Helge und Hülya haben Angst

15. Dezember 2022. Die Menschheit ist untergegangen. Jetzt sind die Tiere an der Macht und schauen sich die Geschichten einzelner Exemplare dieser Spezies als Konserven an. Verbirgt sich in Sibylle Bergs Abgesang auf die Menschen auch eine postmigrantische Botschaft? Das Import Export Kollektiv findet: Na klar!

Von Karin E. Yeşilada

"Helges Leben" von Sibylle Berg am Schauspiel Köln © Anna Lukenda

15. Dezember 2022. Wie, wenn wir Menschen beim Artensterben auch gleich mit draufgehen und stattdessen Tiere die Welt regieren? Ein kleines Gedankenexperiment, das Sibylle Berg zum Millennium angestellt hat. Da streiten sich nicht mehr wie zu Fausts Zeiten Gott und Teufel um die arme Seele, sondern "Frau Gott" und "Frau Tod" um das letzte Wort. Zwei Dienstleisterinnen, die Schöpfungsstories als abendfüllendes Entertainment für zahlungskräftige Kundschaft präsentieren, im vorliegenden Fall sind es Herr Tapir und Frau Reh.

Alles so schön fies hier!

Denen wird immer mal langweilig bei "Helges Leben", denn es ist eher ein armseliges Dahintröpfeln eines nicht gelebten Lebens in den vier Phasen: "Geburt bis Siebzehn" – "Erwachsenwerden" – "Dreißig bis egal" und "Das Alter". Helge entwickelt sich vom ungeliebten, vernachlässigten Kind über einen verqueren Teenager bis hin zum totgepflegten Greis im Altersheim. Und was auch immer er tat oder nicht, es war von Lieblosigkeit und Vernachlässigung, von Zögerlichkeit und Versagen gekennzeichnet. Klarer Antiheld also.

Eigentliche Protagonistin ist daher eine Figur namens "Helges Angst", die das Leben für ihn managt und versaut. Wenn's gar zu grausig wird, greifen Herr Tapir und sein "Rehlein" schon mal in die Handlung ein und versuchen, Helge anzupeitschen, was aber letztlich auch zu nichts führt. Schön fies das alles, Sibylle Berg eben. 

Fünfzig Jahre vermasselte Einwanderungspolitik

Ausgerechnet diese Frontalklatsche, die Berg da der Menschheit in ihrem 2000 in Bochum uraufgeführten Stück verpasste, nehmen sich jetzt die jungen Kölner Ensemblemitglieder des Import Export Kollektivs vor, um damit, eigenen Zielen folgend, "andere und empowernde Geschichten als die stereotypischen 'single stories' über marginalisierte Gruppen und Communities öffentlich zu machen", wie es im Manifest der von Bassam Ghazi gegründeten und seit 2015 fest am Schauspiel Köln angesiedelten Gruppe heißt. Im Sinne eines emanzipatorischen Theaters wollen sie "postmigrantische, postkoloniale, intersektionale und diskriminierungskritische Perspektiven" eröffnen. Und das funktioniert ziemlich gut.

Saliha Shagazi, derzeitige Künstlerische Leiterin des Kollektivs, unterbricht die Handlung immer wieder für episch-chorische Ensemble-Szenen, in denen gemeinsam erarbeitete Botschaften platziert werden, die Bergs Text kommentieren oder hinterfragen. So reflektiert etwa Nihad Mustafa Ali in einer kollektiv erarbeiteten Zwischenszene zum Thema "Wofür lohnt es sich zu leben?" sehr eindringlich (s)eine Fluchtgeschichte ("Leben? – Überleben!").

Helges Leben 03 805 Ana Lukenda uAlles schön bunt in der Halfpipe des Lebens: das Ensemble auf der Bühne von Sebastian Bolz © Ana Lukenda

Gelungen ist auch die Suche nach einem alternativen Namen für die "Tina"-Figur (die sich einen Namen mit H wünscht, wie Helga-Helmut-Helge): Erst suchen sie weibliche H-Namen aus dem üblichen, sprich mehrheitskulturellen Spektrum, dann jedoch auch aus dem der Einwanderungskulturen, und zu "Hannelore" und "Hildegard" gesellen sich flugs auch noch "Homayoun", "Hatice" und "Hülya" – bis Frau Gott (kraftvoll gegeben von Dorota Lewandowska) dazwischengeht und es bei "Tina" bleibt. Naiv? Nun ja, gerade wird ja Wolfgang Schäuble für seine fünfzig Jahre Dienstzeit als CDU-Parlamentarier gefeiert, dabei gingen er und seine Partei doch auch immer dazwischen, wenn es um Belange der multikulturellen Gesellschaft ging. Gut so, wenn hier mal gegen fünfzig Jahre vermasselte Einwanderungspolitik angespielt wird!

