Die Familie Schroffenstein - Staatsschauspiel Dresden
Spiegelbilder der Gegenwart
11. Dezember 2022. Was tun mit Heinrich von Kleists Erstlingsdrama um eine entzweite Ritterfamilie? Ironisieren? Ernst nehmen? In Dresden hat Tom Kühnel für "Die Familie Schroffenstein" Zugriffe auf einer Bühnenschräge gefunden, die erst befremden, dann aber ins Mark treffen.
Von Tobias Prüwer
11. Dezember 2022. Die Welt ist eine Scheibe in Schieflage. Zumindest jene Bretter, die die Welt der "Familie Schroffenstein" in Dresden bedeuten. Auf einem schräg gelegten Kreis lässt Regisseur Tom Kühnel seine Akteure in Dresden sich behaupten.
"Darf ich mal durch?"
Im Zwist beginnt hier Heinrich von Kleists Erstlingswerk: Wegen eines Erbvertrags sind die Zweige der Familie Schroffenstein zerstritten. Stirbt das Haus Rossitz um Patriarch Rupert aus, fällt sein Besitz ans Haus Warwand um Graf Sylvester – und vice versa. Ihr Verhältnis ist von Misstrauen geprägt. Da beide Stammsitze nah beieinander liegen, kommt, was in einer Tragödie kommen muss: Warwand-Tochter Agnes trifft auf Rossitz-Sohn Ottokar, beide verlieben sich ineinander, ohne um die jeweilige Herkunft zu wissen. Als sein jüngster Spross Peter stirbt, glaubt Rupert, Sylvester hätte ihn ermordet und schwört Rache. Das Blutbad beginnt. Zu spät erkennen alle, dass auch eine Hexe ihre Hände mit im Spiel hat. "Macbeth" meets "Romeo und Julia", Tragödie kippt in Komödie, Schicksal wird zum Blendwerk des Zufalls und umgekehrt.
Als schiefe Ebene hat Jo Schramm die Bühne so einfach wie raffiniert gestaltet. Im rechten oberen Viertel der weißen Kreisfläche ist ein halber Zylinder eingelassen, der durch Drehen zum Innenraum und zur Projektionsfläche wird. Hingeworfene Lichtbilder einer gotischen Rosette oder einer Felsenlandschaft machen die Bühne im Nu zum jeweiligen Familienstammsitz oder zum Platz des Stelldicheins im Gebirge. Derart ineinander geblendete Szenen ermöglichen rasche Ortswechsel. Dazu trägt auch bei, dass der rastlose Ritter Jeronimus anfänglich aus den Zuschauerreihen heraus agiert. Außerdem bringt das Dynamik: Matthias Reichwalds körperliche und stimmliche Präsenz setzt einen ersten starken Akzent und besorgt beim Abgang Lacher: "Darf ich mal durch? Ich brauche ein bisschen Platz für die langen Schuhe."
Täuschung und Selbsttäuschung
Kleists üppiges Personal wird hier auf immerhin noch 13 Rollen reduziert, genug, um Trubel auf die Bühne zu bringen. Dabei sind es besonders die leisen Momente, die bis zur Pause überzeugen. Etwa wenn Agnes ikonengleich zu schweben scheint, wenn sich Ottokar an ihre erste Begegnung erinnert. So ganz wollen die Spielenden aber nicht in ihre Rollen finden. Mal wird bedeutungsvoll Text aufgesagt, dann agiert eine Person heftig aus, wird eine andere komödiantisch. Das will alles nicht ganz zusammenpassen.
Zumal wenn ein plötzlich fragiler Rupprecht, eben noch halbnackt in Rambo-Manier den Morgenstern schwingend, mit der übergroßen Projektion seiner Frau Eustache interagiert. An der schauspielerischen Leistung mag das nicht liegen. Aber wieso übertrumpft hier eine famose Christine Hoppe wie auch in anderen Szenen Thomas Eisen, der doch sonst anders kann? Warum überstrahlt die fantastische Henriette Hölzel als Agnes alles mit ihrem Spiel? Sie ist so genau in Gesten der Anmut und der Wut, ganz bei sich, wo andere zu exzentrisch scheinen. Und irgendetwas will auch an Ulrike Gutbrods Als-ob-Renaissance-Kostümen nicht stimmen, wenn die Frauen moderne Schuhe, die Männer Schnabelschuhe tragen. Und sich die Strumpfhosen der Helden bei genauem Hinsehen als modern bedruckte Leggings erweisen.
