Die Wahrheit im Dunkeln

5. Januar 2023. In Bettina Wilperts Roman geht es um eine Frau und einen Mann, deren Leben nach einer gemeinsam verbrachten Nacht aus den Bahnen geraten. Michael Gubenkos Inszenierung verlangt dem Publikum einiges ab.

Von Rainer Nolden

"Nichts, was uns passiert" am Theater Trier © Maro Piecuch

5. Januar 2023. Es ist kompliziert. Nicht nur, wenn man auf Dating-Börsen seinen Status eingeben will und gerade eine Beziehung hat, die nicht funktioniert. Oder keine, die irgendwie doch funktioniert. Oder irgendwas dazwischen. Ganz kompliziert wird es dann im richtigen Leben, wenn zwei bei einer Party aufeinandertreffen, die sich irgendwie mögen, aber eben doch nicht so richtig; wenn man dann zufällig im Bett landet und am nächsten Morgen verlegen rumdruckst, weil man ja im Grunde doch nicht so recht gewollt hat … Anna jedenfalls fühlt sich von Jonas vor den Kopf gestoßen, als er sie – noch vor dem Frühstück – aus der Wohnung komplimentiert, denn sie findet ihn eigentlich ganz nett. Das könnte das Ende eines unspektakulären One-Night-Stands gewesen sein – wenn man sich nicht ein paar Wochen später wieder über den Weg gelaufen und prompt in die Kiste gehüpft wäre.

Keine Beweise

Womit es jetzt richtig problematisch wird: Denn Anna behauptet – Wochen später –, von Jonas vergewaltigt worden zu sein. Der wiederum beteuert, der Sex sei einvernehmlich gewesen. Dass eine Menge Wodka im Spiel war, macht die Sache auch nicht gerade einfacher, wenn es um die Beweisführung geht. Doch Beweise gibt es gar nicht, nur Behauptungen. Die jedoch, in den unsocial media wie beim Schneeballsystem rasant verbreitet, reichen aus für einen Tsunami an Meinungen, Stellungnahmen und (Vor-)Urteilen, der über die beiden hinwegschwappt und sie mit sich zu reißen droht.

Normalerweise ist so etwas "Nichts, was uns passiert". So heißt der Roman von Bettina Wilpert, der einen solchen Konflikt beschreibt und in dem die Betroffenen zu Beginn genau das von sich behaupten. Lara Fritz und Philipp Matthias Müller haben ihn für die Bühne bearbeitet. Es ist nicht die erste Dramatisierung des Stoffes; in Gießen ist er bereits vor gut zwei Jahren aufgeführt worden. Dennoch ist die Trierer Fassung eine Art Uraufführung, denn Fritz und Müller haben ihre Version klugerweise um zwei weitere Figuren aus dem Roman erweitert, um der gesellschaftlichen Echokammer, in denen die Meinungen und Urteile zu dem Ereignis viral gehen, eine beziehungsweise viele Stimmen zu geben – die von Freunden, Kommilitonen, der Polizei und der Öffentlichkeit.

Nichts3 Lennart Hillmann als Jonas und Tamara Theisen als Anna Marco Piecuch uLennart Hillmann als Jonas und Tamara Theisen als Anna © Marco Piecuch

Regisseur Michael Gubenko hat die Vorlage zu einem achtzigminütigen Verwirrspiel verdichtet, das alles in der Schwebe lässt, bewusst keine Sympathie heischenden Schwerpunkte setzt und so am Ende die Frage "Was ist Wahrheit?" offen lässt. Nun ist diese Vagheit ein höchst unbefriedigender Zustand für den nach Eindeutigkeiten strebenden Verstand, und diese nagende Unklarheit, dieses Glauben-wollen und Nicht- Wissen-Können ist in der Tat zutiefst verstörend. Genau diese Ausweglosigkeit arbeiten die vier Akteure emotional überzeugend und mit seziermesserscharfer Akkuratesse heraus.

