Wie seltsam, wie sonderbar

19. November 2022. Eugène Ionescos Anti-Stück "Die kahle Sängerin" entstand 1950 nach Leerformeln aus seinem Englischbuch. Und begründete das absurde Theater. In Graz hat sich Komödienspezialistin Anita Vulesica des Klassikers angenommen.

Von Martin Thomas Pesl

"Die kahle Sängerin" am Schauspielhaus Graz © Lex Karelly

19. November 2022. Man soll die Klassiker ja gegen den Strich bürsten. Aber geht das überhaupt bei einem Werk wie der "Kahlen Sängerin", das alle dramaturgischen Regeln bricht? Das hat ja nicht einmal einen Strich! Anita Vulesica schafft es, indem sie am Schauspielhaus Graz die bei Ionesco in einem Satz erwähnte und sonst völlig unerhebliche Titelfigur ... vorkommen lässt! Unerhört! Was kommt als nächstes? Godot?!

Die kahle Sängerin trägt in Gestalt des Schauspielhaus-Inspizienten Roland Fischer jedenfalls noch immer (fast) die gleiche Frisur, ihrem Namen entsprechend, und trällert die Namen aller sechs Spieler:innen, bevor diese ein alternatives Ende für Eugène Ionescos Einakter einläuten. Statt der gegenseitigen Beflegelung dienen Ionescos Nonsens-Satzfetzen einer Sing-a-long-Liebeserklärung. Damit erschließen sich auch die Seventies-Kostüme: LOVE is all around, auch im Zuschauerraum, in Form von Transparenten und Chören (die Noten dazu finden sich im Programmheft).

Tragödie der Sprache

Vulesica ist Regie-Spezialistin fürs Komödiantische. Ihre beiden Grazer Inszenierungen "dritte republik (eine vermessung)" und "Garland" fuhren Nestroy-Preise als beste Bundesländer-Aufführung ein, weil Timing und Rhythmus stimmten. Nun inszeniert sie einen Text, bei dem man schon von vornherein erwartet, dass er lustig ist.

Dabei wollte Ionesco (1909–1994) mit seiner "Kahlen Sängerin" 1950 doch die Tragödie der Sprache hervorkehren! Der nach Paris emigrierte Rumäne reihte inhaltlich richtige ("Der Boden ist unten"), aber zusammenhanglose Sätze aus seinem Englischunterricht aneinander. Daraus erwuchs ein Stück ohne Sinn, aber mit einer Art Handlung: Die Smiths empfangen die Martins. Ihr Dienstmädchen Mary und ein Feuerwehrhauptmann sind auch da. Das Publikum lachte. Das absurde Theater war geboren.

Live klingt fast wie Love

Seit 1957 steht "Die kahle Sängerin" durchgehend auf dem Spielplan des Théâtre de la Huchette in Paris, inzwischen hat sogar Claus Peymann den Autor für sich entdeckt. Für ihn strahlen die Sätze düstere Wahrheiten aus. Nicht für Anita Vulesica und das kolossale Grazer Ensemble. Sie nutzen die Leere, die der fehlende Sinn hinterlässt, als ultimative Spielwiese – und zwar: "live"! Das ist fast wie "Love", nur ein Buchstabe anders, und leuchtet an einem Kabäuschen am Kopf einer Treppe hinter einem Sofa als Neonschrift. Überall sattroter Samt, dem Bühnenvorhang gleich. Warum dies? Nicht fragen. Ist absurd.

Kahle Saengerin 2 Lex Karelly uGroßer Auftritt für das hervorragende Grazer Ensemble © Lex Karelly

Einige Textstellen entfalten ihre Komik auch heute noch von selbst, etwa: "Ein gewissenhafter Arzt muss mit dem Kranken sterben, wenn sie nicht zusammen gesund werden können." Oder, als es läutet: "Das muss jemand sein." Anderes hat an Frische eingebüßt. Wenn Mr. und Mrs. Smith über einen Bekannten sprechen, der Bobby Watson heißt, ebenso wie sämtliche seiner Angehörigen, hat man das Prinzip schnell verstanden. Auch die schrittweise Herleitung der Eheleute Mr. und Mrs. Martin, warum sie einander so bekannt vorkommen ("Wie seltsam, wie sonderbar!"), entlockt höchstens noch ein mildes Lächeln.

