Raus aus dem Kapitalozän!

10. Dezember 2022. "Gletscherschmelze, Kontoschmelze, Ich-Schmelze": In Kevin Rittbergers neuem Stück wagt der Chef einer erfolgreichen Firma den radikalen Ausstieg aus der Kapitalwirtschaft, um den Planeten Erde zu retten. Nora Schlocker bringt es im Marstall des Münchner Residenztheaters zur Uraufführung.

Von Dorte Lena Eilers

"Der Entrepreneur" von Kevin Rittberger am Residenztheater München © Sandra Then

10. Dezember 2022. Achtung, dieser Text wird ganz kurz. Oder sollte zumindest kurz werden, denn wir haben ja keine Zeit. Keine Zeit, um groß zu diskutieren. Keine Zeit, um Strategien gegeneinander abzuwägen. Keine Zeit, um Ökobilanzen zu fälschen und Zertifikatehandel zu betreiben. Keine Zeit auch, um acht, zehn, vierzehn Stunden am Tag am Schreibtisch zu arbeiten, wie auch Nachtkritiker es mitunter tun, die tagsüber noch anderen Tätigkeiten nachgehen. Alles muss anders werden. Und zwar schnell.

Vollbremsung im monetären Dauersprint

Ganz so rasant, wie es die gedankliche Anlage des neuen Stücks von Kevin Rittberger hergeben würde und wie es auch Robert Dölle in seinem Prolog als dauerelektrisierter Firmenchef im Marstall des Münchner Residenztheaters vorlegt, verläuft der Abend indes nicht.

Dölle spielt den titelgebenden Entrepreneur, einen Mann im monetären Dauersprint, den mitten im schwitzenden und zitternden Drogendelirium – alle sind "unfassbar nice", was möglicherweise an der abenteuerlichen Kombination von Keta, Koks, MDMA, GHB, GBL liegt – der Schlag trifft: "So geht’s nicht weiter“. Und prompt windet er sich am Boden. Ein Winzling? Nein, ein "Wirling". Denn das "Ich“ ist aus der Mode gekommen, ist einem "Wir" gewichen, das es bislang so noch nie gab. "Wir sagen Wir, ohne ein anderes Wir zu unterschlagen", so der Entrepreneur. "Ein anderes Wir neben unserem. Wir neben anderen Wiren. Also mit W. Wir werden kleiner. Wiriche. Wirlinge. Und wenn wir die einzigen wären, die kleiner werden … und die anderen uns nun zurecht auf den Deckel hauen, so hätten wir doch etwas für den Erhalt des Planeten getan, des Planeten als Habitat und gigantische Biomasse, darunter auch mehrere Milliarden Menschen."

Der Entrepreneur4 805 Sandra Then u"Wirlinge" im Münchner Marstall: Delschad Numan Khorschid, Anna Bardavelidze, Robert Dölle, Nicola Kirsch, Christoph Franken, Lisa Stiegler und Patrick Bimazubute © Sandra Then

So. Jetzt ist es raus. Es geht um die Rettung der Erde, die der Mensch mit so vielen Krisen übersäht hat, dass sie sich kaum noch zählen lassen. Krise? Welche Krise jetzt genau? Daher, Vorschlag: "Wollen wir nicht einfach Krissel sagen? Krissel! Oder Kritze!" Vielleicht ließe sich ja so wieder die nötige Dringlichkeit erzielen. Postwachstumsökonomen wie Niko Paech zumindest fordern es schon lange: Raus aus dem Kapitalozän. Sonst können wir es mit der Zukunft auf diesem Planeten vergessen.

