Tod in Deutschland

24. November 2022. Deutschland 1992. Der erfolgreiche Unternehmer Murat Dogan ist gestorben. Als seine trauernde Familie noch darüber spricht, wie sein Erbe fortgesetzt werden kann, erreicht sie die Nachricht des Brandanschlags von Mölln. Welchen Sinn machen alle Integrationsbemühungen des Vaters nun noch? Eine der Fragen, die Nuran David Calis in seinem neuen Stück verhandelt, das Pınar Karabulut uraufgeführt hat.

Von Wolfgang Reitzammer

"Das Erbe" an den Münchner Kammerspielen © Krafft Angerer

24. November 2022. Vor genau dreißig Jahren ereignete sich in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln ein Brandanschlag auf zwei, von türkischen Familien bewohnte Häuser. Das Verbrechen mit rechtsextremem Hintergrund, bei dem es drei Todesopfer und neun Schwerverletzte gab, erregte bundesweites Aufsehen. Der Theater- und Filmautor Nuran David Calis war damals 16 Jahre alt und das Thema ließ ihn nicht mehr los.

2014 entwickelte er zum zehnten Jahrestag des Nagelbombenanschlags in der Köln-Mühlheimer Keupstraße am Schauspiel Köln das Stück "Die Lücke – Ein Stück Keupstraße", später das Nachfolgeprojekt "Die Lücke 2.0". Anfang 2022 erarbeitete Calis wiederum in Köln mit Schauspieler:innen, die ihre eigene Biografie einbrachten, das Stück "Mölln 92/22". Nun folgte an den Münchner Kammerspielen ein weiteres Kapitel dieses Erinnerungsreigens, die Tragödie in drei Akten mit dem Titel "Das Erbe".

Zwischen Assimilation und kultureller Selbstbehauptung

Aus diesem erneuten Blick zurück ist nun jedoch mit Hilfe der Regisseurin Pınar Karabulut etwas geworden, das für drei verschiedene Theaterabende gereicht hätte. Bereits Calis kann sich offenbar nicht entscheiden, was der Abend sein soll: Deklamations-Theater gegen Ausländerfeindlichkeit, Thesen-Stück über Fragen von Assimilation, Integration und kultureller Selbstbehauptung oder Generationen-Drama.

Was an den drei Tagen zwischen dem 23. und 25. November 1992, in denen das Stück spielt, passiert: Nach dem Tod des schwerreichen Unternehmers Murat Dogan, der in Deutschland eine erfolgreiche Logistik-Firma aufgebaut hat, sind sich seine Witwe und die drei Kinder nicht einig, wie sie mit dem Erbe umgehen sollen. Arzu, die älteste Tochter (Elmira Bahrami), ist lesbisch, betreibt eine Kunstgalerie in London und greift auch mal zur Hasch-Zigarette. Tochter Leyla (Zeynep Bozbay) dagegen trägt ihr Kopftuch aus Überzeugung, lebt mit ihrem Mann, einem Imam, in Istanbul und sieht in dem aufstrebenden Politiker Erdogan eine neue Hoffnung für die Türkei.

Sohn Halil (Mehmet Sözer), der einzige Mann der Runde, ist offensichtlich ein Versager, denn seine bisherigen unternehmerischen Versuche endeten alle mit der Insolvenz. Dogans schwerkranke Witwe Nazik (Sema Poyraz) will nur noch das testamentarische Vermächtnis ihres Mannes durchsetzen: die Familie und die Firma in Deutschland erhalten. Am Abend nach der Beerdigung gehen durch alle Medien die Nachrichten von den Ereignissen in Mölln. Damit wird die Debatte in der Familie auf eine neue Ebene gehoben.

Damokles-Schwert, Ufo oder Kronleuchter

Soweit eine Konstellation, die durchaus Spannungspotential hat, das aber schon durch das Auftreten der Anwältin Ilias (Edith Saldanha) unterminiert wird. Ihre Zeigefinger-Auftritte mit quasi-pastoraler Attitüde wirken ausserdem ein bisschen aus der Zeit gefallen. Auch die Gespräche der drei Geschwister haben immer wieder die Tendenz zu einem schlichten Argumentations-Aufsage-Theater. Und kann man diesen wohlhabenden und stylisch gekleideten Jung-Millionären wirklich abnehmen, dass sie sich jetzt angesichts von Mölln fragen, ob sie in diesem "Scheiß-Deutschland" leben können, ohne sich zu verleugnen? Man sehnt sich im Laufe des Abends manchmal nach der Erfüllung einer Bitte von Tochter Arzu: "Können wir nicht einmal normal miteinander reden?"