Feier der sinnlichen Unterhaltung

Es sei denn, Frieder Langenberger und Evamaria Salcher zögern die finale Erkenntnis ("Sie sind meine eigene Gattin") so lange hinaus, dass sich vorher ein paar ausschweifende Tanzeinlagen ausgehen. So glänzen Inszenierung und Spiel vor allem zwischen den Worten: Wenn Beatrice Frey nachschauen geht, wer geklingelt hat, obwohl ihr ganzer Körper sich gegen diese Aufgabe sträubt. Wenn Moritz Grove sehr unbequem aussieht beim Versuch, es sich in den Einbuchtungen des geschwungenen Sofas bequem zu machen.

Wenn sich Raphael Muff in bester Feuerwehrmanier an einem Schlauch aus dem Schnürboden abseilt, statt durch die Tür zu kommen. Oder wenn Katrija Lehmann... Katrija Lehmann ist die ultimativ absurde Schauspielerin. Sie steht im Verdacht, aus einem Zeichentrickfilm entlaufen zu sein. Kürzlich legte sie die Miss Prism in "Bunbury" als Vampir an. Hier als Mary trägt sie Lockenwickler, Schnurrbart und zwischen den Lippen eine Dauerzigarette, schleppt ein Hackebeil durch die Gegend und rasiert sich dann damit. Bei Lehmann weiß man nie, was als nächstes kommt.

Sie und ihre Kolleg:innen erhielten von Vulesica offenkundig große Freiheiten, den einen oder anderen Quatsch je nach Publikumslaune auszureizen, manchmal zu sehr. Es sei ihnen gegönnt, ist ihr Abend doch vor allem eine offensive Feier des Theaters als sinnliches Unterhaltungserlebnis. Live eben.

Das Absurde, einst löste es Empörung aus. Heute dient es der ultimativen Entspannung. Wo kein Sinn ist, muss ich keinen suchen. Das tut erstaunlich wohl. Das Schauspielhaus hat zwei Vorstellungen zu Silvester angesetzt.

Die kahle Sängerin
von Eugène Ionesco
Deutsch von Serge Stauffer
Regie: Anita Vulesica, Bühne: Henrike Engel, Kostüme: Janina Brinkmann, Musik: Camill Jammal, Choreografie: Mirjam Klebel, Licht: Thomas Bernhardt, Dramaturgie: Karla Mäder.
Mit: Roland Fischer, Beatrice Frey, Moritz Grove, Frieder Langenberger, Katrija Lehmann, Raphael Muff, Evamaria Salcher.
Premiere am 18. November 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.com


Kritikenrundschau

"Mit sicherer Hand führt Vulesica ihr in Discofetzen glitzerndes Team durch samtverbrämte Szenen voll Unsinn, Situationskomik und Anekdoten ohne Pointe", schreibt Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (20.11.2022). "Dazu animiert sie ihre Darstellerriege auch körperlich zu einem Furioso an Repetition und Übertreibung, das man recht schrecklich oder allzu bemüht finden könnte, das aber gerade dank präziser Überdosierung ständig zum Lachen reizt."

Das 'Anti-Theater' hat eine deprimierende Aussage, informiert Thomas Trenkler im Kurier (21.11.2022). "Doch Anita Vulesica wollte ein positives Ende (denn nicht einmal die Premiere war ausverkauft)", und ihre "Liebeserklärung ans Publikum bilde ein "fulminantes Ende", das auch "die eine oder andere Studentenkabaretteinlage" entschuldige.

"Das Schauspielhaus Graz wird nicht jene rekordverdächtigen 18.000 Vorstellungen spielen können, die das Théâtre de la Huchette in Paris seit über sechzig Jahren nonstop gibt, aber diese Kahle Sängerin könnte Intendantin Iris Laufenberg, bevor sie nächste Spielzeit ans Deutsche Theater Berlin wechselt, einen Publikumshit bescheren", schreibt Margarete Affenzeller in Der Standard (20.11.2022).

