Unterm Mondknoten

1. Januar 2023. Was bringt das Theaterjahr 2023? Mag die Glaskugel noch so trübe schimmern – das Firmament strahlt hell. Bevor Sie wieder unangenehm von Trends und Emotionen überrascht werden, gehen Sie mit unserem Horoskop lieber auf Nummer sicher. Sterne lügen nicht.

Von Georg Kasch

Es steht in den Sternen: das Theaterjahr 2023 © Wolfgang Pulfer / Museum Villa Stuck

31. Dezember 2022. Das Jahr 2023 steht im Zeichen des Mars, was heißt: Kraft, Energie, Rückenwind! Die allerdings sollten wir zu nutzen wissen: fürs Gute, Wahre, Schöne natürlich. Unerfreuliches gibt’s draußen schon genug.

Widder (21.3.-20.4.)  – will mit dem Kopf durch die Wand

Dank Mars die doppelte Energie-Ladung? Dabei ist der Widder doch auch mit der einfachen Portion bereits oft ein bisschen zu abenteuerlustig, leidenschaftlich, selbstsicher und egoman für alle um ihn herum. Hat er sich etwas in den Kopf gesetzt, will er das um jeden Preis durchsetzen. Das kann durchaus zu Kollateralschäden im Parkett führen wie in Peter Handkes "Publikumsbeschimpfung". Oder zu Leichen, die den Karriereweg pflastern wie in "Macbeth". Auch bei Elfriede Jelinek gibt’s immer auf die Zwölf! Ein Lichtblick für alle Leidtragenden drumherum: Gleich zwei Neumonde im Widder zeigen einen Neustart an. Vielleicht gibt’s ja doch einen Ausweg aus dem Ego-Karussell? Kleiner Tipp: Theater ist eine Ensemble-Kunst. Und auch im Publikum sitzt es sich schöner zu zweit.

Stier (31.4.-21.5.) – genussfreudige, organisierte Materialist*innen 

Auf den Stier ist Verlass, selbst 2023, wenn Mars die Lebenskraft befeuert und sogar Lust darauf macht, die Komfortzone zu verlassen. Ein Genussmensch bleibt er auch dann und allen schönen Dingen des Lebens zugetan. Sei es auf bacchantischen, sei es auf Theater-Festen wie "Dionysos Stadt" oder Matthew Lopez' "Das Vermächtnis" (im scheidenden Jahr 2022 Jahr gleich zweifach inszeniert – von Philipp Stölzl in München und von Ronny Jakubaschk in Hannover). Sei es in der alles erleben und erreichen wollenden Fülle des "Faust" – oder im Gelage von Roland Schimmelpfennigs "Ambrosia": Der Stier greift zu, ohne sich gleich völlig gehen zu lassen wie in "Das große Fressen". Gerade weil der Drang zum Durchstarten 2023 enorm ist (Neumond am 19. Mai!), sollte der sonst eher bedächtige Stier zum Ausgleich unbedingt für Momente der Ruhe sorgen! Ferdinand Schmalz würde vermutlich die Therme empfehlen.

Zwillinge (22.5.-21.6.) – aktive Chaot:innen mit Charme

Zwei Seelen, ach, wohnen in der Zwillings-Brust! Oder ist's schon das Doppelherz? Egal: Für den flatterhaft-flirtenden Zwilling bedeutet das Dasein immer schon "Leben im Widerspruch", wie es Bertolt Brecht einst nannte. Und mit Shen Te und ihrem "bösen Vetter" Shui Ta im "Guten Menschen von Sezuan" das doppelgesichtige Sinnbild dafür lieferte, dass man nicht nur gut sein kann in einer schlechten Welt. Von solchen Abgründen will der Zwilling aber gar nicht so viel wissen. Oft reicht ein andeutendes "Ach" wie in Heinrich von Kleists mehr bitterer als süßer Verwechslungskomödie “Amphitryon” (die es dieses Jahr zum Beispiel in Nürnberg und in Luzern zu sehen gab). 2023 soll zwar alles anders werden, weil Neptun für erhöhtes Herzklopfen und Nähebedürfnis sorgt. Aber mal ehrlich: Dieses Herz-an-Herz-, Seele-an-Seele-Gedusel hält ein Zwilling doch eh nicht lange durch. Er ist wie gemacht für Mittsommernachtsträume und andere Shakespeare'sche Verwechslungsspiele! Dann klappt’s auch mit dem Elf oder der Elfe von nebenan.

