Planet Rainald

von Wolfgang Behrens

Berlin, 18. Dezember 2008. Rainald Goetz ist ein Sound-Seismograph. Hellwach, hochempfänglich, hypersensibel spricht er auf Tonfall und Klang öffentlich geäußerter Sprache an, wittert ihnen nach, verwandelt sie sich an und spürt untergründige Schwingungen darin auf. Er kann wie kaum ein anderer auch seine eigenen Gedanken zu Sound werden lassen, und vermag im Sound einen Gedanken freizulegen.

Man wird vielleicht sogar sagen dürfen, dass Goetz sich am Sound aufgeilt. "Festung", 1993 veröffentlicht und uraufgeführt, gilt als ein Theaterstück über Sprachkritik. Ein 150-seitiger handlungsloser Text über Gerede, der sich als hybride Fernsehshow mit dem Datum 9. November 1989 ausgibt. Die Kürzestzusammenfassung am Anfang des Suhrkamp-Bandes lautet: "Das Wannseekonferenzstück 'Festung' handelt vom heutigen Reden über den deutschen Beschluß zur Vernichtung der Juden."

Hunderfältiger Sound der Verdrängung

So eindeutig ist das allerdings nicht, oft genug wird von etwas völlig anderem geredet, und der Wannseebeschluss begleitet das Gerede dann nur durch seine Abwesenheit. Was wiederum ein Teil des bösen Witzes ist. Doch Goetz' sprachkritische Haltung ist auch immer eine der Sprachlust, ja, der Sprachlustigkeit. Die hundertfältigen Sounds, die er im verdrängenden, enthüllenden oder betroffenen Gerede vorfindet, vom Fernsehtrash über poppigen und neoexpressionistischen Jargon bis zum "linkssensiblistischen" Theoriengehubere à la Frankfurter Schule, all diese Tonfälle werden von Goetz nicht einfach nur entlarvt – er springt mit überschäumender Freude mitten in sie hinein. Mit einem bildhauerischen Furor, der die Sprache nur so splittern lässt, macht er sie – ob im Spiel oder im Ernst – auch zu einem Teil von sich selbst.

"Festung" ist natürlich eine gewaltige Zumutung für das Theater. Mit Patrick Wengenroth hat sich nun am HAU Berlin gewissermaßen ein Spezialist der Sache angenommen. Denn Wengenroth hat selbst mit seiner "Planet Porno"-Serie ein Theater-Show-Format entwickelt, das Collage-Prinzipien folgt und dem medialen Gerede auf den Zahn fühlt.

Bart Simpson, Rudi Carell und Goethe

Gewappnet mit dieser Erfahrung, entgeht Wengenroth der Gefahr, "Festung" zum formalistisch überhöhten Hörspiel zu stilisieren, und jagt seine zehn Schauspieler auf der schwarzen, von Neonröhren gerahmten Bühne stattdessen in ein Amalgam aus Kabarett, Dada und Poptheater – inklusive der Tophits des Jahres 1989 "Don't worry be happy" und "Another day in paradise".

Das hat seine starken Momente, wenn Wengenroth der überdrehenden Goetz'schen Sprachschraube popkulturell kodierte, komisch irrlichternde Entsprechungen auf der Bildebene entgegenzusetzen weiß: Wenn etwa Peter Schneider in einer Bart-Simpson-Maske aus widerborstigem Gummi mühsam versucht, ein Mikrofon durch die Mundöffnung der Maske zu stoßen, um sich nach endlichem Gelingen mit dem quasi-verschluckten Mikro am Mikrofonständer festzuklicken, ist das von wirklich abseitigem Witz.

Oder wenn Vivien Mahler als ein weibliches Alter Ego von Rainald Goetz agiert und ganz texttreu von der Genese des Stückes erzählt, dabei aber genüsslich das bekannte Tischbein-Gemälde "Goethe in der Campagna" vor gemaltem Hintergrund nachstellt und schließlich Rudi Carrells "Goethe war gut" travestiert – da fallen Dichterselbstinszenierung und Dichterparodie so irritierend wie albern in eins.

Plötzlich ist man so erloschen

In ihren schwächeren Teilen neigt die Aufführung dazu, die Tonfälle des Stücks auf die nur enttarnende Satire zu verkleinern. Dann gleitet sie auf ein eher mäßiges Kabarett-Niveau herab – ein Sound, der nur bloßgestellt wird, verliert schnell an Interesse. Die Peinlichkeit einer schlecht auf Pointe geschriebenen Rede vorzuführen, indem man sie schlecht vorführt, entgeht der Peinlichkeit noch nicht.

Um so schöner ist der allererste Anfang des Abends. Eva Löbau spricht da einen Monolog über das Rechthaben: "gerade war man doch noch angestrahlt vom herrlichen eigenen Rechthaben selber ein herrlich Strahlender und jetzt plötzlich ist man so erloschen innerlich […] und je mehr man macht um so unweigerlicher und endgültiger mutiert das einstige Rechthaben zur Rechthaberei".

Sie spricht das konzentriert, ohne einen aufgesetzten satirischen Zungenschlag – und man ist ganz dabei, man gerät in den Sog dieses Sounds, so wie sie sich diesem Sog anvertraut. Und dann merkt man, wie viel Liebe und Hingabe Goetz in die Herstellung dieses Sounds steckt, und das ist eben kein Kabarett – das ist Seismographie.


Festung
von Rainald Goetz
Regie: Patrick Wengenroth, Bühne: Mascha Mazur, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Lichtdesign: Hans Leser. Mit: Charlotte Engelkes, Marie-Thérèse Fontheim, Marie Goyette, Brigitte Lahn, Eva Löbau, Vivien Mahler, Christian Beermann, Detlef Bothe, Georg Scharegg, Peter Schneider und Latest Edition (Robert Blank, Steve Hepner, Markus Krafczinski, Thomas Kunze).

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

Zufrieden hat Jörg Sundermeier das HAU verlassen, der seine Eindrücke in der Berliner taz (20.12.) protokolliert. Patrick Wengenroth hat aus seiner Sicht nämlich vieles richtig gemacht. Zum Beispiel Rainald Goetz nicht zu aktualisieren, sondern den Text in der Zeit zu verankern, in der er entstand. Auf diesem Weg befördert der Abend zu Sundermeiers Freude ein ganzes Panpotikum vergessener Schrecken an Bühnenlicht, von Katja Ebstein bis Wolfgang Pohrt. Auch das Konzept, den Text als das ernst zu nehmen, als was er sich maskiert, als Fernsehshow nämlich, überzeugt - und damit auch auch das spielfreudige Ensemble. Zwar deutet der Kritiker auch Hänger während der Veranstaltung an, findet aber insgesamt diese Goetzaneignung völlig angemessen.

 

Kommentare  
Festung in Berlin: zwischen Banalität und Zuspitzung
Eine schöne Kritik hat der Herr Behrens da geschrieben.
Es war eine Inszenierung zwischen langweiliger Banalität und genialer Zuspitzung, insofern dem Goetzschen Schreiben nicht unähnlich.
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