Zwei Männer und ihre Egos

16. Oktober 2022. Was weiß der Wende-Verlierer über den Filmstar im selben Haus? Und lassen sich diese Informationen nutzen? Vergangenes Jahr kam "Nebenan" in die Kinos. Jetzt hat Martin Kušej das Drehbuch von Daniel Kehlmann für die Bühne adaptiert – und es als Kneipenduell in höchst realistischem Setting inszeniert.

Von Andrea Heinz

"Nebenan" am Burgtheater Wien © Matthias Horn

16. Oktober 2022. Der Herr am Nebensitz ist ganz außer sich. Daniel Kehlmann. Daniel Brühl. OMG! Er macht gleich eine ganze Fotoserie, zuhause kann er sich daraus ein Daumenkino basteln. Prominenz, das ist die Grundannahme von "Nebenan", ist, zusammen mit Wohlstand und (beruflichem wie privatem) Erfolg per se beneidenswert für die armen Tröpfe, die all das nicht haben.

Voriges Jahr kam der Film heraus, das Drehbuch schrieb Kehlmann. Brühl führte nicht nur Regie, sondern gab auch (ganz wichtig immer: selbstironisch!) sein Alter Ego, einen brutal erfolgreichen Filmschauspieler, der mit Ehefrau und Nanny-behüteten Kindern in einer Eigentums-Dachgeschosswohnung lebt, sprich: Alles hat! Dass der Nachbar, ein Wende-Verlierer, der in einer Zwei-Zimmer-Wohnung haust, die ihm nicht mal gehört, so einen beneiden und hassen muss, versteht sich natürlich von selbst. Vom nach wie vor existierenden Ost-West-Gefälle in Deutschland, der Gentrifizierung, dem Nebeneinander von unverschämt geglückten und gescheiterten Leben, davon wollte "Nebenan" erzählen.

In Wien ist jetzt Gentrifizierung nicht dasselbe Thema wie in Berlin (was nicht heißt, dass es kein Thema wäre), Ossis und Wessis gibt es hier auch nicht, nichtsdestoweniger war Martin Kušej offenbar an einer Theaterfassung des Stoffs interessiert, die er nun selbst zur Uraufführung brachte. Die Bühne gibt dabei gleich schon die Richtung vor: Es ist eine hyperrealistische deutsche Kneipe, viel Holz überall, ein Tastentelefon an der Wand, eine Dartscheibe, Postkarten mit Rex Gildo (oder war’s Roy Black?) drauf und hinterm Tresen mehr Pokale im Regal als Schnapsflaschen.

So sehen Eckkneipenwirtinnen aus

Man merkt schon: Diese Kneipe tut so, als wäre sie real, aber sie ist es nicht. Wieso sonst würde dort eine Frau als Wirtin auftreten (Katharina Pichler), die transparente Plateau-High-Heel-Stiefel trägt und mit ihren bis tief ins Dekolleté reichenden Tattoos aussieht wie eine linksalternative Puff-Mutter? Klar, Kenner wissen: So sehen die halt aus, die Eckkneipenwirtinnen in Berlin-Mitte. Zu Beginn putzt sie noch mal schnell das Klo und streckt ihr von einem Lederrock umspanntes Gesäß in den Zuschauerraum, dann aber passiert erst mal nichts.

Bis auf den klassisch in Jeansjacke und deutschen Nicht-Farben (Beige!) gekleideten Verschwörungstheoretiker (Stefan Wieland) an der Bar ist nicht viel los, es liegt eine bleierne Müdigkeit über der Kneipe. Spoiler-Alarm: Das wird auch so bleiben. Man wartet immer und wartet, dass es jetzt endlich passiert. Aber es kommt nicht. Der ganze Abend ist irgendwie – beige.

