Jack Sparrow im Wagner-Dolby-Surround

28. November 2022. Rollende Augen, Kussmünder, hochelastische Rampenverbiegungen: Herbert Fritsch hat schon viele Sprech- und Musiktheaterstücke grandios verslapstickt. Eine Oper von Richard Wagner allerdings nimmt er sich jetzt zum ersten Mal vor. Wie hält sie den Fritsch'schen Jux aus?

Von Georg Kasch

"Der fliegende Holländer" in der Regie von Herbert Fritsch an der Komischen Oper Berlin © Monika Rittershaus

28. November 2022. Bei Wagner-Opern denken viele erst mal: Uff! Laut, lang, schwer, so die gängigen Vorurteile. Und kaum gibt‘s eine Ohrwurmstelle, kommt garantiert jemand und fasst noch mal länglich zusammen, was man bis hierhin schon kapiert hat. Dazu der heilige Ernst von Wallaweiawoge und Hojotoho – komisch ist das schon. Nur oft unfreiwillig.

Nun hat sich aber doch ein Oberkomiker aufgemacht, es mit Richard Wagner zu versuchen: Herbert Fritsch. Als Schauspieler ein Hysteriker und Zappelphilipp erster Güte, krempelte er als spätberufener Regisseur erst das Schauspiel um zwischen Klassiker-Durchschüttelung und zwerchfellerschütternden Dada-Festen. Seit dem ausgeflippten "Don Giovanni“ 2014 an der Komischen Oper ist auch das Musiktheaterrepertoire nicht mehr vor ihm sicher: Bizet, Rossini, Strauss inszeniert er an den großen Häusern zwischen Hamburg, Wien und Zürich. Wagner war bislang nicht dabei.

Verliebt in den Mythos

Jetzt ist Fritsch an die Komische Oper zurückgekehrt, um genau das nachzuholen. Für einen Wagner-Einstieg – das gilt für Hörer:innen wie Regisseur:innen – ist "Der fliegende Holländer" mit seiner schnörkellosen Geschichte und nur zweieinviertel Stunden Dauer äußerst dankbar: Der Holländer ist verflucht und muss so lange über die Weltmeere segeln, bis eine Frau ihm ewige Treue schwört. Senta wiederum hat sich längst in den Mythos verliebt und wartet nur darauf, diesen Mann retten zu können. Dazu gibt’s Ohrwürmer satt: "Steuermann lass die Wacht", der Chor der Spinnerinnen, Sentas Ballade, das Holländer-Motiv…

 Der fliegende HolländerRichard Wagner Musikalische Leitung: Dirk KaftanInszenierung und Bühnenbild: Herbert FritschBühnenbild-Mitarbeit: Andrej RutarKostüme: Bettina HelmiGemälde: Charlie CasanovaDramaturgie: Julia Jordà StoppelhaarChöre: David CaveliusLicht: Carsten Sander Auf dem Bild:Günter PapendellSenta BergerJens Larsen Foto: Monika RittershausHin- und hergerissen zwischen Mann und Mythos: Senta (Daniela Köhler) kann es nicht erwarten, den Holländer (Günter Papendell) zu retten; Papa Daland (Jens Larsen) steht daneben © Monika Rittershaus

Wie aber fängt Fritsch das an? Indem er erst einmal eine Art Spielbox öffnet, einen von ihm entworfenen bunten Bühnenkasten, in dem ein großes Schiff steht wie für Kinderhände gemacht. Geschaukelt wird’s von wilden Gesellen, die Teil sind von des Holländers Zombie-Jungs (die hier in zusammengesuchten, durchaus queerenden Kostümkombis herumgeistern). Der Holländer selbst ist bei Günter Papendell ein ironischer Verführer zwischen Jack Sparrow und Clark Gable: Menjou-Bärtchen und Lidschatten unterm kupferroten Haar. Der sexy Seeräuber trifft auf den dummdreisten Raffzahn Daland und seine hysterisch verstrahlte Tochter. Dass sich hier zwei gefunden haben, weiß man sofort – Erik, der glatte, verständnislose (und dabei nicht ungefährliche) Nebenbuhler, wirkt wie eine Ausrede, damit die Geschichte nicht sofort aus ist.