Keine Gewissheit

Tamara Theisens Anna ist eine unbefangene, selbstbewusste Frau, eine Feministin, die sich auf keinen Fall als Opfer sehen will, die Mitleid hasst und doch als psychisches Wrack endet: Der Einkauf im Supermarkt wird für sie zum Spießrutenlauf, bei dem sie am ganzen Körper zittert. Lennart Hillmanns Jonas hat eine vielversprechende Uni-Karriere vor sich und sieht sich auf einmal – auch im engsten Freundeskreis – zunehmendem Misstrauen gegenüber, obwohl – das will er als Entlastung verstanden wissen – er ebenfalls Feminist ist. Hillmann überzeugt beim Wandel vom ein bisschen arroganten Akademiker zu einem rat- und hilflosen Mann, der verzweifelt um seinen Ruf und seine Zukunft kämpft. Was für Anna und Jonas vielleicht noch schlimmer ist als die Internet-Justiz: Sie beginnen selbst an der Wahrhaftigkeit der Ereignisse zu zweifeln. Trügt sie die Erinnerung? Was ist Fakt in jener alkoholseligen Nacht gewesen, was bloße Fantasie? Selbst in ihren Köpfen gibt es da offenbar keine Gewissheit mehr.

Anna Pircher gibt die quirlige Verena, die umgehend Partei für Anna ergreift und Jonas, obwohl sie auch mit ihm befreundet ist, mit Vorwürfen überhäuft. Auch die demonstrative Solidarität von León Hänigs Hannes, seine partyselige Kumpelhaftigkeit mit dem besten Freund Jonas erhält zunehmend Risse, denn er wird ebenfalls zum Opfer der außer Kontrolle geratenen öffentlichen Meinung. Alle vier, die immer wieder aus ihren Rollen treten, in andere Figuren schlüpfen, das Publikum direkt ansprechen, um es auf ihre Seite zu ziehen, geraten so schuldlos-schuldhaft in einen Mahlstrom der Vermutungen. Man erwartet von ihnen, Stellung zu beziehen, wo ihnen die Beweise und damit die Argumente fehlen. Als Sinnbild für die innere Verfasstheit der vier Figuren hat Dieter Teßmann ihnen ein abstraktes Bühnenbild als Spielfläche gebaut mit dem Hashtag-Icon samt den kreuz und quer verteilten Buchstaben N, I, C, H und T.

Keine Antworten

Michael Gubenko inszeniert "Nichts, was uns passiert" mit gehörigem Tempo und einer ordentlichen Portion Ausgelassenheit, wie man sich das im angeblich sorglosen Studentenleben zwischen Party, Bibliothek und Späti gemeinhin vorstellt. Er weiß aber genauso präzise die Betroffenheit bei seinem Quartett herauszuarbeiten, das sich mit der Tatsache abfinden muss, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommen wird. Genau wie das Publikum damit klarkommen muss.

 

Nichts, was uns passiert
nach Bettina Wilpert
Erstaufführung der Theaterfassung von Lara Fritz und
Philipp Matthias Müller nach dem gleichnamigen Roman
Regie: Michael Gubenko, Bühne: Dieter Teßmann, Kostüme: Nadja Szymczak, Dramaturgie: Lara Fritz und Philipp Matthias Müller
Mit: Tamara Theisen, Lennart Hillmann, Anna Pircher, León Hänig
Premiere am 4. Januar 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theater-trier.de

 

Kritikenrundschau

Über "kurzweilige, packende 80 Minuten" mit "schnellen Wortwechsel, viel Bewegung und manchen Effekten wie platzenden Luftballons, Konfettiregen, Neonflackern und Nebelschwaden" schreibt Anne Heucher im Trierischen Volksfreund (6.1.2023). "Neben der stimmigen Bühnenfassung ist es das Verdienst von Regisseur Mihails Gubenko, jeder Seite mit Leidenschaft ihre Berechtigung zu lassen. Beide Positionen bleiben bestehen – unvereinbar zwar, aber auch nicht auflösbar. So sensibilisieren sie das Publikum für eilfertige Täter-Opfer-Geschichten und ihre Verbreitung."

 

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