Nebenan 3 Matthias Horn uSo geht's in (Ost-)Berliner Kneipen zu: Stefan Wieland, Norman Hacker, Katharina Pichler, Florian Teichtmeister © Matthias Horn

Zwar taucht irgendwann Bruno auf (Norman Hacker), der abgehängte Wende-Verlierer mit der Anglerweste aus Lederimitat, der hier Stammgast ist. Und wenig später Florian, gespielt von Florian Teichtmeister, der statt Daniel Brühl den selbstironischen Schauspieler-Alter-Ego-Part übernimmt. Er trägt Turnschuhe zum Anzug, ist aber kein Minister am Weg zur Angelobung, sondern Schauspieler am Weg zum Casting nach London, für eine cheesy Superhelden-Rolle, die aber richtig Kohle bringt. Ein Fan kommt herein (Elisa Plüss), signalroter Overall, rote Brillengläser, Bowie-blonde Haare, und will dringend ein Autogramm. Offenbar sind alle Frauen in Berlin exaltiert und seltsam gekleidet.

Schneller, höher, weiter

Und jetzt kommt es dann schön langsam zum Showdown, zwischen dem Verlierer und dem (zugereisten! Aus Österreich!) Emporkömmling, im wörtlichen Sinne, weil er nämlich im ausgebauten Dachgeschoss wohnt, aus dem der Vater von Bruno mit fiesesten Immobilienspekulanten-Methoden hinausgegraust wurde. Nur: Um die Wende, Brunos Haft in Hohenschönhausen, um die Gentrifizierung, um all das geht es gar nicht wirklich. Es geht um zwei Männer und ihre Egos. Bruno hat sich einen völlig abstrusen Racheplan überlegt, er will Florian vernichten, wobei man nicht genau weiß, weshalb nun eigentlich. Wegen der Wohnung? Oder weil Florian und seine Frau immer so blöd lachen und er, Bruno, das mitanhören muss? Vermutlich letzteres.

Bruno hat jedenfalls einiges herausgefunden: Florian wird von seiner Frau betrogen, bezahlt jedoch seinerseits eine ukrainische Sexarbeiterin, die ihrerseits von ihrem Mann misshandelt wurde, und er hatte am Set was mit einer 16-jährigen, aber um diese Frauen geht es natürlich auch nicht wirklich, sie sind in diesem seltsamen Wettbewerb nur Spielkarten, um zu zeigen, wer von beiden der Bessere ist. Nur in was? Es geht auch nicht um die abgehängten Figuren, den Obdachlosen mit seinen tausend Taschen, den migrantischen Taxifahrer oder den trockenen Alkoholiker mit Sauerstoffgerät und Fatsuit (Arthur Klemt), die wie Witzfiguren durch die Kneipe getrieben werden. (Und tatsächlich viele Lacher abbekommen, nur wofür? Dass der Obdachlose keine Wohnung hat und deshalb in der Kneipe aufs Klo gehen muss?)

Am Ende fließt Blut

Es ist wie mit den Tränen, die Florian Teichtmeister als Florian spielt, zu spielen, bis es gar keine Tränen mehr sind, sondern einfach nur noch egal. Diese ganzen hohlen Behauptungen von Wahrheit (angefangen bei jener arroganten, dass dieser Filmschauspieler in seinem Dachgeschoss ein so unbedingt beneidenswertes Leben führen würde – warum eigentlich?) führen dazu, dass der Abend sich unglaublich zäh und ermüdend dahinzieht.

So etwas wie Dynamik, zu schweigen von Spannung, kommt nie wirklich auf, einfach, weil man überhaupt nicht weiß, was eine:n das jetzt angehen sollte. Woran auch Hacker und Teichtmeister nichts ändern können, die sich redlich bemühen. Vor allem Hacker muss man hervor heben, der es schafft, diesen gemeingefährlichen Bruno mit seinem einnehmenden Spiel zu einem Sympathieträger zu machen. Beiden bleibt jedoch nicht viel Spielraum bei Figuren, die so wenig Eigenleben haben, so auf ihre Antagonisten-Rollen zugeschnitten sind. Am Ende gibt es dann noch eine Kneipenschlägerei, Bruno blutet. Ist aber auch schon egal.

 

Nebenan
von Daniel Kehlmann
Regie: Martin Kušej, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Justina Klimczyk, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Florian Teichtmeister, Norman Hacker, Katharina Pichler, Elisa Plüss, Stefan Wieland, Arthur Klemt.
Uraufführung am 15. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

Atmosphärisch lässt sich die Inszenierung an wie einer dieser alten Marthaler-Abende, an denen die Gaststube zum magischen Ort werde, schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (online 16.10.2022) und merkt gleich an: Die Übersetzung auf die Bühne habe dem Stoff nicht unbedingt gut getan. "Stärker als im Film treten die Schwächen des Textes, das allzu Konstruierte und Ausbuchstabierte, zutage". Erstaunlich auch, dass Martin Kušej persönlich Regie führe. "Erstens, weil man gar nicht merkt, dass das eine Kušej-Inszenierung ist; nie war der Regisseur unsichtbarer als diesmal. Und zweitens, weil eine Filmadaption wie diese eigentlich Kušejs eigenen Prinzipien widerspricht."

