "Tom und Jerry" (oder, ostdeutsch, "Nu Pogodi – Hase und Wolf")? Die Gespräche von Jeschua mit Pontius Pilatus als Monty-Python-Klamauk? Wo bleibt der heilige Ernst der sowjetischen Diktatur, wo die tragische Liebe von Margarita und dem Meister? Passt! Alles da in dieser wilden und doch sehr genau choreografierten Arbeit. Mit viel Gefühl für kleine Breaks platziert Luise Voigt die zahlreichen Handlungsebenen des Romans hinein in ihren bunten Hinterhof. Die wichtigen Sätze, sie ragen heraus aus dem herrlichen Klamauk und wirken um so heftiger: "Was täte das Gute, wenn das Böse nicht wäre", hören wir, auf ein Bühnen-Moskau schauend, das für einen kurzen Moment tatsächlich mit dem heutigen zu tun hat.
Einmal flimmern Kriegsbilder aus der Ukraine über die Fototapeten der Häuserwände. Es bleibt bei knappen Andeutungen, bei Zeichen, bei Signalen, die letztlich wirkungsvoller sind als explizite Aktualisierungen. Als Berlioz, der seinen Kopf durch eine Straßenbahn verlor, bestattet wird, sind im Hintergrund Moskau-Bilder zu sehen. Ein Sarg, der aus dem Kreml getragen wird? Ein Schelm, wer dabei Böses denkt.
Der leichte, flapsige Umgang mit dem Romanstoff beschädigt ihn nicht, im Gegenteil, er wirkt wie eine Befreiung des Theaters aus der Diskursfalle, die auch in diesem Thema steckt. Denn absurderweise wird Bulgakow gerade sowohl in Russland als auch in der Ukraine zum zweiten Mal aussortiert, weil er den einen zu russlandkritisch, den anderen zu ukraineunfreundlich ist. Man könnte das auf der Bühne besprechen, es anklagen. Oder man spielt diesen Autor einfach. Wie heißt es im Roman, "die Feigheit ist die schrecklichste Sünde"?
Ist der Kater eine Katze?
Wie dieses versteckt Luise Voigt weitere Themen in ihrer Inszenierung. Feingeistig, und vielleicht gerade dadurch nachhaltig. "Wounds" wird performt, ein so bewegender Song, dass man ihn später heraussuchen muss. Um herauszufinden, dass er von "Planningtorock" stammt, einer nicht-binären Person. SIER (das Pronom aus sie und er) beschäftigt sich in Musik und Performance mit fluiden Geschlechterrollen und -bildern. Die Inszenierung tut das – ohne es auszustellen – im Grunde die ganze Zeit. Trug der Schriftsteller Besdomny nicht diese Perücke – war er vielleicht eine Frau? Der Kater Behemoth eine Katze? Oder beides?
Man kann das als Anregung nutzen, aber es wird eben nie vordergründig damit gearbeitet, es wird nie belehrt. Das ist, pathetisch gesagt, Kunst, die Denkräume öffnet, was diese Inszenierung – neben der rein formal außerordentlichen künstlerischen Qualität – auszeichnet.
Durch den Hinterhof fliegen
Nicht zu vergessen das Ensemble auf der Bühne. Der Spaß am Spiel ist unübersehbar, die Verausgabung unüberhörbar. Atemlos tanzen und rennen und klettern sie durch den Hinterhof oder fliegen, wie Dascha Trautwein als Margarita, über die Stadt. Ohne den Boden zu verlassen. Dabei Bulgakows Texte sprechend. Großes Schauspiel!
Der Meister und Margarita
von Michail Bulgakow
Deutsch von Thomas Reschke
Regie: Luise Voigt, Bühne: Natascha von Steiger, Kostüme: Maria Strauch, Musik: Frederik Werth, Choreographie: Tony De Maeyer, Dramaturgie: Eva Bormann, Video: Stefan Bischoff.