Kulleraugen und Kussmünder

In dieser Box rappelt es gewaltig, denn die Figuren, allen voran der Chor der Seemänner und der Mädchen in ihren Matrosenanzügen und puscheligen Dienstmädchen-Kostümen, wirken, als wären sie direkt aus einer Barrie-Kosky-Musicalproduktion hier am Haus entsprungen. So benehmen sie sich auch: Sie wanzen sich an die Rampe, werfen Kulleraugen und Kussmünder ins Publikum oder staunen schaudernd und schlotternd, dass es eine Freude ist.

Das ist nur deshalb möglich, weil Dirk Kaftan am Orchesterpult alles an Spieloper, Belcanto und Operette herausarbeitet, was in der Partitur steckt, aber gar nicht so oft zu hören ist, und das noch ein wenig weitertreibt in weit gähnende Generalpausen und Pianissimi, die die Sänger:innen dann für berührende Einsätze nutzen können. Zugleich vollbringt er mit dem Orchester das Wunder, die Sänger:innen nie zu übertönen und dennoch einen äußerst vollen Wagner-Dolby-Surround-Klang zu schaffen, der die Sitze erbeben lässt und einem direkt in die Nervenbahnen fährt.

Der fliegende HolländerRichard Wagner Musikalische Leitung: Dirk KaftanInszenierung und Bühnenbild: Herbert FritschBühnenbild-Mitarbeit: Andrej RutarKostüme: Bettina HelmiGemälde: Charlie CasanovaDramaturgie: Julia Jordà StoppelhaarChöre: David CaveliusLicht: Carsten Sander Auf dem Bild:Caspar SinghChorsolisten Foto: Monika RittershausRollende Augen, Zeitlupen-Bewegungen, entlarvende Übertreibungen: Steuermann Caspar Singh und Chorsolisten beim unverkennbaren Fritsch-Slapstick © Monika Rittershaus

Nur nutzt das Fritsch nicht immer. Er ist ein Meister darin, die Sänger:innen auf der Bühne zu rollenden Kulleraugen, Zeitlupen-Bewegungen, Schunkeln zu überreden, zu Slapstick und oft entlarvenden Übertreibungen. Ein Experte für sensible Figurenführung aber ist er nicht. Manchmal webt und wogt die Musik längst weiter, während die Protagonist:innen immer noch dieselben Gesten vollführen. Manchmal stehen sie auch einfach nur beisammen und singen.

Das allerdings können sie allesamt großartig. In Berlin mit seinen drei Opernhäusern hält sich – trotz zahlreicher Gegenbeispiele – das Vorurteil, dass an Staats- und Deutscher Oper ordentlich gesungen, an der Komischen Oper vor allem gut gespielt wird. Mit den Wagner-Schwerpunkten dort kann dieser "Holländer" musikalisch aber locker mithalten. Günter Papendell in der Titelrolle etwa ist ein Ausnahmespieler mit einem äußerst kultivierten, nahezu grenzenlosen Bariton und erotischem Timbre. Kein Wunder, dass sich Senta in ihn verguckt! Die wirkt bei Daniela Köhler herrlich verstrahlt und dauerlächelnd besessen, und wer’s beim Sehen nicht versteht, der hört’s: Ihr Glutsopran fährt einem ins Mark, spannt die Bögen weit, saust auch mal mit Bestimmtheit herab. Diese Frau ist durch nichts zu stoppen!

Eitler Fatzke mit Tenor-Innigkeit

Ähnlich überzeugt das gesamte Ensemble bis in die Nebenrollen. Jens Larsen zeichnet szenisch wie vokal die Karikatur eines Gierigen, der seine Tochter verscherbelt und auch noch Spaß dabei hat. Brenden Gunnells Erik ist ein eitler Fatzke mit müheloser Tenor-Innigkeit. Karolina Gumos' Amme Mary hüpft mit Ironie-Mezzo dauerbeschwipst über die Bühne, Caspar Singhs hell strahlender Steuermann dreht in der Sturmpantomime groß auf. Und dann der Chor, der hier so viel zu tun hat wie selten: Schlagkraft und Spiellust, feinste Klangdynamiken und gröbste Albernheiten machen den Abend zu einem Erlebnis.

Die eine große "Holländer“-Interpretation also kriegt man an der Komischen Oper nicht. Dafür einen musikalisch zwingenden, szenisch über weite Strecken erfrischend witzigen Wagner-Spaß, der sich aber nie über die Geschichte erhebt. Am Ende schenkt Fritsch den Liebenden sogar ein Auffahren zu den Sternen – auch wenn es nur ihre leeren Kleider sind.