"Es ist nicht nur das komödiantische Feuerwerk des Ensembles, sondern vor allem auch das Ende, welches diese Inszenierung für einen gelungenen Silvesterabend prädestiniert": Auch Michaela Preiner glaubt auf European Cultural News (20.11.2022) ans Hitpotential der Inszenierung.

Kommentare  
Die kahle Sängerin, Berlin: Angestaubt
Im Eröffnungsreigen der DT-Intendanz von Iris Laufenberg ist „Die kahle Sängerin“ eine der wenigen Übernahmen, die sie aus der Steiermark nach Berlin mitbringt.

Vulesica ist hier natürlich keine Unbekannte: 2011-2017 war sie Ensemble-Mitglied an Uli Khuons DT und glänzte vor allem als Komödiantin, z.B. in Die Affäre Rue de Lourcine. Seitdem hat sie sich mehr auf eigene Regie-Arbeiten verlegt.

Das Handwerkliche stimmt auch in dieser „Die kahle Sängerin“-Inszenierung, die sehr auf Körperlichkeit setzt und den Slapstick ins Zentrum rückt. Dem Abend ist aber doch sehr deutlich anzumerken, dass Eugène Ionesco die Vorlage bereits 1950 geschrieben hat.

Sehr angestaubt wirkt dieser Versuch, die Fassaden des Bürgertums und die scheiternden Kommunikationsversuche der gehobenen Mittelschicht vorzuführen, die beim Abendessen von zwei Paaren nicht über Phrasen hinauskommen.

Sie lässt das Stück knapp anderthalb Stunden so routiniert abschnurren, dass es problemlos auch in die Spielpläne von Ionesco-Fan Claus Peymann am Wiener Burgtheater oder Berliner Ensemble gepasst hätte. Auf der Zielgerade weicht sie an zwei entscheidenden Punkten von der Vorlage ab: Lars Lehmann, einer der Bühnentechniker am DT, schlüpft in die Rolle der titelgebenden „kahlen Sängerin“, die bei Ionesco ebenso ungreifbar und abwesend bleibt wie Godot bei Beckett. Zum Schluss reiht sich das ganze Ensemble an Mikrofonen an der Rampe auf, beschwört die Liebe und lädt das Publikum zum Mitsing-Kanon ein.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/09/30/die-kahle-saengerin-deutsches-theater-berlin-kritik/
Die kahle Sängerin, Graz/Berlin: Angestaubt?
Wo kein Sinn ist, muss man einen suchen . . .

Leeb: Ich habe es satt, immer nur an ihn zu denken.
Als wenn er der Einzige wäre.
Als wenn es niemanden sonst gäbe in dieser Gegend,
die verlassener ist als alles Verlassene in dieser Gegend.

Ich habe es satt, immer wieder zurückzukehren zum Ausgang,
den Oel (die Vaterfigur, Anm.) ausfüllt mit seiner ganzen Gewalt -
Gestalt, mit seinen vollen Reden, an die man noch immer glaubt,
glaube ich, wenn er wiederkehrt einmal, wenn ich ihn sehe.
Mein Augenpaar in seiner Richtung, seine Bahn weit draußen.

Aus dem fahrenden Vehikel will ich ihn werfen und sehn
was mit ihm geschieht - er steht aufrecht unterm Himmel
und lacht zu Gottvater hinauf, der sich umwendet
und ihn mit seiner Fuurz anbläst.

Ich lache auch, doch halt ich lachend dem Gewitter nicht stand
wie er, flach bin ich zur Erde gedrückt -
den Mund tief im Erdreich . . .
Genoveva (die Mutterfigur):
Hier hältst du dich verborgen - Versteckenspiel!
Du machst das wie er, ganz genau so.
Leeb(mit schwerer Zunge):
Bei mir ist es etwas ganz anderes.

(ist dieser Text angestaubt? - er ist 54 Jahre alt, und ist der Anfang von
"Das Erstickenspiel". Es wurde angeregt durch Ionesco, Beckett usw. . .
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