"Die Intrige trägt das Stück kaum eine Stunde lang", schreibt Ronald Pohl im Standard (online 16.10.2022). "Nebenan" sei nichts anderes als die Zweitverwertung des von Daniel Kehlmann im Verein mit Schauspieler Daniel Brühl hergestellten Films. "Zusehends unruhig werdend fragt man sich, was dieses (rasch durchschaute) Kammerspiel auf der Burgtheaterbühne eigentlich verloren hat." Die Handlung spiele in einer Eckkneipe, aber "die Burg-Bühne ist ein Wunderwerk der Technik. Auf ihr ließe sich der Alexanderplatz samt nahem Fernsehturm nachbauen."

Der Film "Nebenan" auf der Bühne, das sei keine so gute Idee, schreibt auch Thomas Götz in der Kleinen Zeitung (online 16.10.2022). Der Wessi ist jetzt ein Ösi. Weitere Einwienerungen, "die der Regisseur und Auftraggeber Martin Kušej sich gewünscht hatte, verweigerte Kehlmann, wie er im Programmheft verrät. Auch diese eine schon verringert die Logik des Dramas." Die historische Tiefendimension gehe in Wien nun verloren, auch "weil die deutsche Wiedervereinigung allenfalls als ferne Erinnerung präsent ist, nicht als ständige Begleitmelodie ihres Lebensalltags." Was bleibt, sei feines Schauspielertheater, das im kleinen Akademietheater wohl besser zur Geltung käme als in der Burg. 

Was Benjamin Loy von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.10.2022) "an diesem netten und zugleich arg artifiziell angelegten Duell zweier ungleicher Gegner nervt, ist der in Handlungsrahmen und Programmheft gleichermaßen penetrant vorgetragene Versuch, dieses gefällige Geplänkel zu einem großen Gentrifizierungs- und Sozialdrama hochzujazzen." Konträr zum "Authentizitätsfuror steht allerdings die in Rede und Darstellung vielfach zwischen grotesker Überzeichnung und vollkommener Unglaubwürdigkeit schwankende Kneipengemeinschaft."

Kommentare  
Nebenan, Burgtheater Wien: super Abend
Das langweiligste von allem ist diese Kritik.
Der Abend dagegen eine kurze wirklich spannende Reise und vor allem gefolgt von einem riesengroßen und langen Applaus. Den hier zu erwähnen wäre natürlich viel zu anstrengend. Das Publikum ist euch ja eh Wurscht. Seit Jahren. Warum seid ihr alle immer so bemüht gelangweilt? Dann lasst es doch denen, die Freude am Theater haben. Soo traurig. Wirklich.
Und: Dass Sie die Frauen als Spielkarten bezeichnen ist hart. Das sagt doch mehr über Ihre festgefahrenen Rollenbilder… also wirklich.
Ein super Abend. Nicht perfekt, zum Glück nicht.
Danke
Nebenan, Wien: Tomatensuppe
Die Welt bebt und im Burgtheater spielen sie eine Nachbarschaftskomödie, im Deutschen Theater "Minna von Barnhelm". Dann doch lieber Tomatensuppe.
Nebenan, Wien: Wunderbar
Wunderbare Premiere, großartige Schauspieler/innen.Tolle Regie,vom Publikum gefeiert und heftig applaudiert. Empfehlenswert, anschauen unbedingte
Nebenan, Wien: Unfreiwillig komisch
Der Abend ist nicht wirklich im Jahre 2022 und vom "Boss" des Hauses so rausgekommen , oder ? Ich habe fühlte mich wie in einer Theaterzeitmaschine , die mich ästhetisch 70 Jahre zurückschießt. Wenigstens gab es aus dem Repertoire der unfreiwilligen Komik einiges zu geniessen. (...)
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