Wann, wenn nicht jetzt?

15. Oktober 2022. Ein Text der Stunde: In Mülheim an der Ruhr setzen Regisseur:innen und eine Choreographin die halbe Stadt in Bewegung, um Bertolt Brechts "Fatzer"-Fragment aufzuführen. Drei Inszenierungen bilden einen Abend, der Perspektiven auf Krieg, Solidarität und Verrat überblendet. 

Von Max Florian Kühlem

"Ein Mensch wir ihr" von den Mülheimer Institutionen Ringlokschuppen Ruhr, Theater an der Ruhr und den Mülheimer Theatertagen in der Stadthalle Mülheim © Franziska Götzen

15. Oktober 2022. Es ergibt absolut Sinn, dass die Mülheimer Institutionen Ringlokschuppen Ruhr, Theater an der Ruhr und Mülheimer Theatertage jetzt einen vielstimmigen Parcours zu Brechts "Fatzer"-Fragment auf den Plan setzen und damit versuchen, die halbe Stadt in Bewegung zu bringen: Handelt es doch von vier Deserteuren des Ersten Weltkriegs, die auf die Revolution (oder Veränderung) warten, die nicht kommt.

Zwei Gruppen treten ein

"Ein Mensch wie ihr" spielt in der Stadthalle Mülheim unter Einbeziehung vieler Menschen aus der Stadt, darunter Kriegs-Geflüchtete aus Syrien und Ukraine. Es besteht eigentlich aus drei Inszenierungen, die hintereinander ablaufen – und nachdem man die erste gesehen hat, muss man sagen: Zum Glück gibt es noch zwei weitere, um diesen Abend wirklich zum Erfolg zu führen. In Brechts "Fatzer"-Fragment geht es auch um den Gegensatz zwischen Solidarität und Verrat. Deshalb lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die Einlasssituation zu werfen: Das Team hat entschieden, dass das Publikum die Inszenierungen in zwei Gruppen besucht. Aufgeteilt wird es durch zwei verschiedene Mund-Nase-Masken, FFP2-Masken in grün und orange. Dass Deutschland mit der Maskenpflicht international mittlerweile ziemlich alleine dasteht (und sie bei Veranstaltungen selbst in Innenräumen derzeit gar nicht vorgeschrieben sind) spielt dabei keine Rolle: Gefühlt sind weiter die Maskenträger automatisch "solidarisch", wer keine Maske oder nur die selbst mitgebrachte OP-Maske tragen will (wenige greifen zu dieser Möglichkeit), kann sich nun als "Verräter" fühlen. Wie lange wird es wohl dauern, bis die Theater auch diese Zeit und was sie mit ihren eigenen Schwellen-Situationen gemacht hat, einmal reflektieren?

Ordentlich maskiert sitzen beide Gruppen dann erst einmal zusammen im großen Saal der Stadthalle und schauen einem Stück Regietheater zu – im schlechtesten Sinn des Wortes. Philipp Preuß hat eine eigene Fassung des Fragments inszeniert mit Großeinsatz von Sound und Video. Bilder auf transparenten Leinwänden oder dem sich gefühlt ständig öffnenden und schließenden Feuerschutzvorhang zeigen eine sich drehende Trommel, die mit der Waschmaschine im Bühnenbild korrespondiert. Vier Fellwesen tänzeln über die Bühne, es sind die vier Deserteure, die Unterschlupf bei der Frau von einem aus ihrer Mitte finden. Es wird dann viel lamentiert, gebrüllt, mit weißer und schwarzer Farbe geschmiert.

Ein Mensch wie ihr 1 FranziskaGoetzen uDeserteure, die Unterschlupf suchen: Ensemble, Gabriella Weber © Franziska Goetzen

Manchmal ist das Geschehen nur vermittelt durch Live-Video zu sehen, und es ist wirklich absurd, dass im deutschen Stadttheater, das doch so gern mit Netflix mithalten würde, die Technik immer noch so hakt, Bilder und Ton sich nicht synchronisieren wollen, Mikrofone nicht rechtzeitig funktionieren. Manchmal steht eine Erzählerfigur im Lichtspot am Rand und zitiert Walter Benjamin. Wer Brecht, Heiner Müller und die kritische Theorie studiert hat mit heißem Bemühn wird hier etwas verstehen, ansonsten verlassen viele nach müdem Applaus schulterzuckend die Halle.

