Die Nerven liegen blank

11. Dezember 2022. Anna Bergmann nimmt normalerweise schwere Stoffe auseinander und setzt sie neu zusammen. Jetzt inszeniert die Schauspieldirektorin zum ersten Mal in Karlsruhe Komödie – und schenkt Yasmina Rezas moderndem Klassiker ein Schlagzeug.

Von Christiane Lenhardt

"Der Gott des Gemetzels" in Karlsruhe © Thorsten Wulff

11. Dezember 2022. Alle reden vom Publikumsschwund. Aber wie lässt sich ihm begegnen? Anna Bergmann hat jetzt ihre erste Komödie als Schauspieldirektorin in Karlsruhe inszeniert, Yasmina Rezas Erfolgsstück "Der Gott des Gemetzels" im Kleinen Haus. Bislang zeigte sie in Karlsruhe vor allem ein Theater, in dem sie Sozialdramen dekonstruiert und komplex neu zusammensetzt und in ihrer betont feministischen Sicht ein dynamisch-üppiges Bildertheater entwirft mit verschiedenen Erzählebenen.

Blitzableiter Schlagzeug

Jetzt aber erzählt die Regisseurin Rezas "schwarze Komödie" im Großen und Ganzen linear und nah am Text. Im "Gott des Gemetzels" fließt kein Blut und niemand verliert sein Leben. Dafür wird unerbittlich hinter die Fassade einer bildungsbürgerlichen Gesellschaft geblickt, die für sich stets in Anspruch nimmt, die richtige Moral gepachtet zu haben, um dann am eigenen Anspruch grotesk zu scheitern.

In einer Wohnung auf Volker Hintermeiers Drehbühne, deren Räume durch eine Gitterkonstruktion angedeutet werden, nimmt das Drama zwischen den Elternpaaren, die sich nach einer Prügelei ihrer Jungs zu einem klärenden Gespräch unter kultivierten Leuten treffen und eigentlich über der Sache stehen, seinen Lauf. Während sich der Streit zwischen den Eltern hochschaukelt, sitzt der geschädigte Junge mit dicker Lippe als stiller Zeuge des Disputs nebenan vor seinem Schlagzeug – das, so der metaphorische Kniff der Regisseurin, hin und wieder als Blitzableiter fungiert, wenn nach und nach jeder der Erwachsenen ins Kinderzimmer reinstürmt, um auf der "Schießbude" Dampf abzulassen.

Figuren, für die man Empathie entwickelt

Die extra hindrapierten Kunstbände, der Whiskey, das in der Blumenvase versenkte Handy, die weißen Tulpen, die schließlich zerfetzt über den Teppich fliegen, garniert mit Wortwitz und schlagfertigen Gemeinheiten sind die bekannten Reza-Zutaten. Diese Steilvorlagen nutzen die Karlsruher Schauspieler mit großer Spielfreude, um das Kammerspiel extrovertiert auszugestalten.

Gott des Gemetzels2 805 Thorsten Wulff uPaare am Rande des Nervenzusammenbruchs: Timo Tank (Alain Raille), Sina Kießling (Annette Reille), Ute Baggeröhr (Véronique Houillé) und Jannek Petri (Michel Houillé) © Thorsten Wulff

Ute Baggeröhr und Jannek Petri (mit extra Lockenperücke nach dem filmischen Vorbild von John Reilly) als die anklagenden Houillés, deren Sohn bei der Prügelei zwei Zähne verloren hat, und Timo Tank mit Sina Kießling als die Reilles – ein dauertelefonierender Anwalt und die zunehmend gestresste Anlageberaterin – schenken sich nichts. So wie die Schauspieler das Stück ausleben, trägt das Groteske auch zur Kurzweiligkeit bei, ohne dass einer der Protagonisten zum Unsympathen wird; für alle vier kann man Empathie entwickeln.

Die Brechanfälle wollen nicht mehr aufhören

Sie solidarisieren sich paar- oder geschlechterweise und wechseln nach überflüssigen Einwürfen die Koalitionen auch wieder. Mit Witz und Banalität eröffnen sich in Rezas ganz eigener Tonart genüsslich menschliche Abgründe, in denen der zivilisierte Umgang miteinander langsam aber sicher untergeht. Die Nerven liegen blank, Temperament und Leidensfähigkeit werden strapaziert – bis die nicht enden wollenden Vorwürfe und das Ausmaß an Selbstgerechtigkeit der einen gehörig auf den Magen schlägt und die Brechanfälle gar nicht mehr aufhören wollen. Das Innerste wird dabei sprichwörtlich nach außen gekehrt, und damit wird auch in der Inszenierung nicht gespart. Am Ende, da haben sich die beiden Jungs längst vertragen, sieht die stolz präsentierte Wohnung genauso angegriffen aus wie der Gemütszustand der vier zivilisierten Großstädter.

 

Der Gott des Gemetzels
von Yasmina Reza
Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Cedric Mpaka, Sounddesign: Heiko Schnurpel, Licht: Aljoscha Glodde.
Mit: Ute Baggeröhr, Jannek Petri, Sina Kießling, Timo Tank, Paulo Stephan, David Mihm.
Premiere am 10. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

Kritikenrundschau

Andreas Jüttner von den Badischen Neuesten Nachrichten (13.12.2022) ist hocherfreut: "Schauspieldirektorin Anna Bergmann inszeniert statt dreieinhalb bildgewaltiger Stunden über schwere Frauenschicksale eine rasante Textpointen-Komödie in 90 Minuten!" Der Kritiker erlebte eine "Sternstunde des Schauspiels". Das grandios aufgelegte Ensemble absolviere meisterlich die schwierige, sich selbst beim Überzeichnen auf die Schippe zu nehmen, ohne den Figuren in den Rücken zu fallen.

Der Abend sei temporeich inszeniert und fulminant gespielt, schreibt Nike Luber von der Rheinpfalz (12.12.2022).

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