In der Hexenküche
So schleicht sich allmählich die Vermutung ein, dass der unentschlossen wirkende Zugriff einem Regieplan folgt. Der sich zuerst aufdrängende Gedanke: Tom Kühnel zweifelt, ob man dem Text noch trauen kann. Dann aber bewegt sich der Abend auf die entscheidenden Szenen zu. Kleists im Grunde schlichter Clou liegt in der Missinterpretation der Umstände und Selbsttäuschung seiner Figuren. Darauf baut Kühnel in zweierlei Hinsicht. Zum einen fügt er kitschige Melodien – etwa eine deutsche Version von Elton Johns "Candle in the Wind" –, Instagram-Posen und Handkameraprojektionen Spiegelbilder der Gegenwart hinzu. Selbstsuche und -inszenierung, verschwimmende Unterschiede zwischen Fake und Wahrheit treiben doch die Jetztmenschen um. Zum anderen irrt der Zuschauer, wenn er hier planlose Ideen vermutet, mit der sich die Regie über die gut zweieinhalb Stunden hangelt.
Das macht die ansehnliche Hexenküchenszene deutlich, die die Wahrheit hinterm vermuteten Kindsmord enthüllt. Der kreiselnde Halbzylinder zeigt die Gebräumeisterin (beste Nebenrolle: Mina Pecik) im schicken Wechsel zwischen direkter Ansicht und Projektion. In Zeitlupe wird man danach gewahr, wie ein Happy End der versöhnten Familie bei der Hochzeit der Liebenden hätte aussehen können.
Dann hebt der Abend zu seiner schönsten Szene an. Ottokar und Agnes wechseln ihre Kleidung, um den Häschern zu entgehen – nur, um dank einer Verwechslung ermordet zu werden. Yassin Trabelsi, der zunächst mit zu gekünsteltem Sprechen irritierte, führt im sanften Monolog über die gemeinsame Liebe und Zukunft durch die intime Szene, bis beide nackt sind. Absolute Verletzlichkeit, entblößtes Leben stecken hinter allem Schein. Dieser wahrhaftige Moment überwältigt, eben auch, weil man sich als deutender Zuschauer lange in einer Schieflage befand. Und nach tiefer Berührung lassen Kleist und Kühnel alles im Fegefeuer eines Hexenwerks aufgehen. Nur Theater? Nur Theater. Aber was für ein Theater!
Die Familie Schroffenstein
von Heinrich von Kleist
Regie: Tom Kühnel, Bühne und Video: Jo Schramm, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Licht: Andreas Barkleit, Dramaturgie: Kerstin Behrens.
Mit: Thomas Eisen, Christine Hoppe, Yassin Trabelsi, Jakob Fließ, Ahmad Mesgarha, Karina Plachetka, Henriette Hölzel, Matthias Reichwald, Raiko Küster, Mina Pecik.
Premiere am 10. Dezember 2022
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Kritikenrundschau
Ein "intensiver Theaterabend" ist das Gesehene für Sebastian Thiele von der Sächsischen Zeitung (12.12.2022). Kleists "Mix aus Komödie und Tragödie zielt viel stärker auf die Abgründigkeit zentraler Charaktere" als die Vorlage "Romeo und Julia". Mit "Respekt verwendet die Regie die spitzzüngigen Sätze. Ganz bei sich will die Inszenierung bleiben, keine Gegenwartsfolie klebt über den Figuren. Körperlich und spielerisch auf hohem Niveau, überträgt das Ensemble den Kleist-Text auf die Bühnenscheibe. Der anspruchsvolle Aberwitz scheint allen Spaß zu machen."
Für Andreas Herrmann von den Dresdner Neuesten Nachrichten (12.12.2022) ist dies ein "überaus empfehlenswertes Sinnesfest. Es hat alle Zutaten für einen wunderbaren Theaterabend: purer Kleistgeist in Reinst-, also Reimform, den man so modern serviert garaniert noch nicht gesehen hat."
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