Wer den ersten Stein wirft

15. Januar 2023. Ibsen unterm Brennglas: Selen Kara, designierte Co-Intendantin des Schauspiel Essen, gibt bei ihrer ersten Regiearbeit in Bern dem 140 Jahre alten Drama einen ganz neuen Fokus. 

Von Julia Nehmiz

"Ein Volksfeind" von Henrik Ibsen in der Regie von Selen Kara © Yoshiko Kusano

15. Januar 2023. Sie ist die einzige mit einer Vision. Mit Träumen. Und sie hat die Fäden in der Hand. Während die Männer plaudern, weiß Tochter Petra Stockmann ganz genau, warum ihr Vater auf ihr Geheiß hin schon mal Gläser holen soll. Sie hat den Brief, auf den der Vater so lange wartet. Aber sie plaudert erst mal mit. Erzählt von den Lügen, die sie als Lehrerin den Schülern auftischen muss. Träumt von einer eigenen, neuen Schule, in welcher die Kinder lernen, Fragen zu stellen, anstatt sie zu beantworten. Petra, die einzige der neuen Generation in der Runde der mittelalten weißen Männer, hat als einzige Träume für die nächste Generation.

Straff gekürzt, behutsam erweitert

Henrik Ibsens "Ein Volksfeind" ist Selen Karas erste Regie in Bern. Kara, ab nächster Spielzeit Co-Intendantin des Schauspiels Essen, hat mit Autor Dmitrij Gawrisch in ihrer Berner "Volksfeind"-Bearbeitung einen ganz eigenen Schwerpunkt herausgearbeitet: Tochter Petra Stockmann. Ibsens Klassiker wurde für die Berner Inszenierung straff gekürzt, der Abend dauert keine eineinhalb Stunden. Kara braucht nur sechs Personen: Tomas und Peter Stockmann, Tochter Petra, Verleger Aslaksen, Chefredakteur Hovstad, Redakteur Billing. Keine Ehefrau, kein Kapitän, keine Söhne, kein Schwiegervater, kein Volk bei der Versammlung.

Dmitrij Gawrisch, derzeit Hausautor an den Bühnen Bern, hat Ibsens Vorlage behutsam erweitert: Tochter Petra eröffnet den Abend, eröffnet jeden der vier Akte. Sie hat oft das letzte (kommentierende) Wort. Und: Anstelle des fünften Akts gibt es einen Epilog, den Petra erzählt.

Volksfeind ClaudiusKorber KilianLand VietAnhAlexanderTran LinusSchutz GenetZegay JanMaak cYoshikoKusanoPsychologisches Kammerspiel: mit Claudius Korber, Kilian Land, Viet Anh Alexander Tran, Linus Schutz, Genet Zegay und Jan Maak © Yoshiko Kusano

Trotz Erweiterung: Kara und Gawrisch erzählen Ibsens 140 Jahre altes und aktuelles Drama um den Arzt Tomas Stockmann und seinen Bruder, Widersacher und Stadtpräsident Peter Stockmann. Kurarzt Tomas Stockmann hat entdeckt, dass das Quellwasser des städtischen Kurbads von Giftstoffen verseucht ist. Die Macher der Lokalzeitung wittern ihre große Chance, endlich die Mächtigen, diese "Clique von Beamten", zu Fall zu bringen. Doch der Stadtpräsident dreht die Stimmung. Eine Sanierung des Kurbads wäre der Ruin der Stadt. Anstatt zum Aufklärer und Retter wird Tomas Stockmann zum Volksfeind, im Kampf um die Wahrheit verrennt er sich in Fanatismus und Fatalismus.

Unterm Brennglas

In Bern wird die Geschichte wie unterm Brennglas seziert. Bühnenbildnerin Lydia Merkel hat dafür einen gläsernen, begehbaren Kubus in die Mitte des Raumes gebaut, das Publikum wird auf vier Tribünen drumherum platziert. Mal ist der Kubus Stockmanns Zuhause, mal Redaktion, mal Versammlungsort. Alles ist immer einsehbar, von jedem. Und: Wer den ersten Stein wirft, macht alles kaputt. Die Schauspieler begrüßen zu Beginn das Publikum, als wäre es eine Bürgerversammlung, später setzen sie sich immer wieder in die Zuschauerreihen, beobachten das Geschehen in und um den Kubus. 

