Welche Heldin?

6. November 2022. Anne Weber wurde für ihren biografischen Versmaß-Roman "Annette, ein Heldinnenepos" 2020 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Dušan David Pařízek inszeniert das Leben der Résistance-Kämpferin Annette Beaumanoir als mehrdimensionales Spiel mit drei Annettes. Wie kann es gelingen, das Leben im Widerstand?

Von Steffen Becker

"Annette, ein Heldinnenepos" in der Regie von Dušan David Pařízek am Schauspiel Stuttgart © Thomas Aurin

6. November 2022. Am Ende liegen auf der Bühne drei Stoffbahnen in den französischen Nationalfarben blau-weiß-rot. Beim Schlussapplaus werden sie für Ensemble und Team zu Stolperfallen. Niemand fällt, aber es stört den Fluss. Diese Szene – es sei vorweggeschickt – steht sinnbildlich für die Inszenierung des Romans "Annette, ein Heldinnenepos" von Anne Weber im Schauspiel Stuttgart.

Ein Verwirrspiel

Regisseur Dušan David Pařízek bringt ein Buch auf die Bühne, das von Kritiker:innen insbesondere für seine Form gelobt wurde. Es packt die Lebensgeschichte der Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir, die später gegen die Kolonialmacht Frankreich kämpft, in das Versmaß eines Epos – und wahrt so zugleich die Distanz zur Person der "Heldin". Das lässt sich im Schauspiel nur bedingt durchhalten. Dialoge halten Einzug, das Experimentelle des Buchs muss sich anders mitteilen.

Regisseur Pařízek entscheidet sich für das Verwirrspiel, Annette aufzuspalten auf drei Schauspielerinnen, die nebenbei auch noch andere Rollen einnehmen. Als Zuschauer gerät man daher bei der Deutungssuche leicht ins Stolpern. Verkörpern die Darstellerinnen verschiedene Facetten der Heldin? Oder ist es dem Temperament der jeweiligen Akteurin geschuldet, dass Annette mal burschikos-bestimmt (Sylvana Krappatsch) auftritt, mal borderline-mäßig (Sarah Franke) und mal raumgreifend-emotional (Josephine Köhler)? Es bleibt offen und Annette in Stuttgart nicht so recht greifbar.

Annette2 Thomas AurinDrei Frauen, drei mal Annette: Josephine Köhler, Sylvana Krappatsch, Sarah Franke © Thomas Aurin

Leichter zugänglich ist die Symbolik von Licht und Bühne. Hier zeigt sich die Inszenierung trittsicher und stark. Regisseur Pařízek rollt Annettes Geschichte vor dem Hintergrund eines hölzernen Kubus auf. Dieser fungiert als Projektionsfläche und schafft eine zweite Bedeutungsebene. Was die Schauspieler:innen im Vordergrund tun, erscheint durch Verzerrungen und Schattenspiele teils (buchstäblich) in ganz anderem Licht.

Kampf mit der Einsamkeit

Pařízek visualisiert damit geschickt die Kernkonflikte im Leben der Anne Beaumanoir: ihre individuelle Haltung, bestimmt durch den Kampf gegen jede Form von Ungerechtigkeit, versus die Einflüsse von außen – der Familie, der kommunistischen Partei, der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Die es alle gerne sähen, wenn die Heldin ihre Ideale zugunsten anderer Interessen zurückstellen würde.

Gerne wäre man tiefer in die psychologische Ebene eingestiegen. Wie verarbeitet Annette die Unvereinbarkeit von Familienleben und Revolution (sie verlässt die Kinder, weil sie vor einer Haftstrafe flieht), wie erlebt sie den Konflikt zwischen konkreter Handlung und abstrakter Ideologie (sie rettet Juden vor den deutschen Besatzern gegen die Anweisung ihrer Führungskader), wie kämpft sie mit der Einsamkeit, als sie erkennt, dass sie für eine Unabhängigkeitsbewegung arbeitet, die ebenfalls foltert und Gegner beseitigt?

Annette3 Thomas AurinDie Lied von den Idealen: Sylvana Krappatsch (links), vorne: Josephine Köhler, Peter Fasching © Thomas Aurin

Das hohe Tempo der Inszenierung lässt dafür keinen Raum. Stattdessen setzt sie auf Klamauk-Elemente. Dafür baut Regisseur Pařízek vor allem auf Peter Fasching. Der spielt die Männer in Annettes Leben, aber auch Keyboard (und das sehr gut) und spricht arabische Figuren mit einem österreichischen Akzent (was ihn schauspielerisch unterfordert). Der Sinn von Letzterem erschließt sich nicht, klingt aber lustig – und bringt den Rhythmus des Stücks in Stolpern: Slapstick ist Sand im Getriebe des Epos.

Die besten Jahre für die Utopie

An diesem Eindruck ändert auch das dramatische Schlussbild nur wenig, als die Holzverkleidung des Kubus so spektakulär zusammenkracht wie die Utopien, für die Annette ihre besten Jahre hingegeben hat. "Annette – ein Heldinnenepos" reiht sich damit ein in die Bühnenadaptionen, die insofern gelungen sind, dass man Lust auf die Buchvorlage bekommt.

 

Annette, ein Heldinnenepos
nach Anne Weber
Inszenierung und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Musik: Peter Fasching, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Peter Fasching, Sarah Franke, Josephine Köhler, Sylvana Krappatsch.
Premiere am 5. November 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Dušan David Pařízek komme "ohne Requisiten und Kostümwechsel aus, nicht einmal der riesige Würfel aus Holzlatten in der Bühnenmitte wird als Spielort genutzt", der nur als Projektionsfläche für vereinzelte historische Fotos und zartes Schattenspiel diene, so Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (7.11.2022). Dennoch sei der Abend "dicht und packend". Das liege am Tempo, aber auch darin, dass sich in der vermeintlichen Leichtigkeit und der Ironie sich Annettes Kampf um Gerechtigkeit zunehmend als große Tragödie entpuppe.

Der Abend werde "von der Lakonie, der (mal mehr, mal weniger) leisen Ironie des Textes getragen", schreibt Nicole Golombek in der Stuttgarter Zeitung (7.11.2022). Das Ensemble spiele "großartig", changiere "zwischen Slapstick, Spielspaß, Klischees und eindrücklichen, düsteren Tonlagen". Vor allem die Szenen, die sich am Beispiel Algeriens mit der Kritik am Kolonialismus befassten, seien von hoher dramaturgischer Spannung. Gleichzeitig greife die Inszenierung "tief in die Theatertrickkiste" – ein "absolut lohnenswertes Unterfangen", so das Urteil der Kritikerin.

 

 

Kommentare  
Annette, Stuttgart: Hin!
Eine Spitzeninszenierung, die sehr vieles schafft und großen Atem hat.

Namentlich Krappatsch gelingt es mit unwiderstehlich empathieerzwingender Sprödigkeit eines jungen Antoine Doinel, aus der biographischen Erzählung eine Figur lebendig werden zu lassen, letztlich die einer traurigen Heldin.
Wozu die stimmig integrierte und motivierte Musikalität von Peter Fasching maßgeblich beiträgt - dessen o.g. verfremdungseffektiver Dialekt goa ned stört, ebensowenig wie ein wohldosierte Akzent der "französischen" Obrigkeit in nur einer Szene, sondern im Gegenteil gekonnt die Reduktion des kolonialen Konflikts auf einen stereotypen Religionsantagonismus verhindert.

Unbedingt hingehen im Januar, Februar - heute war es viel zu leer für solches Niveau!
Kommentar schreiben