 

Der fliegende Holländer
von Richard Wagner
Musikalische Leitung: Dirk Kaftan, Inszenierung und Bühnenbild: Herbert Fritsch, Bühnenbild-Mitarbeit: Andrej Rutar, Kostüme: Bettina Helmi, Dramaturgie: Julia Jordà Stoppelhaar, Chöre: David Cavelius, Licht: Carsten Sander, Gemälde: Charlie Casanova.
Mit: Günter Papendell, Jens Larsen, Daniela Köhler, Brenden Gunnell, Karolina Gumos, Caspar Singh.
Premiere am 27. November 2022
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.komische-oper-berlin.de

Kritikenrundschau

Einen "Abend wie Faustschlag" hat der Kritiker Kai Luehrs-Kaiser von rbb Kultur (28.11.22) erlebt: "vielleicht Fritschs beste Opernarbeit bislang". Das "aufgegrellte Personal" passe erstaunlich gut zur "Schauerromantik des durchaus reißerischen Wagner-Stoffes", der Abend habe "enorme Kraft". Viele Solist:innen und Ensemblemitglieder habe er, so der Kritiker, bislang "nie besser gehört oder gesehen als hier". 

"Für alle, die Berührungsängste vor Richard Wagners düsteren Operngiganten haben, könnte die Neuinszenierung eine Einstiegsdroge sein", glaubt Volker Blech in der Berliner Morgenpost (28.11.22). Fritsch habe die Oper in ein Kinderzimmer verlegt, seine Version sei "bunt, regelmäßig überdreht" und meide alles Geheimnisvolle. Der Abend vergehe "wie im Fluge", man solle allerdings "nicht auf psychologische Turbulenzen warten". Das Fazit des Kritikers: "Das Ganze verströmt den Atem einer Opernparodie. Es ist sehenswert – solange das Original nicht in Vergessenheit gerät."

"Hochvirtuos" treibe Herbert Fritsch "alles in die Extreme", sehr geschickt schärfe er die Konstellationen, sagt Uwe Friedrich in der Sendung Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (27.11.22). Fritschs Ansatz zu sagen, "diesen ganzen Erlösungssumms bei Wagner vergesessen wir jetzt mal, im Grunde sind die doch alle manisch oder hysterisch oder depressiv, also im Grunde alles klinische Fälle, das ist klasse", urteilt der Kritiker. Ein Problem des Abends: "Das Bewegungsrepertoire nutzt sich dann eben doch relativ schnell ab." Und "die richtig guten Einfälle" – von denen es mehrere gebe – "ersticken dann so ein bisschen in diesem Aktionismus".

"Der Regisseur Herbert Fritsch verspricht allen, die unter vermeintlich oder tatsächlich überinterpretierenden Inszenierungen in der Oper leiden, Linderung: Lasst uns eine gute Zeit haben, ist doch ohnehin alles irgendwie alberner Quatsch." Wagner gebe in diesem Jugendwerk "mit wachem Instinkt, aber noch ohne spätere ideologische Schlagseiten, ohne mythische Verbrämung und ohne musikalische Drogenwirkungen seine Eindrücke von Mensch und Welt wieder", so Peter Uehling von der Berliner Zeitung (28.11.2022). "Fritsch fährt da mit dem Panzer drüber, und dann wird natürlich alles platt und Differenzen fallen weg."

Maria Ossowski von BR Klassik (28.11.2022) erkennt folgendes Motto: "Kein Gag kann flach genug sein, um den Tiefgang aus der Story um den verfluchten Seemann zu nehmen." Das mache Spaß, solange die Bühne voll sei. Leere sich die Bühne, werde es kritisch, dann ziehe es sich trotz aller Mätzchen eben doch. Meckern wolle die Kritikerin dennoch nicht. "Warum gerade Günter Papendell komplett überflüssige Buhrufe für seinen Holländer einstecken musste, ist nur mit den Unartigkeiten des Berliner Publikums zu erklären. Ich fand ihn als Anti-Holländer anbetungswürdig und Grund genug, diese Inszenierung insgesamt froh zu loben.“

Fritsch mache sich einen Spaß mit Wagners Frühwerk – "und beweist virtuos, dass man sich dabei glänzend amüsieren und die Oper trotzdem oder gerade ernst nehmen kann", schreibt Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (28.11.2022). „Das Orchester unter Dirk Kaftan spielt eher leicht, kantig und rhythmusbetont, als somnambul in den endlos gedehnten Schönklangräuschen zu schwelgen. Zu Fritschs Freude an der Show passt das hervorragend.“

 

 

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