Ich liebe mich!

16. Oktober 2022. Oscar Wildes Dandy Dorian Gray ist bis heute Sinnbild für den modernen, über Leichen gehenden Hedonismus. Die israelische Choreografin Saar Magal inszeniert in dem Crossover-Projekt "Love me more" frei nach Wilde die Spielarten der Selbstverliebtheit. Zum Gefallen der Kritikerin.

Von Karin Yeşilada

Selbstbildnisse frei nach Oscar Wilde: Saar Magals "Love Me More" am Schauspiel Köln © Birgit Hupfeld

16. Oktober 2022. Seit der Antike (be-)geistert der tragisch selbstverliebte Narziss durch die Literaturgeschichte. Aber erst Oscar Wilde verlieh mit seinem Roman "The Picture of Dorian Gray" dem Stoff neues Grauen, verkauft darin der naive Jüngling Dorian doch dem Teufel seine Seele, um ewige Jugend zu erhalten, und verkommt danach so übel, dass nur noch der Tod ihn erlöst. Ursprünglich auf die dekadente englische Adelsgesellschaft gemünzt (die sich bitter am irischen Autor rächte), ist der Roman seither Sinnbild für den modernen, über Leichen gehenden Hedonismus.

Dorian Gray könnte auch ein Zeitgenosse sein, Typ skrupelloser Börsenbroker aka American Psycho oder Wolf of Wallstreet. So jedenfalls konzipieren ihn Dramaturgin Lea Goebel vom Schauspiel Köln und die israelische Choreografin Saar Magal: Der selbstzentrierte, korrumpierte Narziss im Zeitalter von Hyperkapitalismus und entfesseltem Turbo-Neoliberalismus feiert Exzesse an der Börse und im Fitnessstudio, mordet im Drogenrausch oder nach Wild-West-Manier. Das klingt im Großen und Ganzen sinnig. Vor allem aber entstand in Zusammenarbeit mit dem Ensemble ein spannendes, hervorragend getanztes Crossover-Projekt.

Selbstliebe und Lebenslust

Im Prolog variieren zwei nackte Körper – Mann und Frau – den biblischen Sündenfall, liegen ausgespreizt, winden sich am Boden und flüstern in die Fußbodenmikros. Ihre spinnenkrakelig verzerrten Bewegungen auf der spiegelnden schwarzen, den Bühnenboden bedeckenden Folie bilden bereits das Narrativ des Abends, der sich mit Körperlichkeit und Optimierungswahn beschäftigen wird. Während die Nacktheit anfangs Unschuld verkörpert (Dorian Gray begann als naives Aktmodell, bevor er von Lord Henry verdorben wurde), wird sie später als Selbstentblößung, Selbstdarbietung, bis hin zur Prostitution besetzt werden.

LoveMe5 BirgitHupfeldNach dem Sündenfall: "Love me More" an Schauspiel Köln © Birgit Hupfeld

Wo es Kleider gibt, leuchten sie in Blutrot oder Königsblau, dazu goldene Schuhe oder weiße Cowboystiefel und -hüte, was zusammen mit der getanzten Bewegung viel Lebensenergie weckt. Und die entlädt sich neben wunderbaren Tanzchoreografien auch sportlich an Recks, Ringen und Rudergeräten oder, zu Beginn und eindrucksvoll: an 17 aufgehängten Boxsäcken (Bühne und Kostüme: Slavna Martinovic).

Die Boxsäcke versprechen schon zu Beginn einen von drei großartigen Momenten der Inszenierung: Zuerst schreiten die neun Ensemblemitglieder, allesamt in roten, hautengen Samtroben mit langen Handschuhen, barfuß und lasziv vom im Hintergrund aufgebauten Podest zur Bühne, intonieren dort atmend und sich wiegend den Background zur Verführung durch Lord Henry und konterkarieren Dorians Verwandlung (in immer wieder neuen Zuckungen und Roboterbewegungen: Mason Manning). Kaum ist die Seele verkauft, geht's los mit dem exzessiven Leben: Die Tänzer*innen rennen nun zwischen den Boxsäcken umher, schlagen auf sie ein, schleudern und katapultieren sie aufeinander, weichen ihnen aus, stürzen hin, wälzen sich, rennen wieder los, das alles in irrem Tempo (Choreografie: Magal, Ballettmeisterin Julia Kraus), von Donnergetöse untermalt (Julian Stetter) und feuerfarben ausgeleuchtet (Jürgen Kapitein) – einfach atemberaubend. Als anschließend die Boxsäcke abgehängt werden, hängt sich Breeanne Saxton ans Gerüst, tanzt daran ganz wunderbare Battements, die seelische Freiheit ausdrücken, während Rebecca Lindauer anschließend witzig auf einem am Boden rollenden Boxsack tippelt und von der Leistungsgesellschaft schwafelt.

