Mit Glitter gegen den Tod

13. November 2022. Tony Kushners moderner Klassiker über den Beginn der AIDS-Pandemie und ihre sozialpolitischen Folgen in den USA wirkt im Angesicht von Corona, Trump und Co. erstaunlich aktuell. Jetzt hat ihn der US-amerikanische Regisseur Daniel Kramer in Wien neu inszeniert – mit Märchenanleihen und Disco-Glamour.

Von Andrea Heinz

"Engel in Amerika" am Burgtheater Wien © Susanne Hassler-Smith

13. November 2022. Es mag verwirrend scheinen, dass ein Stück, das "Engel in Amerika" heißt, eine direkte Verbindungslinie zu Donald Trump hat, aber so ist es. Tony Kushners moderner Klassiker aus den frühen 90ern handelt unter anderem von einer Figur namens Ray Cohn, einem bis zur Karikatur neoliberalen Erfolgsanwalt, den es so tatsächlich gab. Cohn war Chefberater McCarthys, federführend bei der Hinrichtung der Rosenbergs, denen Spionage für die Sowjetunion vorgeworfen wurde, Anwalt von Donald Trump – und starb Mitte der 80er-Jahre an AIDS. Oder, in seiner Lesart: Leberkrebs. Schwulsein ist was für Schwächlinge, und das wollte Cohn auf keinen Fall sein.

Ein Gleichnis

Unter anderem davon erzählt, recht nahe an den tatsächlichen Lebensdaten, "Engel in Amerika" und verwebt Cohns Schicksal mit dem anderer (fiktiver) Figuren aus der New Yorker Schwulen-Szene der Reagan-Ära: mit jenem von Prior, einer ehemaligen Drag-Queen, dessen Beziehung zu Louis an seiner AIDS-Erkrankung zerbricht. Oder jenem von Joe, einem Mormonen aus Salt Lake City, der seine Homosexualität – weil Sünde – zu verdrängen versucht und damit nicht nur sich, sondern auch seine Frau in Unglück und (in ihrem Fall) Tablettensucht stürzt. Das Stück (das Anfang der Nullerjahre mit Al Pacino in der Hauptrolle als Mini-Serie verfilmt wurde) erzählt von einem Land, das sich für liberal und modern hält, aber getrieben ist von neurotischer Machtgier, religiösem Wahn und Bigotterie. Und es erzählt vom Tod. Davon, dass wir alle sterben müssen und dieser Tod ein armseliger, schmerzhafter, ganz und gar unschöner sein kann.

Engel in Amerika c Karolina Miernik 7463 0Im Disco-Licht: Bless Amada © Karolina Miernik

Mit AIDS in den 80ern war er das jedenfalls ganz sicher, doch Daniel Kramer lässt Prior in seiner Inszenierung des ersten Teils (Die Jahrtausendwende naht) einen sehr glamourösen, geradezu märchenhaften Todeskampf führen. Der Vorhang im Akademietheater strahlt in Regenbogenfarben, an der Decke glitzert einsam eine mickrige Discokugel, aus den Lautsprechern dröhnt Disco. Ab und zu scheint noch die Anzug-Yuppie-Welt durch, als die sich die realen 80er dank popkultureller Indoktrination in unser kollektives "Gedächtnis" eingeprägt haben: So schwebt zu Beginn Markus Scheumann vom Schnürboden, ausgerüstet nicht mit einem, nicht mit zwei, sondern mit drei antiken Mobiltelefonen, in die er abwechselnd hysterische Beleidigungen plärrt oder – "Darling!" – Karten für Cats ordert, während er Büroleiter Joe (Felix Rech) mit einem Tupperware-Tortenbehälter bewirft. Realistisch soll das alles nicht sein. Eher schon ein Gleichnis, eine Metapher.

Leda mit den Schwänen

Auf der Bühne (Annette Murschetz) stapeln sich schwarze, auf Rollen stehende Särge: zu Beginn, wenn Barbara Petritsch als Rabbi Isidor Chemelwitz Louis‘ Großmutter unter die Erde bringt, noch schön in Reih und Glied, später, wenn ein riesiges aufgeblasenes Virus die Bühne okkupiert, an der Seite übereinander gestapelt und geworfen. Leben kann man nur im Tod, das nimmt diese Inszenierung wörtlich: Die Särge sind die Betten, in denen die Figuren schlafen, sie sind gut bestückte Spirituosen-Bar, Pissoir – und natürlich auch das, was sie sind. Särge. Patrick Güldenberg liegt als Prior im Krankenhaus in einem gläsernen, mit Körperflüssigkeiten über und über beschmierten, schmutzigen Schneewittchen-Sarg.

