Professor Bernhardi - Theater Freiburg
Im Intrigenstadl
23. Oktober 2022. In Arthur Schnitzlers Klinikdrama "Professor Bernhardi" wird dem Titelhelden der Streit mit einem katholischen Pfarrer um das Schicksal einer sterbenskranken Frau zum Verhängnis. Bernhardi schlittert in kollegiale Ränkespiele und antisemitische Intrigen. In Freiburg haben Amir Reza Koohestani und Mahin Sadri das Schnitzler-Stück neugeschrieben.
Von Jürgen Reuß
23. Oktober 2022. Im grauen Hintergrund der Großen Bühne des Theaters Freiburg zackt eine blaue Pulskurve über der Silhouette einer Patientin im Krankenhausbett. Davor klatschen und tratschen Medizinstudent Hochroitzpointner (Antonis Antoniadis) und Krankenschwester Ludmilla (Laura Friedmann) über die Verhältnisse am Klinikum: So ziemlich alle von der Schwester bis zum Arzt zweigen Morphium ab, es laufen Diagnosewetten (Niere oder Leber), man will sich reinschmuggeln auf den bevorstehenden Empfang von Donatoren und Förderern, von deren Spendenwilligkeit das Haus abhängt. Der übliche Flurfunk.
Auftritt Professor Bernhardi (Henry Meyer). Selbstgefällig zwingt er Ludmilla mit Doublebind-Psychospielchen in die Selbsterniedrigung und wehrt mit gebauchpinselter Eitelkeit die Schmeicheleien wegen der gewonnenen Diagnose-Battle mit seinem Vize (es war die Leber!) ab. Sein Stellvertreter Ebenwald (Martin Hohner) nimmt die Niederlage als fairer Sportsmann. Dann geschieht etwas Unerwartetes. Ein katholischer Pfarrer will einer sterbenden Patientin die letzte Ölung geben, Bernhardi hält das aus medizinischen Gründen für unverantwortlich.
Lehrstück über die Geburt des Populismus
Bis dahin folgt Amir Reza Koohestanis und Mahin Sadris Adaption von Arthur Schnitzlers Drama "Professor Bernhardi" der klassischen Exposition einer Krankenhausserie. Und es verblüfft, wie der Wiener Moderne hier etwas glaubwürdig Heutiges eingehaucht wird, das irgendwo zwischen "Dr. House", "Emergency Room" und "Schwarzwaldklinik" angesiedelt ist – uns sich einem komplexen Stille-Post-Spiel verdankt: von Koohestanis Lektüre des auf Farsi übersetzten Schnitzler, über seine und Sadris Überschreibung auf Farsi, Keyvan Sarreshtehs Übersetzung ins Englische, Chefdramaturg Rüdiger Berings Übersetzung davon ins Deutsche und der deutschen Inszenierung mit Englisch als Regiesprache.
Was in den insgesamt gut zwei Stunden dann vor aufs Notwendigste reduziertem Bühneninventar verhandelt wird, hebt allerdings schnell vom Klinikserienplot ab in ein Lehrstück über die Geburt des Populismus auf der Leiche eines Mädchens. "Professor Bernhardi" ist ein zu tiefst zynisches Stück, dem das Leben einer schwangeren 14-jährigen, die sich beim Versuch selbst abzutreiben eine tödliche Blutvergiftung zuzieht, nur als Sprungbrett in den politischen Intrigenstadl dient. Tatsächlich ist man als Zuschauer ehrlich überrascht, dass sich beim Schlussapplaus eine zusätzliche junge Frau verbeugt. Offenbar hatte in der Bettsilhouette am Anfang wirklich jemand gelegen. Auch die Programmheftdruckenden waren davon wohl so überrascht, dass der Name der Darstellerin nicht genannt wird.
Kurz vor dem Blutrausch
Kurz: Wer in diesem Krankenhaus lebt oder stirbt ist unwichtig. Wichtig sind Ehrenkodex, Karriere, Politik, Opportunismus – das übliche Männerspiel, bei dem tote Frauen höchstens als Fleck auf der weißen Weste betrauert werden. Die Freiburger Inszenierung schmuggelt zwar Dr. Löwenstein als weibliche Ärztin ein, aber die lässt man Anja Schweitzer so verkokst-hysterisch anlegen, als wolle man dem Patriarchat recht geben, weibliches Personal lieber nicht mit an Bord zu lassen.