Krebs (22.6.-22.7.) – fürsorglich, launenhaft, sensibel

Harte Schale, weicher Kern? Krebse sind lebendig gewordene Anton-Tschechow-Figuren – emotional und überempfindlich, fürsorglich und voller Vorahnungen. Schön, wie gut sie zuhören, wie genau sie beobachten – aber wozu eigentlich? Niemand fragt sie nach ihrer Meinung. Stattdessen fühlen sie sich oft genug, als wären sie in einem Sarah-Kane-Stück gefangen – oder in Jean Genets "Die Zofen". Gut, dass der Neumond am 17. Juli ihre Durchsetzungskraft bestärkt. Vielleicht klappt’s dann auch mal mit einer Held:innen-Rolle.

Löwe (23.7.-23.8.) – kann vor Kraft und Lebenslust kaum gehen

Der Löwe liebt Rampenlicht, Beifall – und Lars Eidinger. Voller Energie und aufrecht kämpft er für seine Werte. Dass er dabei den Ton angeben will, lässt ihn trotz seines großen Herzens durchaus mal übers Ziel hinausschießen. Da kann man im Eifer des Gefechts schon mal Küsse und Bisse verwechseln wie Heinrich von Kleists “Penthesilea”. 2023 drängt Uranus übrigens besonders dann auf Veränderung, wenn es Konflikte mit Vorgesetzten gibt. Da sollte sich der Löwe allerdings kein Vorbild an Karl Moor oder "Don Karlos" nehmen, erst recht nicht an "Medea", sondern den Hut – und einfach den Job wechseln.

Jungfrau (24.8.-23.9.) – Ordnung ist das ganze Leben

Für die Jungfrau gilt: quadratisch, praktisch, gut. Mit anderen Worten: kleinkariert. Sie meidet die Freie Szene wie Faust den Pudel, weil dort alle Aufführungen zehn oder Wie-viele-na-is-auch-egal-Minuten zu spät beginnen. Sie hasst das Castorf-Chaos und verabscheut den nicht enden wollenden Vinge-Müller-Exzess. Stattdessen schätzt sie die antiken Versmaße: Trochäus, Daktylus, Alexandriner. Erhabene Betonung, glasklare Verlässlichkeit! Zur Not auch in der Hölderlin-Übertragung. Klaus Maria Brandauer und Ulrich Matthes sind ihre Helden. Am Besten inszeniert von Ulrich Rasche, mit klarer Taktung, in chorischen Kehlen intoniert. Allerdings kann sich unter Jupiter-Uranus die Lebensperspektive enorm erweitern, das Weltbild radikal auf den Kopf stellen. Trotz großem Sicherheitsbedürfnis heißt das für 2023: Auf zu neuen Ufern! Nicht ausgeschlossen, dass das noch bei Florentina Holzinger endet…

Waage (24.9.-23.10.) – charmante, kokette Diplomat*innen

Waagen sind harmoniemondsüchtige Neutralitätsmonster. Was sie wollen? Eigentlich nur selbst auf die Bühne! Wie es ihnen gefällt? Komödien am laufenden Band. Nur muss das nicht so bleiben. Mars gibt 2023 ihrer sonst so diplomatischen Art Zunder. Beste Voraussetzungen, um auch mal feurig, stark, schlagfertig und verwegen zu sein wie Friedrich Schillers "Jungfrau von Orleans" und "Wilhelm Tell"! Oder, apropos Abenteuer: Wie wär‘s mit Alexandre Dumas' "Drei Musketieren"? Die Version von Antonio Latella versöhnt die Mantel-und-Degen-Schmonzette sogar mit den Lachmuskeln. Und wenn das nicht hilft: Herbert Fritsch und Christian Weise haben noch jedes Drama in eine Farce verwandelt.

Skorpion (24.10.-22.11.) – Analysegenies mit Eifersuchtsproblem

Diplomatie gehört nicht zu den Stärken des Skorpions. Ob er sich mit Martha und George in Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ in den offenen Ehekrieg stürzt oder die Konstellationen des Jede gegen Jeden in Yasmina Rezas "Der Gott des Gemetzels" durchspielt – auf dem Theater sind ihm keine Grenzen gesetzt. Mut und Leidenschaft sorgen für frische Nahrung in den Wortduellen, bei denen auf der Bühne ja meistens auch das ein oder andere Detail zu Bruch geht. Auch Jean Paul Sartres "Geschlossene Gesellschaft" wäre eine angemessene Arena, schließlich halten sich Skorpione nie mit Kommentaren und Bemerkungen zurück. Oder August Strindbergs Beziehungsmachtspielchen wie "Fräulein Julie". Da Jupiter einen Reichtum an Begegnungen beschert und die Mondfinsternis am 5. Mai eine Extraportion Kraft: Der Skorpion darf es krachen lassen! Alle andern holen sich Popcorn und gucken zu.