Hölzer und Thesen poltern

Kevin Rittberger hat für das Residenztheater München dazu nun das passende Stück geschrieben. Eine Art "Ent-Lehrstück", wie er im Programmheft erklärt, inszeniert von Hausregisseurin Nora Schlocker, das der Frage nachgeht, was passierte, wenn wir ernst machten mit der Idee eines radikalen Ausstiegs. Rittbergers Protagonist, besagter Entrepreneur, jedenfalls hat es gewagt: Er hat sein Haus verkauft, sein Auto verliehen, seinen Fahrer abgeschafft und seine Firma einem sich selbst verwaltenden Syndikat übergeben, sprich: seinen ehemaligen Angestellten. Völlig hierarchiefrei arbeiten diese nur noch drei, vier Stunden am Tag. Den Rest der Zeit helfen sie bei Baumpflanzungsprojekten mit, bohren Brunnen für temporäre Waldbewohner oder betreuen Kinder, die sonst keine Betreuung hätten. "Pyramide Macht du fetter alter Apfel / Schmeckst uns nicht mehr."

Das Bühnenbild-Duo Jana Findeklee und Joki Tewes hat den Marstall in eine Szenerie verwandelt, in der das Holz mit den hier durchgespielten Thesen um die Wette poltert. Die eine Längsseite des Karrees, in dem die Zuschauer sitzen, wird von hölzernen Sitzreihen dominiert, auf denen aufgereiht hölzerne Stämme stehen, die das Ensemble nach und nach auf die Spielfläche räumt. Der wahre Hauptdarsteller an dem Abend aber ist eine sechs Meter hohe knorrige Säule, die in der zweiten Hälfte des Abends wie ein Totem in der Mitte der Bühne thront und aus ökologisch abbaubarem Pilzmyzel besteht. Ein Bühnenbild zum Kompostieren, hergestellt am Institut für Naturstofftechnik der TU Dresden. Fungi Future. Ein Pilz rettet die Welt.

Klingt wie im Esoterik-Seminar

"Ja, ja, ihr Gerechten", möchte man da, mit Blick auf die potente Heizungsanlage im an sich sehr zugigen Marstall mit den Worten der Tochter des Entrepreneurs murmeln. Das Stück will viel Gutes, sodass es nur ein bisschen böse und damit auch nur ein bisschen dialektisch gerät. Nora Schlocker hat sich zudem entschieden, sämtliche Figuren im Wechsel von allen spielen zu lassen. Das hat, insbesondere was die Figur des Entrepreneurs betrifft, nicht immer gute Folgen. Brachte Robert Dölle noch die Hitzigkeit des Unternehmers mit, kippt die Wandlung der Figur zum naturliebenden Systemsprenger bei Nicola Kirsch ins Weiche und verliert damit an Reibung. "Ein Stück der Welt sein, der Metamorphose fähig, der Geburt fähig. Wir sind Kinder von Kindern, sterben, leben weiter, in allen erdenklichen Formen." Sätze wie diese klingen plötzlich wie aus einem Esoterik-Seminar.

Es ist allerdings auch nicht so, dass sich Stück und Inszenierung Ambivalenzen grundsätzlich verweigern. Tatsächlich driften die Weltrettungs-Utopien mal ins Spirituelle, mal ins Sektenhafte und mal ins Dystopische, wenn am Ende der Rat aller Räte auftritt, zu dem neben der Sorgerätin, dem Klimarat, der Ethikrätin, dem Flüchtlingsrat auch der KI-Rat zählt, deren Repräsentantin aus einer körperlosen, synthetischen Stimme besteht. Die Syndikalisten wiederum tragen Arbeiter-Overalls mit aufgemalten Taschen und Revers (Kostüme ebenfalls von Jana Findeklee und Joki Tewes), als könnten sie sich nicht zwischen Sozialismus und Kapitalismus entscheiden. Gerade sie aber sind neben dem Entrepreneur die eindringlichsten Figuren im Stück, verkörpern sie doch am konkretesten, wie sehr der Mensch an alten Glaubenssätzen hängt. Die schöne neue Welt der Mitbestimmung ist für sie nicht attraktiv. Sie wollen Führung, "Dauer-Competition" und zwölf Stunden Arbeit am Tag.

