Triumph des Blutwurst-Komödianten

21. Oktober 2022. In einem miserablen Kaff ist er gelandet, der Theatermacher, auf seiner Tournee, die doch so glanzvoll gedacht ist. Mit einer Weltkomödie im Gepäck und der Familie als Schauspiel-Ballast. Thomas Bernhards legendärer Theaterwelt-Wutschwall wird am Berliner Ensemble bei Oliver Reese zum spektakulären Solo für Stefanie Reinsperger.

Von Janis El-Bira

"Der Theatermacher" mit Stefanie Reinsperger am Berliner Ensemble © Matthias Horn

21. Oktober 2022. Verkommen! Das ist das richtige Wort. In Thomas Bernhards "Theatermacher" fällt es nach ein paar Seiten, im Berliner Ensemble drängt es sich schon beim Öffnen des Vorhangs auf. Nein, das ist kein Gasthof-Tanzsaal, so schäbig ihn der Autor auch ausgemalt haben mag – das ist bloß noch eine groß geratene Rumpelkammer, was Bühnenbildner Hansjörg Hartung hier gebaut hat. Die Fenster blind und der Boden morsch, hinten gammeln die Überbleibsel von Schützenfesten und Dartabenden, vorne erhebt sich eine mickrige Theaterrampe, die den Begriff ganz wörtlich nimmt. Hier soll also am Abend die große Menschheitskomödie des Staatsschauspielers Bruscon zur Aufführung kommen? Ein Missverständnis? Falsche Adresse?

Stefanie Reinsperger als Kunstterrorist

Keineswegs. Denn verkommener noch als der verhasste Tournee-Spielort im ebenso verhassten 200-Seelen-Kaff Utzbach ist der Mann, der fortan den Kunstterror entfesselt. Da bedeutet es auch keinen Unterschied, dass dieser nun von einer Frau gespielt wird, weil Regisseur und Intendant Oliver Reese seinen "Theatermacher" als Quasi-Solo für die BE-Starschauspielerin Stefanie Reinsperger angelegt hat. Das Billa-Sackerl in der Hand, den abgetragenen Schlabber-Trench über den Schultern ist Reinsperger das Zentralgestirn und -ereignis dieser Aufführung. Die Umstehenden – der kauzige Wirt von Wolfgang Michael, Christine Schönfeld als Bruscons dauerhustende Gattin, Dana Herfurth und Adrian Grünewald als dessen Kinder – sie alle sind schon bei Bernhard vor allem Stichwortgeber, an diesem Abend aber bleiben sie fast stumm angesichts des tobenden Narzisses in ihrer Mitte.

Mit Volldampf-Virtuosität

Reinspergers Theatermacher ist kein Nörgler, kein tragisch an der Kunst Gescheiterter, sondern ein schnaufender, prustender Unhold unter letalem Bluthochdruck. Ihr Spiel gleicht einem gut zweistündigen Crescendo-Lauf, bei dem man spätestens dann, wenn sie anfallsartig den zuvor als Bühnenmitte geheiligten Campingtisch zerdeppert, weiß, dass hier ein waschechter Psychopath die Kunst bloß als Maske trägt. Ein Untergeher, der alle mitreißt in eine dampfende Frittatensuppe, deren Fettaugen ihn würgen lassen. Ein armes Blutwürstchen aber auch, das nebenher Toilettenpapierrollen vom Stapel klaut und schluchzt und greint, wenn es an die angeblich glorreiche Theatervergangenheit, vor allem aber an den Ort der letzten Triumphe denkt: Gaspoltshofen. Wie Reinsperger das immer wieder sagt, Gaspoltshofen, als sei's New York oder besser noch Wien, das transportiert die ganze Kümmerlichkeit des Uneinsichtigen in einem einzigen Wort. Man steht erschlagen vor dieser Volldampf-Virtuosität, diesem achterbahnfahrenden Schauspiel-Superlativismus, der noch jeden Satz, jede kleine Geste steigen und stürzen lässt, der überall und alles zugleich sein kann.

