Ohne Tod und Vergessen

von Ralph Gambihler

Jena, 18. Dezember 2008. Ein Theaterabend am Puls der Zeit, gemacht für alle Ewigkeit – das wär’s! Einer muss der Welt ja mal zeigen, wo Gott die Musen küsst. Vor dem großen Wurf allerdings kommt die große Krise, im Kollektiv durchlitten, entwickelt sie sich sogar sehr zuverlässig. Und so dauert es nicht lange, bis Regisseur, Bühnenbildner und Autorin über Kreuz liegen. Der Götterblick kommt ihnen abhanden, die Frisuren lassen erkennen, dass darunter scharf nachgedacht wird. Und wenn gar nichts mehr geht, hilft immer noch die Flucht in die Kantine.

Die Mühen der Theaterproduktion werden am Theaterhaus Jena selbst Theater. So läuft das in der neuen Textcollage von Tomas Schweigen, die bei Sophokles beginnt und bei Arbeitskommentaren wie "Das ist super!" und "Echt geil!" nicht aufhört. Im Kern geht es in "Memento" aber um Vergänglichkeit und Tod und einen Geisteszustand, der eine, wenn auch rätselhafte, Verwandtschaft zu diesen Kategorien ausweist: das Vergessen.

Karambolagist

Schon in Second Life, einem ebenfalls selbst erarbeiteten Stück über das virtuelle Leben im Internet, führte der nun 31-jährige Tomas Schweigen seine Kunst der Karambolage vor. Ganz unterschiedliche Texte aufeinander prallen zu lassen und mit eigenen Beigaben anzureichern, macht ihm Spaß. Irgendwo zwischen Denkerstube und Boulevard tüftelt er an seinen Stücken, und so ist es auch diesmal.

Die erste Szene muss man sich als kuriose Rolle rückwärts in ältestes Repertoire vorstellen. Ein demenzkranker Schauspieler (stets verlegen: Gunnar Tietzmann) steht im Lichtkegel und durchschwitzt die Peinlichkeiten des Nichtwissens. Wo bin ich hier? Huch, da sitzen ja Leute! Was soll ich nur machen? Aber da liegt ja Geld auf dem Boden! So läuft das eine Weile, bis das Langzeitgedächtnis des Schauspielers plötzlich etwas zu fassen bekommt mit der Folge, dass sich der Mann zu Boden wirft, direkt hinein in die Rolle des Oedipus, mit Schreckensmiene und schwerem Schrei: "KREON! KREON!"

Diese Szene wird sich zweimal wiederholen. Sie ist Running Gag und Kontrapunkt in einem Stück, das den Zuschauern immer ein bisschen enteilt, indem es zwischen zwei Ebenen springt. Es gibt nämlich eine (um die Vergänglichkeit des Lebens kreisende) "Stück"-Ebene, auf der manches Memento-Mori-Motiv herumgeistert, und eine (um die Vergänglichkeit der Theaterkunst kreisende) "Inszenierungs"-Ebene, auf der das Trio Regisseur, Bühnenbildner und Autorin durch die alten, Bühnenbombast zitierenden Kulissen von Stephan Weber stiefelt, zunächst euphorisch, bald depressiv. Die "Stück"-Ebene ist dabei nichts anderes als der aktuelle (und meist mäßige) Probenstand der "Inszenierungs"-Ebene. Die Damen und Herren Künstler (Julian Hackenberg, Ralph Jung, Zoe Hutmacher) sind mit ihrer Kunst nicht zufrieden. Der demenzkranke Schauspieler zählt nicht, der hat eh gleich wieder alles vergessen.

Das Leben als oberste Genehmigungsinstanz

Wir sehen: Eine dramatische Bastelarbeit, ein Irrwitz-Stückchen in philosophischen Umständen, eine komische Etüde mit grotesken Spitzen. Tomas Schweigen bekommt es dabei allerdings auch mit den eigenen kreativen Schüben zu tun. Denen wird er nicht mehr Herr. Auf der "Stück"-Ebene lässt er mit dem Tod und dem (alternden) Leben zwei mittelalterliche Allegorien gegeneinander antreten. Er verwendet dabei zunächst den Text aus dem Lübecker "Totentanz", den Hugo Distler 1934 auf vormoderne Verse von Angelus Silesius und Johannes Klöcking komponierte: "Dein bester Freund, dein Leib, der ist dein ärgster Feind, er bind’t und hält dich auf: Dein bester Freund, so gut er’s immer meint!" Es läuft dann natürlich auf eine Demontage hinaus, mit Shakespeare, Schubert, Power-Gerontologie und Gentechnik.

Der Tod (ein graziles Skelett mit verfremdeter Stimme: Saskia Taeger) zieht auf Dauer den Kürzeren. Die Verwaltung des Ablebens ist eben auch nicht mehr, was sie einmal war. Irgendwann kommt ihm das Leben (im Pünktchenkleid alternd: Vera von Gunten) mit zwei Formularen und präsentiert sich frech als oberste Genehmigungsinstanz. Außerdem bevorzugt der Mensch des 21. Jahrhunderts sowieso die Tiefkühltruhe, nicht das Jenseits.

So geht es mit der Vergänglichkeit dahin. Auf der "Inszenierungs"-Ebene sind sie derweil von "mehr Aktualitätsbezug" zu einem "Theater für die Ewigkeit" übergegangen. Berauscht von der Größe der eigenen Idee recken sie die Fäuste. Auch da hat die Vergänglichkeit verspielt. So schaukelt der Abend von Einfall zu Einfall, von Bedeutung zu Bedeutung und kommt einem doch vor wie eine Folge von Luftnummern. Ein ausgeschlafen spielendes Ensemble und ein Video mit zwei sensationellen Alten aus dem Weimarer Wohn- und Pflegeheim für Schauspieler bleiben dagegen chancenlos.

Memento – Manifest für ein ewiges Leben
Tomas Schweigen, Uraufführung
Regie: Tomas Schweigen, Ausstattung: Stephan Weber.
Mit: Vera von Gunten, Julian Hackenberg, Zoe Hutmacher, Ralph Jung, Saskia Taeger, Gunnar Titzmann.

www.theaterhaus-jena.de

Zuletzt besprachen wir von Tomas Schweigen: Second Life im Oktober 2007 in Jena.

 

Kritikenrundschau

Jena ist nicht Salzburg! freut sich Frank Quiltzsch in der Thüringischen Landeszeitung (20.12.) über diesen Abend, den er wegen der darin vollzogenen "virtuosen Wechsels zwischen Kunst und Wirklichkeit" an Größe gern mit Woody Allens Klassiker "The Puple Rose of Cairo" verglichen wissen will. Doch wer glaube, dass mit dieser Persiflage auf Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" unter Verwendung von Schuberts Lied "Der Tod und das Mädchen" schon alle Messen gesungen seien, irre. Denn um das pompöse Bühnenbild von Stephan Weber lasse Tomas Schweigen noch allerhand andere Wunder wirken. Allerdings ist für Quiltzsch der große Vorzug der Inszenierung, ihre Opulenz und Vielschichtigkeit, zugleich auch ihre Schwäche: "Der Diskurs läuft manchmal ins Leere, einige Fragen kratzen nur an der Oberfläche und Motive drehen sich im Kreis."

 

 

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