Der Entrepreneur1 805 Sandra Then uNachhaltig: das Ensemble des Residenztheaters auf der Bühne, welche die Naturstofftechnik der TU Dresden mitgestaltet hat © Sandra Then

Das Pilzmyzel mit seinen vielfältigen unterirdischen Verknüpfungen steht in der Inszenierung nicht nur für die Möglichkeit eines neuen, nachhaltigen Bauens, sondern dient auch als Metapher für eine solidarische und somit wettbewerbsfreie Gesellschaft, die nicht-menschliche Akteure mit einschließt. Eben: Das neue Wir. Dieser abstrakte Gedanke mäandert jedoch so rhizomhaft durch das Stück, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler, auch bedingt durch die ständigen Figurenwechsel, echte Spielszenen suchen müssen wie Pilze im Wald. Nur Lisa Stiegler, Delschad Numan Khorschid und Robert Dölle finden als Tochter beziehungsweise Entrepreneur zu einer Lässigkeit und Spontanität, die Stoff und Figuren die nötige Fallhöhe geben.

Gerade in München, der Start-up-City, wäre die Nachricht, dass es alsbald nur noch End-ups geben könnte, weil Privatwirtschaft und Staat "Hand in Hand ins kollektive Abwracken investieren", durchaus einen Schreckensschrei wert.

 

Der Entrepreneur
von Kevin Rittberger
Regie: Nora Schlocker, Bühne und Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes, Musik: Yoav Pasovsky, Video: Sven Zellner, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Ewald Palmetshofer.
Mit: Anna Bardavelidze, Patrick Bimazubute, Robert Dölle, Christoph Franken, Delschad Numan Khorschid, Nicola Kirsch und Lisa Stiegler.
Premiere am 9. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, Keine Pause

www.residenztheater.de

 

Mehr zu Kevin Rittberger: Der Autor war zuletzt in unserer Videoreihe Streitfall Drama zu Gast. 

 

Kritikenrundschau

In seiner "Verschmelzung von Ökonomie und Ökologie ist dies das Theaterstück zum Hier und Jetzt, könnte man meinen", schreibt Mathias Hejny in der Abendzeitung (12.12.2022). "Doch schon die Idee von Regisseurin Nora Schlocker, die Rollen unter den sieben Darstellerinnen und Darstellern weiter reichen zu lassen, erweist sich als wenig hilfreich in einem Stück, das ohnehin von unserer unübersichtlichen Epoche zu erzählen versucht. Aber nach dem brisanten Start verläuft sich die Erzählung im myzelbasierten Wald, der im Verlauf von fleißigen Overallträgern gerodet wird, in statischem Erklärtheater zwischen intelligenter Süffisanz und schwer lastendem Pathos. Dem eloquenten Diskurs folgt das schlaue Referat und umgekehrt. Es passiert das, was fast immer bleibt, wenn es um die Weltrettung geht: Eine verpasste Chance mehr."

Von Kevin Rittbergers "utopischem und zugleich erschreckend realistischem und plausiblem" Stück berichtet Ulrike Frick im Merkur (12.12.2022). Nora Schlocker habe es in einem "kurzweiligen Abend umgesetzt" und biete dem Ensemble Raum, "mit dem machmal didaktisch holzhammerartigem, manchmal aber auch überraschend klugem Text zu glänzen".

Für Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (11.12.2022) ist der "Entrepreuneur" ein "Musterbeispiel für eine ehrenwerte Schreibunternehmung, bei der einer viel will, aber wenig erreicht". Denn Kevin Rittberger "hat große Scheu, hier Menschen zu erzählen, stattdessen entdeckt er seifige Argumentationskonstrukte". Die Inszenierung wirke gut gelaunt, die Aneignung der "störrischen Worte", gelinge teils besser, teils wirke der Text auch bloß "aufgesagt".

Michael Laages in der Sendung "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (9.12.2022) gibt vor allem die Stückhandlung und das ökologische Anliegen wieder und schildert, "dass alle in absehbarer Zeit verzichten werden müssen, und dass es dafür eine kluge Strategie braucht, dass wir verstehen, warum verzichtet werden muss, um die Welt, wie sie ist, in irgendeiner Form zu retten. Ob das klappt oder nicht, ist auch im Stück nicht wirklich klar. Aber das ist das Motiv."

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