Schütze (23.11.-21.12.) – Optimist:innen mit Mission

Die Optimist:innen unter den Sternzeichen sind emotional beneidenswert stabil: Sie können als einzige Heiner Müllers düster staubende Gesellschafts- und Geschichtsabgesänge lesen, ohne zugrunde zu gehen. "Germania. Tod in Berlin"? Auch nur ein Historienschinken. Schützen glauben doch allen Ernstes, dass das Leben ein großes Abenteuer, eine Art Gralssuche ist – und die Kunst darin besteht, die eigene Reise spannend zu gestalten! Dann sucht mal schön – zum Beispiel im Geschichtszeichensalat von Jonathan Meese. Oder, wer’s gern ein bisschen leichter hat, in Agatha Christies "Mord im Orientexpress". Ganz gleich, wie lange die Reise dauert: Früher oder später trifft man sie doch bei Jay Scheibs neuem Virtual-Reality-"Parsival" in Bayreuth.

Steinbock (22.12.-20.1.) – Achtung vor diesen Hörnern!

Oh, diese Perfektionisten! Ausdauernd, zäh, workaholics – kein Wunder, dass sie sich ständig in Sackgassen verrennen. Wie das endet? Bei den ganz harten Brocken, zum Beispiel den isolierten Besserwissern. Wem Henrik Ibsens "Baumeister Solness" oder "Der Volksfeind" (in 2022 zu begutachten in Stuttgart und in Hannover) als Warnung nicht reichen, denke an all die ehrpusseligen Rächer wie Kleists "Michael Kohlhaas": nachvollziehbarer Impuls, schlechte Durchführung. Wie gut, dass 2023 der Mondknoten und der Uranus Gewissheiten in Bewegung bringen. Also: Runter vom emotionalen Bremspedal, rein in "Romeo und Julia". Wenn da die Tränen nicht fließen, hilft nur noch Achtsamkeits-Hardcore auf Rezept wie "Scores That Shaped Our Friendship" und "Joy 2022".

Wassermann (21.1.-19.2.) – originelle Innovationslokomotiven

Ganz sicher keine Nachhilfe in Sachen Achtsamkeit braucht der Wassermann. Aber nein, bitte nicht immer nur in esoterisch-spirituelle Susanne-Kennedy-Abende rennen. Und auch Tankred Dorsts “Merlin” lässt sie nur im eigenen Saft schmoren. Mit Routinen haben sie doch eh nichts am Hut! Außerdem gibt ihnen Transformator Pluto im neuen Jahr einen freundlichen Tritt in den Hintern. Wassermänner wollen die Welt besser machen? Mars beschert die nötige Energie: Bringt das Klima-Theater auf die Straße, setzt euch für CO2-neutrale Kunst ein, inszeniert Demos in aller Welt. Thomas Köck oder – wer‘s dokumentarischer mag – Michael Ruf ("Klima-Monologe") skizzieren anschaulich das Problem. Seid die Lösung!

Fische (20.2.-20.3.) – die Einfühlenden

Die Sensibelchen unter den Sternzeichen waren im Theater schon mal besser aufgehoben. Arthur Schnitzlers Seelenzergliederung, Hugo von Hofmannsthals feine Ironie – es muss schon die Wiener Moderne sein, um die Fische nicht gleich wieder durchs Foyer nach draußen zu schwemmen (und die wird nur noch selten gespielt). Immerhin: Mars ermutigt 2023 zum seelischen Aufräumen. Heißt: Fische sollten sich mit ihrer Vergangenheit, ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen. Wie gut, dass das Theater hier schon immer Experte gewesen ist: Von Euripides' "Orestie" über Heinrich von Kleists "Die Familie Schroffenstein" bis zu Tracy Letts' "Eine Familie (August: Osage County)" erzählt es in unendlichen Variationen davon, dass man Traumata besser nicht unter den Teppich kehrt – sonst wird's richtig dreckig. Da müssten dann wieder die Kärcher-Charaktere eines Henrik Ibsen ran. Und für so ein Saubermann-Theater sind die Fische einfach zu sensibel.

Ob Sterne wirklich nicht lügen, können Sie übrigens ganz einfach überprüfen: Hier geht’s zum Theaterhoroskop 2021.

Kommentare  
Theaterjahr 2023 Horoskop: Jungfrau
Tja, Horoskope sind so en Problem.
Gerade weil die Jungfrau geerdet ist, liebt sie das Chaos. Sie kann loslassen, denn die Orientierung ist in ihr. Also bitte Castorf, Vinge und ja Holzinger.
Aber behüte Gott nicht Rasche. Das beleidigt die fundierte Jungfrau zutiefst, weil er Erde zementiert und nicht lebt.
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