Theatermacher1 805 Matthias Horn uBruscons Schauspielfamilie: Adrian Grünewald, Christine Schönfeld, Stefanie Reinsperger und Dana Herfurth kostümiert als Geschichtsgrößen vom Schlage Napoleons, die Bruscons Komödie bevölkern © Matthias Horn

Die Kehrseite dieses atemberaubenden Spiels ist die Macht, mit der es sich seine Figuren unterwirft. Gibt es im Granteln des Bernhard-Theatermachers nicht auch einen Moment des authentischen Leidens am selbstgesteckten Maßstab der Kunstproduktion? Ist es wirklich nur lächerlich, wenn er einen Satz sagt wie den, dass er die Liebe zum Alkohol aufgegeben habe für die Liebe zum Theater? Dass man sich unter den Süchten also entscheiden muss, mit welcher man in den Tod gehen will, weil sie sich gegenseitig ausschließen? An diesem Abend erscheint das alles eher fratzenhaft, auch wenn es zahllose Fratzen sein mögen. Das Drücken echter Schmerzpunkte liegt so vor allem bei den Zuspielenden: Wenn Bruscon seiner Tochter den Arm auf den Rücken dreht, bleibt Dana Herfurth lange gekrümmt am Bühnenrand stehen. Wenn er dem Sohn Ferruccio einen Wasserkrug in den Schritt kippt, macht Adrian Grünewald aus wenig Spiel viel greifbare Beschämung.

Ein geborener Theater-Fallensteller

Diese Momente hallen nach wie die lamentohafte Wiederholung eines Mozart-Requiem-Samples durch die Live-Musiker. Im Karacho des Abends werden sie gleichwohl schnell mitgespült. Trotzdem kann man sie auch in einer Inszenierung, die sonst ganz gegenwartslos daherkommt, als Hinweise auf einen Theateralltag lesen, in dem Typen wie der Theatermacher und Übergriffe bis hin zum Körperlichen tatsächlich existieren. Und auch das berühmte Notlicht, das Bruscon und Thomas Bernhard im Sinne der Kunstanstrengung ausschalten lassen wollten, bleibt am Ende als böser Triumph des betrieblich Zweckhaften brennen. Unmittelbar zuvor, da liegt alles schon in Schutt, hatte Reinspergers Theatermacher noch einmal angesetzt zum Weiterspielen, Weiterwüten. In seiner Vergeblichkeit ist das, sekundenkurz, vielleicht der Moment, in dem man dieser Figur am nächsten kommt. Ein geborener Theater-Fallensteller, der sich selbst die grausamste gelegt hat.

Der Theatermacher
von Thomas Bernhard
Regie: Oliver Reese, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüm: Elina Schnizler, Musik: Jörg Gollasch, Live-Musik: Valentin Butt, Peer Neumann, Natalie Plöger, Ralf Schwarz, Licht: Steffen Heinke, Dramaturgie: Johannes Nölting.
Mit: Stefanie Reinsperger, Christine Schönfeld, Dana Herfurth, Adrian Grünewald, Wolfgang Michael.
Premiere am 20. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de


Kritikenrundschau

"Die Tatsache, dass eine Frau das Riesenekel spielt, mit feinem Sinn fürs Grobe, macht das Monster fast wieder sympathisch. So dass man nicht mehr vor ihm Angst haben muss, sondern vielmehr für es fürchtet, das große Kind", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (online am 21.10.2022). "Reinsperger gibt all ihre unglaubliche Kraft für ein Theater von gestern. Damals aber – das ist klar wie Frittatensuppe – wurde noch Komödie gespielt. Und dahin geht das Sehnen. Bloß nicht immer so bitter und ernst!" "Bemerkenswert" fand Schaper außerdem Wolfgang Michael als Wirt: "Er schaut den Wüterich mit seinem Welttheaterwahn wie einen Außerirdischen an. Auf seinem großen, stoischen Gesicht stehen Neugier und Abscheu zugleich, ebenso Schadenfreude und ein Anflug von Mitgefühl für die Kreatur, die sich für ein Genie hält."

Als "werkgetreu" beschreibt Peter Laudenbach die Inszenierung in der Süddeutschen Zeitung (online am 21.10.2022). "Dass der Theatermacher und Theatermacker hier von einer Schauspielerin dargestellt wird, ist kein Gendertheorie-Ausrufezeichen, auch keine irgendwie ironische Brechung, sondern einfach ein Spiel. Nach etwa zwei Minuten denkt man über Reinspergers Geschlechtertausch nicht mehr nach. Eine tolle Schauspielerin kann alles spielen, auch einen Scheißkerl."