Engel in Amerika c Karolina Miernik 7765 UIch möchte so gern ein Eisbär sein... aber vor Särgen? Annamária Láng © Karolina Miernik

Märchenhaft wird es vor allem in den Valium-Halluzinationen von Joes Ehefrau Harper (Annamária Láng) und den manchmal dort eindringenden Fieber-Träumen Priors. Da reist Harper mit einem imaginären Reiseagenten (Bless Amada im Grinsende-Pille-Outfit) nach Alaska, und Prior darf im Kostüm von Disneys böser Dornröschen-Fee Maleficent noch einmal mit seinem längst feige davon gelaufenen Partner Louis (Nils Strunk) tanzen. Oder als Leda mit gleich zwei Schwänen.

Haltung als Zitat

Auch der Engel, der Prior immer wieder erscheint, trägt interessante Kleider (Safira Robens üppig bestückt mit primären Geschlechtsmerkmalen beiderlei Geschlechts). Mit den aufwändigen Kostümen des georgischen Künstlers Shalva Nikvashvili (deren Figurinen im Programmheft abgedruckt sind) zitiert die Inszenierung die Drag- und Voguing-Subkultur der 70er und 80er Jahre an, was ihr viel Glitzer und tolle Bilder beschert, dem Ganzen in Summe aber auch bisweilen die Anmutung einer Nummernrevue gibt.

Die macht als solches auch sehr viel Spaß, und Sinn insofern, als sie die Hoffnung, Lebenslust, das Exzessive hoch hält im Angesicht von Tod, Krankheit und Niedergang. Ein bisschen holprig wirkt das Ganze dennoch, weil die Anleihen aus homosexueller Subkultur, aber auch die Rosa Winkel, die homosexuelle KZ-Häftlinge tragen mussten, einen politischen Anspruch behaupten, der nicht wirklich eingelöst wird. Die Diskussion zwischen Louis und Priors schwarzer Drag-Queen-Freundin Belize (Bless Amada), die sich um Demokratie, Freiheit, "Race" dreht und das Problem, das Amerika damit angeblich nicht hat, wirkt nach der Pause ebenso deplatziert (und zieht einen mit 3 Stunden 15 Minuten zu langen Abend noch unnötig in die Länge), wie Louis’ Behauptung, dass sie alle "Reagans Kinder" seien, und Gott ihnen beistehen solle – in einem Tonfall, als würde er den lauen Abend loben. Politik, Neoliberalismus, Diskriminierung, all das scheint die Inszenierung nur als Zitat zu interessieren, weniger als Diskurs. Wen das nicht stört, wird an den üppigen Kostümen und der surrealen Grundstimmung aber durchaus Freude haben.

Engel in Amerika
von Tony Kushner
Aus dem Englischen von Frank Heibert
Regie: Daniel Kramer, Bühne: Annette Murschetz, Kostüme: Shalva Nikvashvili, Musik: Tei Blow, Licht: Reinhard Traub, Choreographie: Pandora Nox, Dramaturgie: Alexander Kerlin.
Mit: Markus Scheumann, Felix Rech, Annamária Láng, Nils Strunk, Patrick Güldenberg, Barbara Petritsch, Bless Amada.
Premiere am 12. November 2022
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

Mit "Engel in Amerika" setzte Kushner 1991 "der Unsicherheit und Machtlosigkeit, der Angst und der Wut ein literarisches Denkmal entgegen, das genauso vom Stolz und Überlebenswillen der Betroffenen handelte wie von den Anwürfen, denen sie ausgesetzt waren", resümiert Stephan Hilpold im Standard (13.11.2022) die Bedeutung des Stücks. "Den Realismus des amerikanischen Theaters ließ er auf die Phantasmagorien der schwulen Subkultur, die Welt des Drags und Fetischs treffen." Hier setze der amerikanische Regisseur Daniel Kramer an, der in den Szenen mit Dragqueen Belize mühelos eine Brücke zu "RuPaul’s Drag Race" schlage. "Queere Ästhetik hat Widerspruch und Hedonismus schon immer zusammengedacht. Wie gut, dass das auch heute noch funktioniert."

"Obwohl die Aufführung zeitweise in Schreiereien zerfällt, manche Auftritte durchaus gestrichen hätten werden können und insgesamt der rote Faden zu wenig sichtbar bleibt, gelingt dem Ensemble und Daniel Kramer dennoch ein ziemlich überzeugender Abend", schreibt Martin Lhotzky in der FAZ (14.11.2022).

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