Mit: Marcus Horn, Dascha Trautwein, Krunoslav Sebrek, Isabel Tetzner, Fabian Hagen, Annelie Korn, Martin Esser, Janus Torp, im Video: Nadja Robiné, Tony de Maeyer.
Premiere am 7. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.nationaltheater-weimar.de
Kritikenrundschau
Luise Voigt habe mit ihrer Inszenierung "ein Wurmloch in der Geschichte gefunden", schreibt Michael Helbing in der Thüringer Allgemeinen (10.10.22). Die Regisseurin verdichte "den Inhalt zur Form", lasse "acht Schauspieler durch eine atemlose Groteske hasten, die ausgerechnet in der Irrenanstalt mal nach Luft schnappen darf". Man erlebe eine "effektvoll durchdrehenden Klipp-Klapp- Maschine", die "schnell zur Betriebstemperatur rasenden Stillstands" gelange. Einigen Anschlüssen und Übergängen fehle es zwar mitunter noch an Präzision, aber das "energische Komödienensemble" bereite "großes Vergnügen".
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So wünscht man sich Theater!
Die Ideen des Dramaturgen Carl Hegemann kann man noch auf der Volksbühnen-Website nachlesen, wenngleich diese Ideen heute wohl schwerlich so formuliert werden könnten, zum Beispiel der Schlusssatz: „Manchem Realitätsbruch stehen wir so unbeeindruckt gegenüber wie manchem Zivilisationsbruch.“
Am 17.11.2022 in Weimar hatte ich den Roman gründlich gelesen und war zunächst etwas irritiert, welchen fast eindimensionalen Plot die Dramaturgin Eva Bormann in der Einführung präsentierte. Wer „an Gott nicht glaubt, glaubt auch nicht an die Gegenseite“? Vielleicht, weil er gerade Teil des teuflischen Spiels wird?
Aber in der Einführung war das herrliche Bühnenbild noch nicht präsent, die tollen Kostüme, der die „allgemeine Stimmung“ so treffend persiflierende Chor und überhaupt das – man muss es so sagen: das tolle Team. Es ist kein Abend der Einzeldarsteller, sondern eine Team-Choreographie. Mit Ausnahme vielleicht von Dascha Trautwein als grandiose Margarita. Da sah ich gern darüber hinweg, dass zwei Highlights des Romans – „Die Seance der Schwarzen Magie“ und der „Satansball“ etwas frugal ausfielen.
Margarita hat Frank Castorf offenbar nachhaltig beschäftigt. In seiner Faust-Inszenierung 2016 gab Valery Tscheplanowa eher die Geliebte-Hexe Margarita Bulgakows als Goethes Gretchen.
Anstelle des gemeinsamen Happy-End hätte auch in Weimar Dascha Trautwein ihren Meister allein in sein „ewiges Heim“ verabschieden sollen, mit einem Tanz, der des Meisters finalen Schlaf in Margaritas ewiger Obhut belässt. Elysium statt Hölle!
Als 18jährige habe ich den Roman gelesen und mehr geahnt als gewusst. Vor genau 20 Jahren habe ich Castorfs "Der Meister und Margarita" in der Volksbühne gesehen und mich keine Minute der fünf Stunden gelangweilt. Diese Inszenierung steht jedoch völlig im Hier und Jetzt, in unserer Zeit und für sich in seiner Ästhetik, Spielweise und schließlich leider auch zum Tagesgeschehen. Ich freue mich auch immer über den kleinen Einfluss der um sich greifenden "Fritsch-iade" unter RegisseurInnen.
Ich kann nur empfehlen nach Weimar zu fahren, es ist ja eine Kulturstadt und hat noch mehr zu bieten.
Ja, und vielleicht sollte irgendein Berliner Stadt- oder Staatstheater diese Inszenierung trotzdem nach Berlin holen. Ich würde mich freuen und noch einmal hinein gehen.