Stefanie Reinsperger, "zweifellos ein solitäres Kraftzentrum unter den Schauspielern ihrer Generation', könne "hier endlich einmal ihre ganze Palette diffiziler Menschendarstellung zum Besten" geben, schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (21.10.2022). Über dieses Schauspielerfest hinaus wisse Regisseur Reese nicht viel mehr anzufangen mit dem Text, und das mache den Abend "doch schnell fad und zäh". Alles an dieser "unfassbar biederen Inszenierung" wirke wie im Peymann-Theater, so Meierhenrich. "Nur eine macht den Unterschied. Das hilft."

Thomas Bernhard sei ein Theaterautor von ungeheuerer Komik, aber sein vor knapp 40 Jahren entstandenes Stück kratze dennoch an Fragen, die man ernsthaft diskutieren sollte, schreibt Erik Zielke im Neuen Deutschland (21.10.2022). Doch "der überdauernde, in der Gesellschaft festgesetzte Faschismus" in Bernhards Text sei an diesem Abend "ein Witzlein unter anderen", so Zielke. "Man lacht hier über Hitler-Porträts wie man über Slapstick-Einlagen lacht." Auch Bernhards Humor leide, unter einem ohne Rhythmus vorgetragenen Sprachfluss. Nebenfiguren müssten Knallchargen darstellen, damit Stefanie Reinsperger besonders glänzen könne. "Und selbst der Klamauk windet sich doppelbödig-ironisch um sich selbst. Kritisch will man sein, da scheint es auch nicht vergeblich, wenn die Kritik ins Unbestimmte trifft."

"Stefanie Reinsperger ist eine Wucht", so Oliver Kranz auf rbbKultur (21.10.2022). Doch die Inszenierung habe auch Längen. "Bruscon ist zu sehr das abgewrackte Ekel. Seine Faszination und Verführungskraft werden nicht ausreichend spürbar." Man frage sich, warum die anderen Figuren sich seine Gemeinheiten gefallen lassen. "Überhaupt ist Oliver Reese für die Nebenfiguren wenig eingefallen. Sie stehen meist nur da und zeigen mit überdeutlicher Mimik, was sie gerade denken." Trotz dieser Schwächen sei dem Berliner Ensemble eine akzeptable Inszenierung gelungen.

Als "grelle Groteske" inszeniere Oliver Reese das Stück über "den egozentrischen, misogynen, in die Jahre gekommenen Dreckskerl" Bruscon, den "die grandiose, mit allen Registern des robusten Rampenspiels ausgestattete Stefanie Reinsperger" von Beginn an "authentisch unangenehm" spiele, schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.10.2022). Der Kritiker verfolgt ihr expressives Kraftspiel atemlos, ist beeindruckt und mitgerissen, aber spätestens nach einer der zwei Stunden Spieldauer auch "abgestumpft vom immer gleichbleibenden Fortissimo-Ton". Es gebe wenig Nuancen oder Varianten an diesem Abend, und auch für die wenigen anderen melancholischen Noten im Text sei hier kein Platz. Aber die Reinsperger glänze, als "die größte Kraftschauspielerin, die wir im Moment am deutschsprachigen Theater haben".

"Vorerst darf der alte weisse Mann noch einmal aufleben: als Karikatur. Auf der Bühne, ihm wird spöttisch ein Denkmal gesetzt", schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (11.5.2023) in seiner Doppelkritik zu "Theatermacher" mit Stefanie Reinsperger am Berliner Ensemble und "Der Raub der Sabinerinnen" mit Birgit Minichmayr in Wien. "Die Schauspielkunst der beiden Frauen in Männerrolle erweist sich als grossartig." Reinsperger spiele diesen Buscon mit entlarvender Tragikomik. Die Komik, die gar nicht so zum Lachen ist, liege in Oliver Reeses Inszenierung: "in dem Widerspruch und in der Absurdität, dass da eine als Mann verkleidete Frau herumwettert und behauptet, Frauen könnten ja überhaupt nicht Theater spielen." Am Ende sei es aber egal, welchen Geschlechts diese Besessenen sind.