Wut, Angst, Lebenshunger

Grundsätzlich ist das Publikum im dreiviertel besetzten Depot 1 in Köln sehr angetan von der immensen Spielfreude des jungen Ensembles, das in knallbunten Kostümen auf einer klug genutzten und immer wieder neu ausgeleuchteten Halfpipe spielt (Bühne: Sebastian Bolz, Licht: Jan Steinfatt). Es gibt witzige Kostüme von Melina Jusczyk: die Tapire sandfarben in Michelin-Formen, bärig darin Erenay Gül als "Rehlein", mit ansteckendem Dauergrinsen Feline Przyborowski als "Herr Tapir". Bodza Hanna Nagy als optische Wiedergängerin des Struwwelpeters gibt Helge mit großartig gespielter Naivität, aus der bisweilen eine mächtige Wut herausbricht, auch Ceren Şengülen verleiht ihrer Tina-Figur einen aus dem Scheitern herauslodernden Lebenshunger.

Helges Leben 04 805 Ana Lukenda u Die Damen Tod und Gott schauen auf die Erde © Ana Lukenda

Den Menschen in lächerlich-poppigen Farben (schön nervig als Helga: Marcella Marino mit roter Brille) gegenübergestellt sind ihre in Schwarz gekleideten Ängste. Sabri Spahua als "Helges Lebensangst" ist sehr bühnenpräsent, könnte das Dauerpathos aber ruhig mal mit leiser Gemeinheit abwechseln. Wirkungsvoll schlingen sich die drei "Tina-Ängste" expressionistisch im Angst-Würgegriff um Tina herum (Miro Eroğlu, Justin Herlth – tolle Stimme! – und Sophie Czarnetzki). Dagegen wallen die Damen Gott und Tod in märchenhaften Tüll-Kostümen meist oben auf der Halfpipe-Galerie umher, wobei Frau Tod im kurzen Hosenröckchen mit schwarzen Netzstrümpfen eher frivol daherkommt: Artosha Jasmin Mokthare singt (mit wunderbarem Alt-Timbre), tanzt, macht Akrobatik und stiehlt damit den anderen bisweilen ganz zurecht die Show (jetzt noch: Artikulation perfektionieren).

Theater ist besser als Netflix

Die insgesamt runde Inszenierung von Bergs Tragikomödie verbreitet gute Laune, was nicht nur am Text selbst liegt, sondern auch an der witzigen Umsetzung (ganz köstlich: Die Werbespots!) durch das spielfreudige Ensemble. Die von Judith Niggehoff choreografierten peppigen Tanzszenen (Musik: Keshav Purushotham Musik) verleihen dem Ganzen zusätzlichen Schwung. Dass der Abend trotz des zynischen Themas solchen Spaß macht, liegt wohl an der Energie, die herüberkommt: Theater ist eben doch besser als Netflix und Konsorten, wo sonst gibt es am Schluss so ein herrliches "Wer-verbeugt-sich-denn-nun-zuerst? Ach-egal-alle-gemeinsam-raus-auf-die-Bühne!"-Chaos zu Standing Ovations? Eben.

 

Helges Leben
von Sibylle Berg
Spielfassung von Sibylle Berg in Zusammenarbeit mit Niklaus Helbling
Regie: Saliha Shagasi, Dramaturgie: Sibylle Dudek, Bühne: Sebastian Bolz, Kostüme: Melina Jusczyk, Musik: Keshav Purushotham, Licht: Jan Steinfatt, Choreografie: Judith Niggehoff, Video: Viktoria Gurina
Mit: Dorota Lewandowska, Artosha Jasmin Mokthare, Sabri Spahua, Bodza Hanna Nagy, Erenay Gül, Feline Przyborowski, Nihad Mustafa Ali, Marcella Marino, Ceren Şengülen, Miro Eroğlu, Justin Herlth, Sophie Czarnetzki.
Premiere am 14. Dezember 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel.koeln

 

Kritikenrundschau

Die Regie verschenke das bei einigen Protagonisten erkennbare schauspielerische Potenzial allzu oft, schreibt Rolf-Ruediger Hamacher von der Kölnischen Rundschau (17.12.2022). "Letztlich beißen sich (…) alle - trotz ihrer überbordenden Spielfreude - die Zähne aus am Stück, das eher auf deklamierte Gesellschaftskritik als auf glaubwürdige Psychologisierung der Figuren und nachvollziehbare Dramaturgie setzt."

Das Import Export Kollektiv habe genau den richtigen Text gewählt, schreibt Christian Bos vom Kölner Stadt-Anzeiger (16.12.2022). "Dem Zivilisationsabgesang setzen sie ihrer Lebensgier entgegen, der Aussichtslosigkeit ihre Träume. Trotz Glitter, Gesang und Groteske bilden diese den Kern des Abends."

 

Kommentare  
Helges Leben, Köln: Ernsthaft?
„Köstlich“, „Peppig“? Sind das Begriffe, Diebin der Theaterkritik noch vorkommen. Nicht schlecht! Damit kann man auch über jedes „Loriots dramatische Werke“ schreiben, an welchem Landestheater auch immer!
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