Verzwergt vom übermächtigen Milieu

3. Dezember 2022. Mit riesenhaften Requisiten hantieren die Figuren hier – entmächtigt von einem Umfeld, in dem sie zu Wohlstand gekommen sind, aber dem sie nur Alkohol und Depression entgegenzusetzen wissen. Ewald Palmetshofer hat Gerhart Hauptmanns 1889 verfasstes Sozialdrama in die Gegenwart versetzt, Moritz Sostmann inszeniert.

Von Martin Krumbholz

Ewald Palmetshofers Aktualisierung von Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" in der Regie von Moritz Sostmann am Schauspiel Köln © Ana Lukenda

3. Dezember 2022. Keine Puppen diesmal. Stattdessen: Puppenstube. Der Regisseur Moritz Sostmann hat das Spiel mit fast lebensgroßen Puppen ja zu einer Art Perfektion getrieben, die Spieler halten sozusagen ihr Spiegelbild im Arm, die Puppen scheinen es ihnen beredt vorzuhalten, obwohl es ja wiederum die Spieler sind, die als Motoren ihrer Puppen fungieren. Berauschende, erhellende Bilder sind dabei im Lauf der Jahre entstanden. Jetzt, beim Hauptmann/Palmetshofer-Abend, verzichtet Sostmann darauf, hat einen überdimensionalen Tisch mit zwei Stühlen auf die Bühne stellen lassen, die Spieler derart selbst zu Puppen gemacht. Was natürlich nicht das Gleiche ist.

Von links bedrohtes Home-Castle

Worum geht es in Hauptmanns frühem Stück "Vor Sonnenaufgang", und was hat Ewald Palmetshofer daraus gemacht? Die Familie Krause/Hoffmann ist im Bergbau zu Wohlstand gekommen und versinkt jetzt in Alkohol, Überdruss und anderer Not. Hoffmanns Jugendfreund Alfred Loth erscheint als eine Art Messias, will nachsehen, was die werktätige Bevölkerung so treibt, eine der Schwestern verliebt sich in ihn, doch Loth ergreift panisch die Flucht, aus Angst vor der vermeintlich erblichen Wirkung des Alkohols. Suizidales Ende.

Palmetshofer dreht das Ganze in die Gegenwart und bringt aktuelle Debatten ein; der Autozubehörhändler Hoffmann hat es zu was gebracht und sieht sein bescheidenes Home-Castle (den riesigen Mittagstisch) von linken Ideologen bedroht, die alles besser wissen, aber nichts besser machen. Und Loth, der Kumpel von einst, gehört zu ihnen: er schreibt für ein linkes (inzwischen wohl: wokes) Wochenmagazin.

Alkohol in Riesenströmen

Man spürt allerdings, dass den Regisseur diese Debatten gar nicht so sehr interessieren. Sie werden eher beiläufig behandelt. Sostmann fokussiert auf die grotesken Momente, die das Spiel mit vergrößerten Requisiten hervortreibt. Loth, gespielt von Thomas Müller, tritt mit einem riesigen Motorradhelm auf, der so etwas wie einen Alien aus ihm macht. Auch die Frühstücks-Avocado und das Besteck, die Sektflaschen und -gläser, die Zigaretten und Feuerzeuge, Handtaschen und Ohrringe sind bizarr überdimensioniert, und diese den Menschen minimierende Deformation erzeugt einige sehr witzige, sehr hübsche Effekte: Etwa, wenn der Sekt regelmäßig wie ein Wasserfall in die riesigen Gläser rauscht. (Palmetshofer hat Hauptmanns brutal ausgespieltes Alkoholsyndrom allerdings durch das diskretere Depressionsmotiv ersetzt.)

Vor Sonnenaufgang 2 AnaLukenda uTischgesellschaft en miniature: das Ensemble in "Vor Sonnenaufgang" © Ana Lukenda

Überraschend ist, dass der von Nikolaus Benda gespielte Hoffmann einige Male gegen seinen Jugendfreund punktet. Vielleicht auch nicht so überraschend. Das permanente Rechthaben, die ständige moralische Überlegenheit des Outsiders, die Thomas Müller zwar nicht überbetont, die aber doch im Text angelegt scheint, ist ja eine recht öde Angelegenheit, also fällt das Duell der beiden Freund-Feinde keineswegs so einseitig aus, wie man vielleicht annehmen könnte. Hauptmann hat vermutlich gewusst, warum er den scheinbar so rechtschaffenen, so selbstlosen Alfred Loth am Schluss ziemlich feige die Flucht ergreifen lässt. Bei Sostmann läuft er buchstäblich einfach davon und lässt Geliebte samt Anhang mit offenen Mündern zurück.

Verloren im Milieubild

Und die Figuren drum herum? Anja Lais als Frau Krause, Katharina Schmalenberg als hochschwangere Martha, Rebecca Lindauer als verliebte Helene, sie sind alle sehr präsent, aber letztlich verlieren sie sich förmlich in einem grotesk überzeichneten Milieubild mit deftigen Requisitenscherzen. "Sie üben aneinander David-Lynch-Justiz", witzelt das Programmheft. Tatsächlich hätte der Horror noch heftiger, noch abgründiger sein können. Denn gruselig ist dieser Abend nicht wirklich. Allenfalls amüsant.