Geheime Worte, ins Ohr geflüstert

Umso toller, was danach kommt: Ein Team um die Choreographin Rafaële Giovanola führt im Foyer "Nicht gern allein" auf. Die Tänzer:innen, die aus Professionellen und Laien mit Fluchthintergrund bestehen, sind von den Herumstehenden erst nicht zu unterscheiden, was für die ersten Irritationen sorgt. Erst langsam schälen sie sich heraus, begegnen sich durch Blickachsen, denen die Besucher:innen ständig im Weg stehen. Sie kommunizieren über Bewegungen, ein Schulterzucken, das etwas Nervös-Hektisches, etwas von Ticks hat. Die Performer flüstern einzelnen Menschen im Publikum auch Worte zu, geheime Worte, Literatur oder Philosophie in ihrer Landessprache. Die anderen fragen sich: Was machen die da? Was wissen die jetzt? Die Masse wird so schnell asymmetrisch, teilt sich in Gruppen auf, die in Schleifen oder Wellen durch den Raum pulsieren. Ein großartiges Ereignis, das fast ohne Worte so viel mehr über das Wesen des Brecht-Fragments sagt.

Ein Mensch wie ihr 2 Bjoern StorkWas wissen diese Menschen? Wisam Aftah, Léonce Noah Konan, Marzam Nema, Oleana Polianska, Jonathan Sanchez © Björn Stork

Christine Umpfenbachs Inszenierung "Jemand ohne Uniform" im Kammermusiksaal hat schließlich den Charme einer Aufführung in einer Schulaula – und das ist in diesem Fall äußerst beglückend. Echte Menschen auf einer kleinen Bühne ohne Schnickschnack machen die Video- und Regie-Exzesse vom Beginn vergessen. Zu den echten Menschen gehören eine Geflüchtete aus Syrien, eine geflüchtete Pianistin aus der Ukraine, eine ältere Dame aus Mülheim, deren Großvater Kommunist und Deserteur in der Nazi-Zeit war und rechtzeitig zu Kriegsende zu Fuß von der Ostfront wieder in Mülheim an der Ruhr eintraf.

Kraft des Theaters

Ihre Geschichten, bei deren Verlebendigung ein klar als Schauspielerin markiertes Ensemble-Mitglied hilft, sind äußerst berührend und machen die Tragik, die Krieg ganz aktuell und quasi vor der Haustür bedeutet, berückend spürbar. Wenn sich am Ende das riesige, vielstimmige Ensemble mit Gesang und minimaler, handgemachter Musik zu einem Brecht-Weillschen Finale synchronisiert, dann ist die Kraft des Theaters spürbar, ganz grundlegend und elementar. Ein wichtiger, letztlich doch gelungener Abend.

Ein Mensch wie ihr
Ein vielstimmiger Parcours nach "Fatzer" von Bertolt Brecht
"Fragment": Textfassung und Regie: Philipp Preuß, Bühne: Ramallah Sara Aubrecht, Kostüm: Eva Karobath, Video: Konny Keller, Dramaturgie: Helmut Schäfer, Komposition: Jörg Ritzenhoff, Mit: Günther Harder, Leonhard Hugger, Fabio Menéndez, Steffen Reuber, Rupert J. Seidel, Gabriella Weber.
"Jemand ohne Uniform": Text und Regie: Christine Umpfenbach, Dramaturgie: Dijana Brnic, Philine Kleeberg, Kostüm: Mona Kuschel, Bühne: Ramallah Sara Aubrecht, Video: Anton Kaun, Chor: Gijs Burger, Thorsten Töpp, Mit: Eda Aliji/Sham Mousa, Anya Dudkina, Inge Ketzer, Jasmina Music, Suhair Amal Omran, Berit Vander.
"Nicht gern allein": Choreographie in Zusammenarbeit mit dem Ensemble und Konzept: Rafaële Giovanola, Komposition: Jörg Ritzenhoff, Bühne: Ramallah Sara Aubrecht, Kostüm: Fa-Hsuan Chen, Von und mit: Léonce Noah Konan, Jonathan Sanchez, Silvia Ehnis Pérez Duarte, Maria Mercedes Flores Mujica, Wisam Aftah, Abdulrazak Balksh, Alaa Nema, Maryam Nema, Olena Polianska.
Premiere am 14. Oktober 2022
Dauer: 3 Stunden, keine Pause

 www.vier.ruhr


Kritikenrundschau

"Ein Experiment, das gelungen ist, ein gutes Beispiel für fruchtbare Kooperation von mehreren Kulturinstitutionen in einer Stadt", schreibt Andrea Müller in der WAZ (online am 15. Oktober 2022), "auch wenn es zwischendrin im abwechslungsreichen Theatermarathon doch zähe Minuten gibt oder mancher Regieeinfall sich nicht erschließt."

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