Die Hybris ist schon da 

Selen Kara macht aus Ibsens üppigem Realismus ein psychologisch genaues Kammerspiel. Sie lässt ihre fein-scharf gezeichneten Figuren das Drama immer weiter zuspitzen. Tomas Stockmann ist bei Kilian Land zu Beginn wie ein leicht verwirrter Professor mit verstrubbeltem Haar, er will vor der Vergiftung warnen – aber eben endlich gegen seinen Bruder gewinnen. Die Hybris liegt schon drunter. Peter Stockmann (Claudius Körber) ist ein glatter und kalter Stadtpräsident, doch auch er ambivalent, wenn er sich wirklich um die Finanzen der Stadt sorgt. Chefredakteur Hovstad (Linus Schütz) hat eigentlich Ideale, die er aber – trotz Verliebtheit in Petra – verraten wird. Redakteur Billing wechselt gleich ganz die Seiten, er wird Pressesprecher der Stadtverwaltung. Regisseurin Kara lässt den Figuren in der Dichte der Inszenierung Raum. Kurz blitzt auf, was die beiden Brüder verbindet, was gleichzeitig aber durch die vielen Konflikte unwiederbringlich verschüttet ist.

Volksfeind GenetZegay VietAnhAlexanderTran LinusSchutz ClaudiusKorber JanMaak KilianLand cYoshikoKusanoVertreter der Obrigkeit als Nashörner: Genet Zegay, Viet Anh Alexander Tran, Linus Schutz, Claudius Korber, Jan Maak und Kilian Land debattieren auf der städtischen Versammlung © Yoshiko Kusano

Tochter Petra (selbstbewusst und zupackend: Genet Zegay) versucht zu Beginn noch zu vermitteln, versucht später einzugreifen, doch das Drama kann sie nicht aufhalten. An der von Tomas Stockmann einberufenen Versammlung kulminiert es. Ein bestechendes Bild: Die Vertreter der Obrigkeit, Pressesprecher Billing, Stadtpräsident, Chefredakteur und Verleger, tragen Nashornmasken. Niemand will - wie bei Ionesco - auf den Aufklärer hören. Sich zuhören schon gar nicht.

Das Ende gehört Tochter Petra, der einzigen, die Träume hat. Sie hat alle Aktien des Kurbads aufgekauft. Aber was damit anfangen? Möglichkeiten gäbe es viele. Petra zerknüllt die Aktien und verfüttert sie an die Nashörner. Die Alten sollen die Katastrophe, die sie den nachfolgenden Generationen eingebrockt haben, selber auslöffeln.

 

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Übersetzung Angelika Gundlach, erweitert von Dmitrij Gawrisch
Regie: Selen Kara, Bühne: Lydia Merkel, Kostüme: Anna Maria Schories, Musik: Vera Mohrs, Licht: Hanspeter Liechti, Dramaturgie: Elisa Elwert.
Mit Kilian Land, Genet Zegay, Claudius Körber, Jan Maak, Linus Schütz, Viet Anh Alexander Tran.
Premiere am 14. Januar 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.buehnenbern.ch

Kritikenrundschau

Die Botschaft sei klar, schreibt Lena Rittmeyer in der Zeitung Der Bund (16.1.23, €): "Die Boomer haben ausgedient.“ Immer wieder bewege sich ein "buchstäblich kleinkariertes Gruselkabinett der Macht" in "grotesken, höfisch anmutenden Tänzen" über die Szene. Der Abend treibe allerdings auch "den schlechten Ruf der Medienleute auf die Spitze", etwa, wenn die Stückfigur Petra erkläre, "Zeitungen hätten ein Interesse daran, Bedrohungen zu konstruieren, damit würden sie Abonnements verkaufen",  berichtet die Kritikerin und findet: "Dieses Verschwörungsgeraune mag Figurenrede sein, ist so unwidersprochen aber doch einigermaßen problematisch."