Trübes Licht, traurige Party

9. Januar 2023. Um ein Jahr musste die Premiere pandemiebedingt verschoben werden, aber jetzt kommt die legendäre Schauergeschichte nach E.T.A. Hoffmann und Robert Wilson endlich auf die Bühne: Charlotte Sprengers Inszenierung begibt sich in die Tiefen der (Alp-)Traumdramaturgie und sperrt sich leichter Konsumierbarkeit. 

Von Falk Schreiber

"Der Sandmann" nach E.T.A. Hoffmann und Robert Wilson in Charlotte Sprengers Regie am Thalia Theater Hamburg © Emma Szabó

9. Januar 2023. Eine traurige Party. Aleksandra Pavlović hat einen Anna-Viebrock-Raum ins Hamburger Thalia Theater gebaut, mit kleiner, abgewetzter Bühne, Latex-Tischdecken und Klappstühlen, mit einem einerseits aufwendigen, andererseits trotzdem armseligen Buffet, mit einem riesigen Oberlicht, durch das trübes Licht (und später auch noch Beunruhigenderes) fällt. Und mit einem einzigen Kellner (André Szymanski), der gelangweilt Sektkelche arrangiert und darauf lauert, die Handlung von E.T.A. Hoffmanns Schauergeschichte "Der Sandmann" in Gang bringen zu können. Es kommt aber nichts in Gang.

Pandemisch ausgebremst 

Eigentlich hätte Charlotte Sprenger "Der Sandmann" schon vor knapp einem Jahr am Thalia inszenieren sollen, als Zentrum eines bukolischen Spektakels, bei dem das gesamte Haus und die umgebende Innenstadt mit Theater, Musik und Aktionen geflutet werden sollten, und das vom frühen Nachmittag bis weit nach Mitternacht Theater als sinnliches Erlebnis nach den Pandemie-Monaten wieder zurück ins Bewusstsein bringen sollte. Allein: Corona spielte nicht mit, kurz vor der Premiere seien gerade mal zwei Darsteller*innen negativ gewesen, mit Sprengers Inszenierung fiel ausgerechnet das Herz des Abends aus. Und jetzt wird "Der Sandmann" nachgeholt, ohne die flankierende Feier, aber immerhin.

Der Sandmann-AMA1- 02.01.2023Oper von Anna Calvi und Robert Wilson nach der gleichnamigen Erzählung von E.T.A. Hoffmann / Musik, Arrangements und Liedtexte von Anna Calvi / Zusätzliche Musik und Arrangements von Jherek Bischoff / Konzept, Buch und Design der Uraufführungsproduktion von Robert Wilson / Textfassung von Janine OrtizREGIECharlotte SprengerMUSIKALISCHE LEITUNGPhilipp PlessmannBÜHNEAleksandra PavlovićKOSTÜMEBettina WernerDRAMATURGIEJulia LochteLICHTChristiane PetschatMITMerlin Sandmeyer (Nathanael, ein Student)Toini Ruhnke (Clara, seine Verlobte / Olympia, Spalanzanis Tochter)Pascal Houdus (Lothar, ihr Bruder)Gabriela Maria Schmeide (Mutter von Nathanael / Spalanzani)André Szymanski (Guiseppe Coppola, Wetterglashändler / Coppelius, Advokat / Sandmann)Clara Marie Pinter / Josephine Weber Liam Adamsberger / Jonathan HappeBO Thun / Emil Rustige / Valerio Asteri Murati(Drei Kinder, alternierend) LIVE-MUSIKPhilipp PlessmannNick McCarthyTheresa StarkLisa WilhelmArmseliges Buffet und düstere Stimmung beim Hamburger "Sandmann" © Emma Szabó

Für die 32-Jährige, die während der vergangenen Jahre an der Thalia-Nebenspielstätte Gaußstraße mit Saša Stanišics "Vor dem Fest", John Cassavettes' "Opening Night", Wolfram Lotz' "Die Politiker" und Joseph Roths "Hotel Savoy" ein ziemlich breites Spektrum an Zeitgenossentum inszeniert hatte, ist "Der Sandmann" die erste Arbeit am Haupthaus, eine "Dark Opera" vom in Hamburg kultisch verehrten Robert Wilson zur Musik der britischen Indie-Bluesrockerin Anna Calvi. Und Sprenger nimmt sich anscheinend vor, jegliche Erinnerung an Wilsons längst ikonische Ästhetik zu zerstreuen: Hatte dieser den Stoff zur Uraufführung bei den Ruhrfestspielen vor sechs Jahren noch in das für ihn typische artifizielle Theater verlagert, holt Sprenger ihn zurück in die Realität der abgeranzten Schulaula.