DasErbe3 Krafft Angerer u"Können wir nicht einmal normal miteinander reden?" © Krafft Angerer

Dies alles spielt sich auf einer leergeräumten blauen Drehbühne ab (Aleksandra Pavlovic), hinter der ein blauer Gaze-Vorhang flattert und über der ein imposantes Lichtobjekt wie eine Mischung aus Damokles-Schwert, UFO oder Kronleuchter schwebt. Am Anfang des dritten Aktes erlebt man plötzlich eine vernebelte und ziemlich sinnfreie Dance-Pantomime zu dröhnendem Industrial-Techno-Sound. Für Kino-Liebhaber gibt es zahlreiche Video-Sequenzen (Susanne Steinmaßl) mit beeindruckender Rainer-Werner-Fassbinder-Ästhetik, in denen etwa die Zwanzig-Millionen-Dogan-Villa vorgestellt und eine Nebenhandlung mit zwei Angestellten (Stefan Merki als DDR-Flüchtling Gerhard und Vincent Redetzki als dessen Neffe Bernd) präsentiert wird.

Auf das Schlusswort von Anwältin Ilias ("Unsere Geschichten müssen erzählt werden … es ist Zeit zuzuhören") folgt langanhaltender Beifall, der dann abrupt abbricht, als eine lange Liste von Opfern rechtsradikaler Gewalt über die Videowand läuft.

 

Das Erbe
von Nuran David Calis
Uraufführung
Regie: Pınar Karabulut, Bühne: Alexandra Pavlovic, Kostüme: Sara Ginacane, Dramaturgie: Mehdi Moradpour, Musik: Daniel Murena, Licht: Stephan Mariani, Video: Su Steinmassl
Mit: Elmira Bahrami, Zeynep Bozbay, Sema Poyraz, Edith Saldanha, Mehmet Sözer, Rabea Egg, Stefan Merki, Vincent Redetzki
Premiere am 23. November 2022
Dauer: 1 Stunde und 40 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Gut gemeint, aber alles andere als gut gemacht sei dieser Theaterabend in den Münchner Kammerspielen, wenn man Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung fragt (online 24. November 2022). "Das Erbe" sei als Stück "komplett missraten". "Nicht nur bleiben die am Reißbrett der politischen Empörung und Agitation entworfenen Figuren bloße Wortfackelträger, ihre Erklärsprache eine Zumutung. Auch inhaltlich fügt sich das, was Calis da alles reinpackt, weder zu einem aufwühlenden Polit- noch zu einem emotionalen Generationendrama. Herauskommt vielmehr ein stark proklamatorisches, anklagendes, mahnendes Belehrungstheater, das sein bedröppelt dasitzendes Publikum noch dazu in moralische Geiselhaft nimmt", schreibt die wenig begeisterte Kritikerin.

"So nachvollziehbar Betroffenheit, Fassungslosigkeit sind – sie genügen nicht für einen Theaterabend. Auch Wut, Trauer, Verzweiflung tragen keine Inszenierung. Kunst bündelt im besten Fall all diese Gefühle – und kreiert Neues daraus, fügt den Fakten (mindestens) eine weitere Ebene hinzu. Eben dies gelingt Calis in seiner Tragödie häufig; vor allem aber glückt es Karabulut in diesen gut 100 pausenlosen Minuten", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (24.11.2022). "Verallgemeinerungen gibt’s auf allen Seiten, und alle laufen sie ins Leere. Dafür findet Karabulut starke Bilder: Aleksandra Pavlović hat ihr die Bühne leer geräumt und in deren Mitte eine Drehscheibe platziert. Wie sehr sich die Menschen darauf auch bewegen – keiner kommt an. Das achtköpfige Ensemble spielt mit Verve selbst über die etwas papierenen Passagen des Stücks hinweg."

 

 

 