Vermutlich hat Schnitzler 1912 schon geahnt, dass eine auf solchen Maximen aufgebaute Gesellschaft auf einen irrsinnigen Blutrausch zutaumeln könnte. Das Programmheft informiert ausführlich über den Existenzkampf von und den antisemitischen Hass auf die von Schnitzlers Vater aufgebaute Poliklinik. Da ist der vom geltenden Moralkorsett verursachte Tod eines Mädchens als Vorbote einer kommenden viel größeren Auslöschung plausibel.
Professor Bernhardi (Henry Meyer, links vorn) und sein Kollegium (v.l. Martin Hohner, Anja Schweitzer, Michael Witte, Antonis Antoniadis) im Bühnenbild von Éric Soyer © Britt Schilling
Und heute? Der von Henry Meyer angenehm zurückhaltend gespielte Bernhardi weiß im Grunde selber, dass er sich in eine unhaltbare Position reingedickkopft hat, weil ihm die moralische Pseudoüberlegenheit über das unmoralische Angebot seines christlichen Vize, das Krankenhaus durch einen politischen Kuhhandel reinzuwaschen, wichtiger ist als das Überleben seiner Klinik. Philosophische oder theologische Diskurse sind im Grunde Blabla, was zählt ist politischer Instinkt, mit dem Gesundheitsminister Flint (Holger Kunkel) in überdimensionaler Facetime-Einspielung bezirzen und Bernhardi in seine potenzielle Nachfolge missionieren darf.
Schwacher Puls
Das ist irgendwie alles nachvollziehbar, bleibt auf der Bühne aber doch seltsam blutleeres Geplänkel. Schnitzler mag die existenzielle Bedrohung motiviert haben. Für's heutige Publikum stellt sich das Gefühl ein, dass das eigentlich Existenzielle zusammen mit der Pulskurve des unsichtbaren Mädchens verschwunden ist. Was bleibt, ist Chefarztgehubere und Postenschacher. Dem hätte mehr Screwball-Schulung gutgetan, damit man sich's wirklich gern anschaut. So bleibt beim kräftigen Applaus des okay-besuchten Hauses der kurze kathartische Hammerschlag, dass da tatsächlich ein Mädchen in der Bettsilhouette gelegen hat. Was muss die wohl über das vor ihr ablaufende Bühnengeschehen gedacht haben?
Professor Bernhardi
von Amir Reza Koohestani und Mahin Sadri nach Arthur Schnitzler
Übersetzungen von Keyvan Sarreshteh und Rüdiger Bering
Regie: Amir Reza Koohestani, Bühnenbild und Lichtdesign: Éric Soyer, Mitarbeit Bühne: Marie Hervé, Kostüme: Natasha Jenkins, Musik: Santiago Blaum Video: Benjamin Krieg, Phillip Hohenwarter, Yasi Moradi, Dramaturgie: Laura Ellersdorfer, Rüdiger Bering.
Mit: Antonis Antoniadis, Thieß Brammer, Victor Calero, Laura Friedmann, Martin Hohner, Holger Kunkel, Henry Meyer, Moritz Peschke, Anja Schweitzer, Hartmut Stanke, Michael Witte.
Premiere am 22. Oktober 2022
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
www.theater.freiburg.de
Kritikenrundschau
Heidi Ossenberg schreibt in der Badischen Zeitung (24.10.2022). "Henry Meyer in der Rolle des Bernhardi macht das ausgezeichnet ausgewogen und überspielt nie an diesem Premierenabend. Auch Martin Hohne überzeugt als Bernhardis Stellvertreter. Dieser Ebenwald ist ein geschickt lavierender Antisemit, der ein Gespür für das richtige Timing seiner Intrigen hat – und passgenau zuschlägt." Und weiter: "Hier werden Populismus und Zynismus allein mit sorgsam gesetzten Worten verhandelt – und man muss höllisch aufpassen und genau zuhören, um alle Nuancen mitzubekommen. Dann aber lohnt es sich und man geht mit viel Stoff zum Nachdenken nach Hause."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 29. März 2023 Die Auswahl für das 10. Schweizer Theatertreffen
- 29. März 2023 Schauspieler Robert Gallinowski verstorben
- 28. März 2023 Wolfgang Schivelbusch gestorben
- 23. März 2023 NRW: Studie über Wünsche und Erwartungen an Theater
- 23. März 2023 Preis der Leipziger Buchmesse: die Nominierten 2023
- 23. März 2023 Dieter Hallervorden erhält Preis des Berliner Theaterclubs
- 21. März 2023 Die Auswahl der Mülheimer Theatertage 2023