Narzisstische Verführungskünste

Dorians Porträt als Narziss ist ein weiterer, intelligenter Moment des Sprechtheaters. Auf der zum Fitnessstudio umgewandelten Bühne präsentiert sich Alexander Angeletta ebenso jovial wie selbstverliebt in der Selbstbeschreibung: Zu sieben Sprachen, einem Einser-Abi und der Entscheidung, "trotzdem" Schauspieler zu werden, kommt die sehr detailgenaue Körperbeschau vom Scheitel bis zur Sohle, vom Bizeps bis – die Kleider fallen – zum "langen Schwanz", und zurück zu den "italienischen Augen – bitte verlieben Sie sich nicht darin", mit denen er das sehr angetane Publikum immer im Blick behält und um den kleinen Finger wickelt: "Ich liebe mich!" Oh ja, wir ihn auch. Ganz große Verführungskunst.

Danach mäandert die Inszenierung etwas dahin, der moralische Verfall Dorians (zwischenzeitlich gesprochen von Yuri Englert) als korrumpierter Börsenfuzzi oder Cowboy bringt aber klasse choreografierte Szenen (horizontales Mountain-Climbing in Goldschuhen und Wildwest-Steptanz in Cowboystiefeln) bis zum letztendlichen, vom Bühnenpodest in den dahinterliegenden Abgrund gesprungenen Selbstmord aller neun Dorians.

On Stage, I'm a Natural

Ein Glanzpunkt in dieser Reihe ist die Wilde'sche Sibyl-Figur, ursprünglich eine tragisch gescheiterte Schauspielerin und hier eine erfolgreiche Table-Dancerin, die von der Mutter zwar als Kind schon prostituiert wurde, sich aber die Deutungshoheit bewahrt: "On Stage, I'm a Natural" (etwa ab der Hälfte wird der Text auf Englisch gesprochen). Wie Jemima Rose Dean das an der Poledance-Stange zu romantischer Chormusik akrobatisch-geschmeidig tanzt und spricht, bekommt verdienten Szenenapplaus. Am Ende geben alle – wieder in den roten Kleidern und am Bass begleitet von Breeanne Saxton – den titelgebenden Song "Love Me More".

Sollen wir den Narzissten, diese Ausgeburt des Turbokapitalismus also wirklich lieben? Nein danke. Das Ensemble vom Schauspiel Köln aber schon. Magals Crossover macht Lust auf mehr davon.

 

Love Me More
Ein Crossover-Projekt, frei nach Oscar Wildes "The Picture of Dorian Gray"
Regie und Choreografie: Saar Magal (Choreografie in Zusammenarbeit mit dem Ensemble), Konzept und Bühne: Saar Magal, Dramaturgie: Lea Göbel, Licht: Jürgen Kapitein, Ton: Komposition und musikalische Leitung: Julian Stetter, Bühne und Kostüme: Slavna Martinovic, Ballettmeisterin: Julia Kraus, Videodesign: Julian Pache.
Mit: Alexander Angeletta, Campbell Caspary, Jemima Rose Dean, Yuri Englert, Benjamin Höppner, Rebecca Lindauer, Mason Manning, Claudia Ortiz Arraiza, Breeanne Saxton.
Premiere am 15. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel.koeln

Kritikenrundschau

Saar Magal entfache in ihrem Crossover-Projekt "einen Rausch der Bilder im Zeitalter der Handy-Selfieness", schreibt Susanne Schramm in der Kölnischen Rundschau (17.10.2022). Dabei sorge das Ensemble für "großes Kino".

Wo Liebe nur ein Wort sei, habe alles seinen Nutz- und Tauschwert – das zeige Saar Magal in ihrem Cross-over-Projekt, so Michael Kohler im Kölner Stadtanzeiger (17.10.2022). Allerdings sei die Botschaft nach zehn Minuten klar. "Mag ja sein, dass der selbstoptimierte Narziss der neuste Trick des Kapitalismus und Selbstliebe eine Form von Selbstausbeutung ist. Aber wird man ihm mit lauter Abziehbildern gerecht?"

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Love me more, Köln: Bunt-schillernde Revue
„Love me more“ surft kurzweilig um das Phänomen des Narzissmus. Das Konzept aus viel Tanz und Musik, etwas Comedy und Theater erinnert an den Stil von Constanza Macras und sorgt für eine bunt-schillernde Revue.

Im Zentrum des Ensembles aus Tänzer*innen und Schauspieler*innen steht Alexander Angeletta mit einem großen Solo. Er flirtet mit dem Publikum, preist selbstverliebt seine Vorzüge an: seine italienischen Augen, seine Sprachkenntnisse (sieben Fremdsprachen!), sein 1er-Abi (natürlich nicht in NRW, sondern in Bayern!), nur die Brust könnte etwas trainierter sein, räumt er kokett ein.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/03/17/love-me-more-schauspiel-koln-kritik/
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