Kommentare  
Das Erbe, München: Deplaziert
„Heute Abend gehe ich zu einer würdigen Veranstaltung in die Kammerspiele“, so meine Nachricht an eine Freundin. Stunden später mußte ich erleben, wie der Brandanschlag von Mölln instrumentalisiert wird. Was soll dieses Lamentieren erwachsener Kinder? Die Auseinandersetzungen zum Testament? Was soll diese Dance-Performance? Wie stehen all diese Bilder zu den Erinnerungen an Mölln?
Perfide, Texte und Stimmen der Opfer darzustellen, während die SchauspielerInnen das Gejammere von Erben anstimmen.
Nein, dieses Stück ist deplatziert.
Das Erbe, München: Unser aller Geschichte
Wichtiger Abend, der das Thema rechter Gewalt in Deutschland sehr gut zeigt. Ich war sehr bewegt. Großartige Schauspieler. Ich komme wieder.
Das Erbe, München: Fraglich
Der Ansatz des Abends war sicherlich gut, allein die Umsetzung! Mit diesem kurzen Abend wird im Grunde versucht, ein ganzes Familienepos auf die Bühne zu bringen. Das konnte kaum gelingen. Hier meine Besprechung in meinem Blog: https://qooz.de/2022/11/25/theater-nuran-david-calis-das-erbe/
Das Erbe, München: ein Ärgernis
Ich kann der Nachtkritik von Hrn. Reitzammer und dem zugefügten Kommentar von Hrn. Weller leider nur zustimmen: Die von der Regisseurin Frau Pinar Karabulut und den Dramaturg:innen Herrn Mehdi Moradpour und Frau Linda Lummer und dem gesamten Produktionsteam verantwortete Inszenierung bleibt über weite Strecken ein Aufsagen von bekannten Argumenten gegen Ausländerfeindlichkeit und rechten Terror. Für mich waren die „Zeigfinger-Auftritte mit pastoralen Attitüden“ für ein denkendes aufgeklärtes Publikum peinlich. Diese Form von Belehrung ist nicht einmal eine anspruchsvolle Form von Agitprop-Theater. Der oft beliebig wirkende Aufwand von Tanz-Einlagen, Videoeinspielungen, aufwendigen Lichtinstallationen, Drehbühne und Theaternebel macht dies nicht besser. Auch die dem Text geschuldete Verknüpfungen mit Integrations- und Generationsthemen kommen über allgemein bekannte Klischees selten hinaus und lassen die Figuren des Stücks eher als flache Positionen und nicht als Menschen mit ihren inneren und zwischenmenschlichen Konflikten und Dilemmata erscheinen.

Am 30. Jahrestag der Anschläge in Mölln an die Opfer zu gedenken und auf den sich wieder ausbreitenden menschenverachtenden rechtsextremen Terror aufmerksam zu machen ist politisch notwendig – als Solidarität für die zu uns gezogenen Menschen, ihre hier geborenen Kinder, unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat. Ich kritisiere nicht die inhaltliche Position, sondern die Form: Die Münchner Kammerspiele haben als Theater der Stadt den Auftrag, sich als Theater mit seinen künstlerischen Mitteln kritisch mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen und hierzu die Theatergänger:innen mit theatralischen Mitteln einzuladen. Die Münchner Kammerspiele sind weder Volkshochschule, Schulunterricht in Politik und Gesellschaftskunde noch Selbsthilfegruppe!

In einem Videoeinspieler wird das Theaterprojekt „Gleis 11“ angesprochen. Bei dieser von Christine Umpfenbach und Paul Brodowsky 2010 erarbeiteten Inszenierung (Indentanz von Frank Baumbauer) handelt es sich aus meiner Sicht um eine gelungene Form dokumentarischen Theaters. In den Bunkern unter dem Münchener Hauptbahnhof ist die Ankunft und Verteilung der ersten „Gastarbeiter“ und ihr weiteres Leben in Deutschland von noch lebenden Zeitzeugen und Schauspieler:innen mit ganz unterschiedlichen Theaterformen gezeigt worden. Auch die leider zu früh abgesetzte Kammerspiel-Inszenierung „Das Oktoberfestattentat“, ein Recherchenprojekt ebenfalls von Christine Umpfenbach inszeniert, ist in meinen Augen ein gelungenes Beispiel für ein Dokumentartheater (Intendanz von Barbara Mundel). Theaterkunst und politische Positionierung sind kein Gegensatz, sondern können sich anregend ergänzen. Kunstfertig ist dies in beißender politischer Schärfe an den Kammerspielen 2008 in der Inszenierung des Textes von Elfriede Jelinek "Rechnitz (Der Würgeengel)" in der Regie von Jossi Wieler gelungen (Intendanz von Frank Baumbauer). Das Stück befasst sich mit dem Massaker an 180 Juden, das als Höhepunkt einer im März 1945 von SS-Offizieren, Gestapo-Führer und einheimischen Nazigrößen in dem österreichischen Ort Rechnitz verübt wurde und dem anschließenden erschreckenden Vergessen, Verdrängen und Unsichtbarmachen der Gräueltaten. Auch eine „Jugend in Deutschland“ (2020, Regie: Jan-Christoph Gockel, Dramaturgie: Viola Hasselberg) und die aktuelle Doppelinszenierung „Nora“ & „Die Freiheit einer Frau“ (2022, Regie: Felicitas Brucker, Dramaturgie: Tobias Schuster) habe ich als beeindruckende politische Theaterinszenierung gesehen (beide in der Intendanz von Barbara Mundel) und werde sie mir gern noch ein zweites Mal anschauen (vgl. meine positiven Kritiken auf nachtkritik.de).

Offen bleibt für mich die Frage ob und wie es eine wirksamere künstlerische Qualitätssicherung an den Münchner Kammerspielen braucht!
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