Vergeistigtes Sensibelchen, spröde Spitzlippe

Nathanael: bei Merlin Sandmeyer ein vergeistigtes Sensibelchen. Die Mutter: bei Gabriela Maria Schmeide eine Matrone, die dem Kind eine Gruselgeschichte zum Einschlafen erzählt und sofort wieder zurückrudert ("Es gibt keinen Sandmann, mein liebes Kind!"), als sie merkt, dass der Kleine tatsächlich verängstigt ist. Die Verlobte Clara: bei Toini Ruhnke eine spröde Spitzlippe, deren patenter Sarkasmus jeden Horror im Keim erstickt. Menschen wie du und ich.

Der Sandmann-HP2- 05.01.2023Oper von Anna Calvi und Robert Wilson nach der gleichnamigen Erzählung von E.T.A. Hoffmann / Musik, Arrangements und Liedtexte von Anna Calvi / Zusätzliche Musik und Arrangements von Jherek Bischoff / Konzept, Buch und Design der Uraufführungsproduktion von Robert Wilson / Textfassung von Janine OrtizREGIECharlotte SprengerMUSIKALISCHE LEITUNGPhilipp PlessmannBÜHNEAleksandra PavlovićKOSTÜMEBettina WernerDRAMATURGIEJulia LochteLICHTChristiane PetschatMITMerlin Sandmeyer (Nathanael, ein Student)Toini Ruhnke (Clara, seine Verlobte / Olympia, Spalanzanis Tochter)Pascal Houdus (Lothar, ihr Bruder)Gabriela Maria Schmeide (Mutter von Nathanael / Spalanzani)André Szymanski (Guiseppe Coppola, Wetterglashändler / Coppelius, Advokat / Sandmann)Clara Marie Pinter / Josephine Weber Liam Adamsberger / Jonathan HappeBO Thun / Emil Rustige / Valerio Asteri Murati(Drei Kinder, alternierend) LIVE-MUSIKPhilipp PlessmannNick McCarthyTheresa StarkLisa WilhelmMenschen wie du und ich: Das Thalia-Ensemble in Aleksandra Pavlovićs Bühnenbild © Emma Szabó

Der Schrecken kann in diese alltägliche Welt nur dort eindringen, wo er sich auch schon bei Hoffmann versteckt: im Traum. Die Geschichte entfaltet sich also als Alptraum Nathanaels, in dem sich abwesender Vater, fetischisiertes Begehren und Verlustängste gegenseitig potenzieren. Was inhaltlich funktioniert, stellt die Inszenierung freilich vor ein Problem: Eine Traumdramaturgie ist nicht zwingend theatertauglich, über weite Strecken passiert hier erstmal: gar nichts. Und man kann schon anerkennen, wie furchtlos sich Sprenger diesem Nichts stellt – Wilson etwa hatte bei seiner Uraufführungsinszenierung immer wieder auf das gut erprobte Wilson-Besteck zurückgegriffen und die psychischen Qualen Nathanaels expressionistisch bebildert. Sprenger aber lässt Leerlauf zu, und nur Calvis hynotische, von Philipp Plessmann und dem ehemaligen Franz-Ferdinand-Gitarristen Nick McCarthy sparsam für eine dreiköpfige Rockband arrangierte Songs geben eine leichte Ahnung von Theater-Kulinarik. Eine leichte.

Sperrigkeit als Konzept?

Vielleicht bekam Sprenger den komplexen Stoff nicht richtig in den Griff, vielleicht war auch die Probenzeit nach der Premierenabsage im Februar 2022 zu lang, als dass hier ein konzentrierter Theaterabend entstehen konnte. Vielleicht ist die Sperrigkeit von „Der Sandmann“ aber auch Konzept: Dann muss man den Hut ziehen davor, wie sich eine junge Regisseurin, die bislang vor allem als sichere Handwerkerin auffiel, hier jeglicher Zugänglichkeit verweigert. Als Fest im Rahmen eines Theaterspektakels, dem irgendwie das Spektakel verlorengegangen ist, eignet sich dieser Abend jedenfalls ganz und gar nicht, am Ende ist er eben doch eine traurige Party. Als solche aber ist er konsequent.
 

