Türken, Tomaten und Theater

Von Mounia Meiborg

Berlin, 13. Dezember 2008. Die Parallelgesellschaft ist in Berlin-Kreuzberg nur ein paar Schritte von den hippen Cafés der Oranienstraße entfernt. Da ist die türkische Bäckerei an der Ecke zur Naunynstraße, die immer bis drei Uhr nachts geöffnet hat, weil die Frauen warten, bis ihre Männer in der Kneipe nebenan mit dem Kartenspielen fertig sind. Da sind die Jugendlichen, die mit düsterer Miene in den Hauseingängen herumstehen und auf das Pflaster spucken – wenn sie schon keine Gangster sind, wollen sie doch wenigstens so wirken. Und da ist das Kulturzentrum Naunynritze, das versucht, genau diese Jugendlichen für andere Dinge zu begeistern, zum Beispiel für Kunst.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite liegt das Ballhaus Naunynstraße. Ein passenderer Ort als Bühne für Geschichten von Migranten, Migrantenkindern und Deutschen ist kaum vorstellbar. Das Haus mit dem verschnörkelten Ballsaal aus dem 19. Jahrhundert und den 100 Zuschauerplätzen wird vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg betrieben und hat im November nach einer Umbaupause wieder eröffnet. Unter der neuen künstlerischen Leiterin Shermin Langhoff findet erstmal ein Festival statt: "Dogland"; es will "junges, postmigrantisches Theater" zeigen.

Im Betroffenheitsschlamassel

Dieses junge, postmigrantische Theater kann, natürlich, sehr unterschiedlich aussehen, und nicht immer kommt dabei ein gelungener Theaterabend heraus. "Schattenstimmen" etwa, ein Monologreigen von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, die sich bereits mit "Schwarze Jungfrauen" als  Dokumentar-Autorenduo bewährt haben, erstickte unter der Regie von Nurkan Erpulat an seinen eigenen hohen Ansprüchen. Nicht nur, dass Erpulat die schockierendsten der auf Interviews mit illegalen Einwanderern beruhenden Monologe auswählte – er ließ diese von den gegen den Strich besetzten Schauspielern auch mit reichlich Pathos vortragen.

Auch die sehr sinnlichen Raumerfahrungen konnten das Stationen-Drama nicht aus dem Betroffenheitsschlamassel retten. Wie man mit demselben Textmaterial – auf Interviews beruhenden Monologen – anders umgehen kann, bewies Erpulat mit seinem bereits im Mai im Hebbel am Ufer gezeigtem, nun wieder aufgenommenem Abend "Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke?" Unverkrampft und oft urkomisch ist es, wenn ein Quintett schwuler Türken – vom Transvestiten über den Koranschüler bis hin zum Junkie – in Form eines spielfreudigen Ensembles zusammenkommt.

In der Weltgeschichte

Ein solches spielfreudiges Ensemble hat auch der Filmemacher Hakan Savaş Mican bei seiner ersten Theaterpremiere mit "Der Besuch" – und er nutzt es, um eine berührende, vielstimmige Geschichte zu erzählen. Zentrum des Geschehens ist Berlin, "die größte Hure des 20. Jahrhunderts", wo Vergangenheit und Gegenwart, diverse politische Systeme, Nationalitäten und Religionen aufeinanderprallen.

In einem kleinen Gartengrundstück an der Mauer lebt Ihsan, ein alter und einsamer türkischer Mann, dessen ganzer Stolz der Tomatenanbau ist. Aber die nach Israel emigrierte Besitzerin, ein Moscheeprojekt und eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg drohen ihn aus seinem Paradies zu vertreiben.

Bei Adolfo Assor ist dieser Ihsan ein Heimatloser, der seine neununddreißig Jahre in Deutschland in Jägermeister-Fläschchen abmisst und im Flickenjackett mit schief geknöpftem Hemd schon den Clochard vorwegnimmt, als der er wohl einmal enden wird. Ada, die eigentliche Besitzerin im adretten grauen Kostüm einer Personal Coacherin, empfängt er äußerst unwirsch, das Grundstück will er nicht räumen. "Was für ein Jammer! So viel Lärm um ein verfluchtes Stückchen Land", seufzt Heide Simons Ada irgendwann resigniert, und da geht es nicht nur um Tomatenstauden, sondern auch um einen ziemlichen Brocken Weltgeschichte.

Am richtigen Ort

Derweil verliebt sich Adas Sohn, ein wunderschön Klarinette spielender, werdender Konzeptkünstler, in die Enkelin des Großvaters. Die wiederum träumt von einem Nagelstudio in Istanbul und glaubt eigentlich nicht an die glückliche Liebe. Wie Sanam Afrashteh und Alexander von Hugo sich trotzdem annähern, wie er sich vorstellt mit den Worten "Eyal. Ich bin beschnitten" und sich erstmal lächerlich macht, um sie auf sich aufmerksam zu machen, das hat bei aller Komik auch etwas Rührendes. Und so legen auch die pinkfarbenen Tannenbäume, die auf Alexander Wolfs Bühne Boden und Decke bevölkern, zu Georges Brassens' Chanson einen liebestrunkenen Walzer aufs Parkett.

Zusammengehalten und zugleich verfremdet wird die Handlung durch zwei Zwillingswesen in amerikanischer Flaggen-Montur (Janina Rudenska, Ninoschka Schlothauer). Die beiden verkörpern wahlweise das Schicksal, die Moralvorstellungen, Vorurteile und Hirngespinste der Figuren. Oder auch mal zwei deutschtümelnde und gewaltbereite Autofahrer, die dafür sorgen, dass der Abend inmitten splatterhaft zertretener Tomaten endet.

Mit Fatih Akins Erfolgsfilm "Gegen die Wand" scheinen türkischstämmige Regisseure eine gewisse Vorliebe für Gewaltexzesse eingesogen zu haben; die Gefahr des Pathos liegt dabei nah. Mican umschifft sie mit Ironie und einem sicheren Gespür für dramaturgische Balance und das richtige Timing.

So bleibt "Der Besuch" am Ende, postmigrantische Themen hin oder her, vor allem ein guter Theaterabend. Und das ist das Beste, was einem an diesem Ort passieren kann.


Der Besuch
von Hakan Savaş Mican.
Regie: Hakan Savaş Mican, Bühne: Alexander Wolf, Kostüme: Malena Modéer.
Mit: Sanam Afrashteh, Adolfo Assor, Heide Simon, Alexander von Hugo, Janina Rudenska und Ninoschka Schlothauer.

www.ballhausnaunynstrasse.de

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