Und das ist doch erstaunlich angesichts einer Vorlage, die als einer der größten Skandale in die Theatergeschichte eingegangen ist. Die Uraufführung in Otto Brahms‘ Theater war eine geschlossene Veranstaltung. Um Krawall zu machen, musste man extra Mitglied werden, und einige haben das tatsächlich getan. Der Typ, der im Saal eine "Geburtszange" schwang, als auf der Bühne nach einer Hebamme gerufen wurde, ist zur bleibenden Metapher geworden für den höhnisch-reaktionären Einspruch gegen die Moderne. Auch heute sind ja ähnliche (und weniger lustige) Protestaktionen gegen das Gegenwartstheater denkbar, allerdings kaum aus gegebenem Anlass in Köln. Aber vielleicht fehlen auch nur die Puppen.

 

Vor Sonnenaufgang
nach Gerhart Hauptmann von Ewald Palmetshofer.
Regie: Moritz Sostmann, Bühne: Christian Beck, Kostüme: Elke von Sivers, Licht: Michael Frank, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen.
Mit: Daniel Nerlich, Anja Lais, Rebecca Lindauer, Katharina Schmalenberg, Nikolaus Benda, Thomas Müller, Paul Basonga.
Premiere am 2. Dezember 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspiel.koeln.de

 

Kritikenrundschau

"Was an diesem Abend erzählt werden soll, wo die Dringlichkeit liegt, das wird nicht so richtig klar", bemerkt Dorothea Marcus im Deutschlandfunk (3.12.2022). Seltsam weltfremd erschienen die Gespräche der Familie im Angesicht der gegenwärtigen Krisen. Des Patriarchen Alkoholismus und die Wutausbrüche seiner Frau wirkten "unmotiviert und aufgesetzt", der Gegensatz zwischen rechtem, konservativem Unternehmer und linkem, moralischem Außenseiter gehe nicht auf; er scheine Moritz Sostmann auch nicht zu interessieren. Der Regisseur spiele lieber mit der aus der Ausstattung resultierenden Komik. "So großartig das Bühnenbild, so lustig, surreal und sehenswert die Riesenrequisiten, am Ende erscheinen sie doch bloß wie Theaterdekoration." Anders als bei Hauptmann und seiner Milieustudie einer Aufsteigerfamilie gehe es in der Kölner Inszenierung "um die Spiegelung einer saturierten Dekadenzgesellschaft". Insgesamt wirke das wie "ein Pseudodrama aus einer finsteren Fernseh-Seifenoper", so Marcus.

Das Bühnenbild sei "eine schlagende Metapher", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (3.12.2022): "Die Krauses sind das Spielzeug der übermächtigen Warenwelt, nicht andersherum." Doch die zeitgeistigen Themen, die Palmetshofer der Hauptmann’schen Vorlage aufbürdet, wirkten in der Abschiedsinszenierung von Moritz Sostmann nach neun Jahren als Hausregisseur in Köln "noch aufgepappter", so Bos: "Wenn der woke Alfred dem zur politischen Demagogie neigenden Thomas das Auseinanderdriften der Gesellschaft vorhält, hört man den Autor predigen, obwohl Müller das herrlich weinerlich spielt. Helenas Unglück bleibt so diffus wie Marthes Depressionen." Bos lobt Anja Laïs, die der statusbewussten Stiefmutter "ungeahnte Tiefe" verleihe, und Paul Basonga, der "passend zum grotesken Bühnenbild" spiele. Aber das Geschehen lässt den Kritiker "seltsam unberührt". Eigentlich sei nach den ersten drei Minuten schon alles gesagt: "Das ist der Fluch der einleuchtenden Idee."

Ewald Palmetshofer, "gewissermaßen Verjüngungsspezialist für Klassiker, deren Patina er entschlossen wegpoliert", ziehe Hauptmanns Stück den sozialen Stachel, schreibt Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (5.12.2022). "Statt Bauern, die durch Kohlefunde reich wurden und daraufhin Bergleute ausbeuten, sieht man jetzt zeitgenössische Fabrikanten, denen der arme Gegenpol fehlt." Regisseur Moritz Sostmann setze aber "ohnehin eher auf die Knalleffekte der XXL- Kulisse". Der bittere Kern des Stücks drohe im Slapstick-Trubel verloren zu gehen. Berührende Momente schaffe Katharina Schmalenberg als Martha, die stärkste Szene gehöre Anja Laïs, "die als Annemarie leise weinend erkennt, dass sie ihr Leben an einen Kretin verschwendet". Psychische Abgründe, so Wilmes, würden "tiefer aufklaffen, wenn sich der Abend je zwischen aufgeschrillter Family-Soap und bürgerlicher Höllenfahrt entscheiden könnte".

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