 

Kommentare  
Theatermacher, Berlin: Verdichtung wäre besser
Der Abend ist ganz auf sie zugeschnitten: Stefanie Reinsperger grantelt sich durch die Rolle des Staaaaatschauspielers – wie sie nicht müde wird, zu betonen – Bruscon. Thomas Bernhard beschrieb in seinem 1985 von Claus Peymann uraufgeführten Spätwerk einen – wie man heute sagen würde – alten, weißen Mann der besonders toxischen Sorte.

Der Look der Hauptfigur erinnert an Helmut Qualtinger und seinen Herrn Karl, sie zieht vom Leder, beweihräuchert ihr eigenes Genie und Lebenswerk und verflucht die kleingeistige, von Nazis durchseuchte, österreichische Provinz, die dieses Gottesgeschenk, für das sich Bruscon hält, nicht zu schätzen weiß. In der ersten Stunde versteht es Reinsperger hervorragend die Spannung zu halten. Mit Ensemble-Kollegen Wolfgang Michael hat sie einen ebenso kauzigen wie erfahrenen Stichwortgeber, eine „Anspielwurst“ de luxe, in der Rolle des Wirtes im Kaff Utzbach.

Nach dem ersten Vorhang wird der Abend allmählich redundant. Auch die vom Publikum zurecht bejubelte Virtuosität einer Stefanie Reinsperger reicht nicht, um das Psychogramm eines manischen Künstlers über die komplette Länge von 130 Minuten zu tragen. Es schleichen sich einige Längen ein, die eine vierköpfige Live-Band zu kaschieren versucht. Die Demütigungen der Ehefrau Agathe und der beiden Kinder ähneln sich zu sehr, eine stärkere Verdichtung und Kürzung hätte dem Abend gut getan.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/10/20/der-theatermacher-stefanie-reinsperger-berliner-ensemble-kritik/
Theatermacher, Berlin: Rückkehr der Virtuosin
Die Virtuosin

sind wir zurück im 19. Jahrhundert, als Virtuosen wie Matkowsky durch die Lande zogen, um ihre Kunst zu präsentieren? Die Mitspieler spielten keine Rolle, höchstens als Stichwortgeber. Die Leute kamen, um die Stars zu erleben und die Säle zu füllen. So war das damals, und so scheint es heute wieder zu sein.
Ich fand den Abend sehr sportlich, sehr anstrengend. Auf die Plätze, fertig, los! Keine Spannung, keine Entwicklung, keine Ruhe, keine Besinnung, immer muss irgendwas "gemacht" werden. Kortner nannte das einst "Überrumpelungstheater". Aber die Leute scheinen es zu mögen.
Theatermacher, Berlin: Traugott Buhre
Gedenken wir Traugott Buhre, den ich mehrfach in der Uraufführungs-Inszenierung von Claus Peymann sehen durfte. Danach sah ich’s noch häufiger, z. B. mit Lambert Hamel und Ulrich Wildgruber. Dieser einzigartige Sound eines Buhre in einem kongenialen Bühnenbild, ich erlebte es nie wieder. Buhre war in allem Größenwahn ein zutiefst leidender und verzweifelter Mensch, wobei ihm damals erste Darstellerinnen und Darsteller, u. a. Kirsten Dene, als Stichwortgeber zur Seite standen.
Theatermacher, Berlin: Großartiger Wolfgang Michael
Dürfte ich noch hinzufügen, dass ich Wolfgang Michael in der Rolle des Wirts großartig fand?
Theatermacher, Berlin: Fortissimo und Fluchtgedanken
Ich nicht. 2 Stunden Fluchtgedanken beim Betrachten dieser Abziehbilder auf der Bühne. Stefanie Reinsperger steigt Fortissimo ein, danach kaum ein ruhiger Moment. Die Kolleg:innen als Knallchargen.
Keine Idee, warum man so ein Stück überhaupt noch spielt. Die Altersgruppe der 18-45-jährigen betrifft's eher nicht (s. Reese's Interview zum Kulturmonitor der Bertelsmann-Stiftung).
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