Der Sandmann
Oper von Anna Calvi und Robert Wilson nach der gleichnamigen Erzählung von E.T.A. Hoffmann,
Arrangements von Jherek Bischoff, Konzept, Buch und Design der Uraufführungsproduktion von Robert Wilson, Textfassung von Janine Ortiz
Regie: Charlotte Sprenger, Bühne: Aleksandra Pavlović, Kostüme: Bettina Werner, Licht: Christiane Petschat, Dramaturgie: Julia Lochte
Mit: Merlin Sandmeyer, Toini Ruhnke, Pascal Houdus, Gabriela Maria Schmeide, André Szymanski sowie den Live-Musiker:innen Philipp Plessmann, Nick McCarthy, Theresa Stark / Lisa Wilhelm
Premiere am 8. Januar 2023
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Peter Helling vom NDR (9.1.2023) ist "das große Plus der Inszenierung", wie "sich hier wirklich jede Logik auflöst, wie der Eindruck eines Live-Alptraums entsteht, wo eine Trauerfeier quasi rückwärts erzählt wird, wo blau gekleidete Kinder Stephen-King-Grusel verbreiten, wo sogar eine riesige Pferdefigur durch ein Oberlicht bricht: Das tropft wie ein eingerissener Augapfel. Gute Effekte. Überzeugend ist das allerdings nicht", so Helling, der anschließend das Publikum werten lässt: "Klamauk" oder auch "Mir kommt es vor wie die intellektuelle Fassung vom 'König der Löwen'" sagen die Leute. Und Helling: "Leider klingen die Texte viel zu oft ironisch daher gesagt, man versteht nicht wirklich, was sie meinen."

"Und so verliert sich diese Inszenierung zunehmend in vermeintlichem Augenschmaus, wobei die Erzählung sanft entschläft. Da war bei den Proben wohl der gute Sandmann unterwegs, der alle Kinder müde macht", witzelt Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (9.1.2023) über einen Abend, dem er wenig abgewinnen kann. "Das Unheimliche hat in dieser Kombination aus gekonntem Klamauk und Abschiedsstimmung keinen rechten Platz."

"Für E.T.A. Hoffmann gehörte der Wahnsinn zum Menschen dazu. Hier wird der Zusammenhang mit einem problematischen sozialen Geflecht zumindest angedeutet. Unzugänglich bleibt der Abend trotzdem", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (10.1.2023). "Abgesehen von" einigen "wirklichen Höhepunkten wabert die Inszenierung ein wenig richtungslos dahin – wie ein verrätselter Traum" und die "allzeit spürbare Leere in dieser Inszenierung füllt dann vor allem die Musik".

Kommentare  
Der Sandmann, Hamburg: Passiert viel
Danke für die Arbeit, Falk Schreiber.

Welcher Abend hier rezensiert wurde, ist mir aber schleierhaft. "Sprenger nimmt sich anscheinend vor, jegliche Erinnerung an Wilsons längst ikonische Ästhetik zu zerstreuen" - ähm, ja, Wasser ist nass?! Thalia hat Sprenger engagiert, nicht Wilson?! Wilsons Sandmann fand bereits statt?! Dinge verändern sich? Gefällt Falk Schreiber gar nicht. Aber "über weite Strecken passiert hier erstmal: gar nichts"? Nö, das ist ziemlicher quatsch.

Aber vielleicht gefällt ja Falk Schreiber 100 seconds to Mars, und da passiert für ihn richtig viel? Ist nur Spekulation, aber so wirkt die Rezension nicht wirklich aufmerksam, sondern wie Fantum und enttäuschte Erwartungen. Naja.
Der Sandmann, Hamburg: Geheimnisse
Eine traurige Party ist die eine Seite der Medaille.

Dem Ensemble gelang es in der Vorstellung am 15.01., das Publikum bei der Stange zu halten, es zu interessieren für den Stoff; auch wenn viele szenische Ideen Geheimnisse der Regie blieben.
Der Sandmann, Hamburg: Geniestreich
Ich fand es großartig - und zwar wirklich alles! Vielen Dank an das tolle Tram dafür, den „Wahnsinn“ so greifbar auf die Bühne gebracht zu haben, danke für den Bilderrausch und die tolle Musik! Ein Geniestreich. Wenn jemand keinen Zugang findet oder dich gar langweilt - das klingt doch stark nach seinem eigenen Problem.
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