Glitzerndes Illusionstheater

13. November 2022. Die alte Geschichte von der Holzfigur, die zum Leben erwacht, haben Wu Tsang und "Moved by the Motion" in Zürich bildmächtig, poetisch und herzzerreissend auf die Pfauenbühne gebracht. Besonders toll: die Kostüme von Kyle Luu und die Bühne von Nina Mader.

Von Valeria Heintges

"Pinnocchio" am Schauspielhaus Zürich © Diana Pfammater

13. November 2022. Pinocchio – das heißt übersetzt "Auge der Pinie". Ganz ruhig schauen sie heraus aus dem Baumstamm, die Augen. Nur als der Schreiner Gepetto die Axt an den Stamm ansetzt, da schauen sie nicht mehr so friedlich. "Aua!", schreit der Baum. Doch es hilft ihm nicht. Mit lautem Krachen fällt er um – rumms!

Er fällt auch auf der Bühne des Zürcher Pfauen. Die vier Stämme neben ihm bleiben heil, aber der Pinienstamm stürzt. Und liegt dann in Gepettos Werkstatt, der daraus eine Marionette schnitzen will. Was so einfach zu erzählen ist, das fordert im Schauspiel Phantasie: Wie inszeniert man das, dass ein Baum spricht? Dass dann aus ihm Gepetto eine Marionette schnitzt, die zum Leben erwacht?

Ein Fest der Fantasie!

Wu Tsang, ihre Truppe Moved by the Motion und ihre geniale Bühnenbildnerin Nina Mader kommen auf eine einfache Lösung: Die Pinie ist einer von vier Pappstämmen, die auf der Bühne in den (Bühnen-)Himmel ragen. Hinter der Pinie ein Schemel, darauf Tosh Basco, die Pinocchio spielt. Auf Höhe ihres Gesichts: Ein Loch im Baum, durch das Basco hinausschaut. Als Gepetto den Baum fällt, kracht die Pappe um. In der Werkstatt liegt Basco als unförmiger Holzsstamm da, mit pinken, dicken Wülsten um Arme, Beine, Körper. Als ihn Gepetto zu Pinocchio schnitzt, fährt er ihm um die Konturen und streift ihm dabei die Wülste vom Körper. Heraus kommt aus dem Holz, heraus kommt aus dem Kostüm – Pinocchio, die Holzfigur.

Mit "Pinocchio" hat das Zürcher Schauspielhaus – nach zwei Weihnachtsmärchen (und einer coronabedingten Halbversion) des Co-Hausherrn Nicolas Stemann nun endgültig bewiesen, dass konventionelle Weihnachtsmärchen von gestern sind. Hat Stemann mit "Schneewittchen Beauty Queen" und "König der Frösche" vor allem auf augenzwinkernden Humor gesetzt, inszeniert die Filmemacherin, Performance-Künstlerin und Hausregisseurin Wu Tsang "Pinocchio" ebenso kindgerecht als Fest der Fantasie und Poesie. In dem Werk "nach Carlo Collodi", mit dem zuweilen etwas moralischen Text von Sophia Al-Maria, ist für Kenner noch überraschend viel Original enthalten. Denn selbst Amsel und Schnecke, die als Erzähler:innen durch die Geschichte führen, oder die Fee mit den blauen Haaren sind ja im Original enthalten. Doch sowohl die alten Motive als auch die neu hinzugekommenen – etwa der Besuch in der überdimensionalen Shopping-Mall – werden ganz der Idee untergeordnet, dass die Geschichte mit Ruhe, Muße und großartigen Bildern erzählt werden soll.

Doppelter Clou

Bester Beweis dafür: die phänomenale Schnecke, die Deborah Macauley zum Leben erweckt. Kostümbildnerin Kyle Luu hat ihr ein hautenges, glitzerndes Kleid entworfen, das ihr nur kleine Schritte erlaubt – klar, wir reden hier von einer Schnecke. Der doppelte Clou: Zum einen trägt sie auf dem Kopf ein riesiges, ebenfalls glitzerndes Schneckenhaus. Zum anderen hält sie in ihren beiden Händen, die wie ihre Arme in engem, schwarzen Stoff stecken, zwei Augen, die sie als Fühler durch die Luft bewegt. Macauley macht das so ruhig, so konzentriert, gleichzeitig so genussvoll, dass man ihr stundenlang zuschauen könnte. Sie ist damit natürlich der perfekte Kontrast zu Kay Kyselas besserwisserischer, witziger Amsel, die ständig nervös und hektisch herumhüpft.

Auch Tosh Basco als Pinocchio ist eine Augenweide. Große Klasse, wie sie ihren Pinocchio zwischen stur und naiv anlegt, mit Gummigelenken das Laufen lernt und dabei die Bewegungs- und Sprachbehinderung der Puppe zu ihrem Vorteil nutzt – etwa wenn sie im Teatro Stromboli tanzen muss und sich das halb wünscht, halb dazu gezwungen wird.

Himmelsflüge und Tauchgänge 

Das Ganze fügt sich perfekt zu einem glitzernden Illusionstheater, das mit einfachen Mitteln große Wirkung erzielt und immer wieder Tänzer:innen wie Tosh Basco oder Josh Johnson spritzige Auftritte bietet. Auf der Bühne, in deren Boden sich die Animationen des Hintergrunds spiegeln, sind große Himmelsflüge genauso möglich wie Tauchgänge auf dem Meeresboden oder unvermutete Treffen im Walfischbauch.

Dabei mag noch ein letztes Beispiel für die wundersam-unterhaltsame Qualität der Aufführung stehen: Pinocchio und Gepetto (sehr väterlich: Vincent Basse) müssen sich nicht, wie bei Collodi, an drei Reihen spitzer Zähne entlangschleichen, während der Wal schläft. Sondern sie bringen ihn, der nur mit donnernder Stimme aus dem Zuschauerraum zu hören ist, mit Walfischwitzen so zum Lachen, dass er sie ausspuckt.

Am Ende wird nicht Pinocchio zum Menschen. Sondern sein Vater zum Baumstamm. Die Schnecke kommentiert: "Sieht aus, als würde der Schüler seinen Vater lehren. Hast du das gewusst?" Darauf die Amsel: "Nein. Aber manchmal steht in Märchen wirklich Unsinn."

 

Pinocchio
nach dem Roman von Carlo Collodi
von Moved by the Motion
Artistic Direction: Moved by the Motion (Wu Tsang, Tosh Basco, Asma Maroof, Josh Johnson, Patrick Belaga), Regie: Wu Tsang, Movement Direction: Tosh Basco, Choreographie: Josh Johnson, Musik: Asma Maroof, Text: Sophia Al-Maria, Bühnenbild: Nina Mader, Kostümbild: Kyle Luu, Hair Design: Sara Matthiasson, Dramaturgie: Joshua Wicke. Mit: Tosh Basco, Kay Kysela, Deborah Macauley, Titilayo Adebayo, Vincent Basse, Josh Johnson, Tabita Johannes, Sarah Moeschler, Benjamin Radjaipour, Yèinou Avognon
Premiere am 12. November 2022
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Von einer "großen Performance", einem "visuell und akustisch perfekt inszeniertem Spektakel" mit viel Sound und hinreißend ausgetatteten Figuren spricht Kaa Linder im SRF (14.11.2022). Diese Magie-Maschinerie mache mächtig Eindruck, doch gleichzeitig bleibe die Geschichte von Pinocchio auf der Strecke, da sie es schwer haben, sich gegen den Illusionsapparat zu behaupten.

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