Nachkommen. Ein lautes Schweigen! - Theater Münster
Brave New Häuschen
20. Januar 2023. Wie sieht das Metaversum aus? Und was bleibt vom Menschen, wenn er seine Existenzgrundlage zerstört, aber die Voraussetzungen für transhumanes Leben geschaffen hat? Emre Akal entwirft in seinem neuen Stück eine Dystopie, in der auch Heiner Müller und "Diese Drombuschs" eine Rolle spielen.
Von Kai Bremer
20. Januar 2023. Das Metaversum ist ein Guckkasten-Tiny-House. Es hat zwei Zimmer: eine Miniküche, die ohne Geräte auskommt, in der aber eine kleine Tischtennisplatte steht, und ein Wohnzimmer, das zwar mit Tisch und Stuhl zum Verweilen Gelegenheit bietet, dazu aber nicht wirklich einlädt.
Das Häuschen hat außerdem eine Veranda, auf der zuweilen geraucht wird. Wer ins Grüne aus Kunststoffrasen treten möchte, muss einen Vorhang an der Rückwand zur Seite schieben und irgendwie unter dem offenbar zu niedrigem Türsturz hindurchtreten. Vieles in diesem von Annika Lu eingerichteten Domizil wirkt gleichzeitig absurd und bekannt (etwa das lange geringelte Kabel des an den Mittelpfeiler montierten Telefons). Es erinnert teils an "Mad Men", teils an "Diese Drombuschs". Ob dieses Metaversum-Häuschen freilich mehr ist als eine Reminiszenz an die idyllischen Konsum-Höllen des 20. Jahrhunderts, lässt sich nicht auf Anhieb sagen: Vielleicht ist es lediglich ein neues Eigenheim für Barbie. Oder für Nora? Oder gar ein Heim für zivilisierte Morlocks?
Welcome to the Metaverse
Dass es sich bei dem Häuschen, das auf der Bühne des Kleinen Hauses im Theater Münster zu sehen ist, um das Metaversum handelt, ist auf jeden Fall eindeutig. In Emre Akals neuestem Stück "Nachkommen – Ein lautes Schweigen" wird eine zukünftige posthumane Welt gezeigt. Das machen schon die ersten Sätze deutlich, die die vier Darsteller:innen in diesem brave new Häuschen sprechen. Auch ihr Spiel und ihre Kostüme (ebenfalls Annika Lu) lassen keinen Zweifel aufkommen, dass hier Wesen zu sehen sind, die bestenfalls noch Spuren von Mensch enthalten – etwa wenn sie erstaunt feststellen, dass offenbar einige Tränen über ihre Wangen rollen.
Regine Andratschke, Alaaeldin Dyab, Clara Kroneck und Julius Janosch Schulte tragen poppig-pastellfarbene Kleider beziehungsweise Anzüge. Die Länge ihrer Haare und Fingernägel machen klar, dass sie schon seit Ewigkeiten keine Schere mehr gesehen haben. Nicht nur ihre Masken, die ihnen schwarz-leere Augen sowie verzerrte Nasenrücken geben, machen aus ihnen puppenartige Wesen. Auch ihre immer wieder ungelenken und sich wiederholenden Bewegungen sowie die oft vor Erstaunen erstarrten Münder erwecken diesen Eindruck. Sie sprechen manchmal miteinander. Oft nehmen sie auch nur die Worte der Vorrednerin oder des Vorredners auf und führen die Sätze fort. Die Vier unterscheiden sich zwar, Individuen sind sie aber nicht.
Müller lässt grüßen
Akals Text und seine eigene Inszenierung desselben werfen die Frage auf, was vom Menschen bleibt, wenn er seine eigene Existenzgrundlage zwar zerstört, aber gleichzeitig die Voraussetzungen für transhumanes Leben schafft. Die Vier auf der Bühne sind Widergänger des geblendeten Sehers Teiresias: "Und so wurden wir blind. Die analoge Welt vor unseren sehenden Augen bewahrend." Anders als der antike Seher blicken sie jedoch nur noch zurück, nicht mehr in die Zukunft. Sie erinnern an gesellschaftliche und ökologische Probleme und schließlich an Katastrophen vor ihrer Zeit. Ihr Blick in die Vergangenheit ist oft defätistisch, verzichtet aber – Heiner Müller lässt grüßen – nicht auf derbe Komik. Diese kommt – genau wie die eine oder andere anzügliche Geste – in Teilen des Publikums nicht gut an, begeistert gleichzeitig jedoch zahlreiche der anwesenden Schüler:innen.
Im Verlauf des Abends reagiert das Publikum immer vielfältiger auf das Bühnengeschehen. Die wiederholt türkischen, vereinzelt auch englischen Sätze, die die posthumanen Pop-Zombies sprechen, sorgen sowohl für Lacher bei denen, die sie verstehen, als auch für eisiges Schweigen. Selten scheint sich das gesamte Publikum angesprochen zu fühlen. Das korrespondiert damit, dass der Blick auf die Bühne verdoppelt wird, indem über dieser ein großer Spiegel hängt, der einen zweiten Blick auf das Geschehen erlaubt. Akal hat ergänzend verschiedene intertextuelle Anspielungen in sein Stück einmontiert. "Goethe" und "Sturm und Drang" mögen noch als Schlagworte für das gesamte Publikum funktionieren.
Bunte Dystopie
Dass neben "Fatma", "Ahmet" und "Torsten" eine Figur "Iphigenie" heißt, die über "Schuld" nachdenkt, ist eine präzise Steilvorlage fürs Münsteraner Bildungsbürgertum, lässt aber offenbar die Schüler:innen hinter mir, die die meiste Zeit rege an der Inszenierung Anteil nehmen ("Leise Alter, Du bist so peinlich!"), völlig kalt.
Gemeinsam mit Annika Lu hat Emre Akal also ein Mosaik inszeniert, das kein Gesamtbild zeigt, sondern eine bunte, je nach Voraussetzung überfordernde Dystopie. Aber gerade deswegen ist sie letztlich ein präziser Spiegel der Gegenwart.
Nachkommen – Ein lautes Schweigen!
Von Emre Akal
Regie: Emre Akal, Bühne und Kostüme: Annika Lu, Dramaturgie: Tobias Kluge
Mit: Regine Andratschke, Alaaeldin Dyab, Clara Kroneck, Julius Janosch Schulte
Premiere am 19. Januar 2023
Uraufführung
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theater-muenster.com
Kritikenrundschau
Von einem "faszinierenden Stück" berichtet Andrea Kutzendörfer in der Glocke (21.1.2023). "Das Gruselkabinett aus Horst 2.0, Franz 2.0, Franzi 2.0, Nilgün 2.0 ist gewöhnungsbedürftig. In ihre leeren, maskenhaften Gesichter mag man auch nach eineinhalb Stunden Theateraufführung nicht gerne blicken. Ihre Fingernägel sind hässliche Greifer, die Haare zottelig. Aber je länger man diesen Wesen auf der Bühne des Theaters Münster zuhört, desto mehr steigt man in ihre Geschichte ein."
Der Sprechduktus der Figuren wirke zunächst "befremdlich", in einer Schlusspointe kläre sich dieser aber auf, schreibt Kritiker Helmut Jasny in den Westfälischen Nachrichten (21.1.2023). "Interessant" seien die Überlegungen der Protagonisten, warum sich das Wirkliche nicht gegen das Virtuelle haben durchsetzen können. "Und das ist dann doch ein guter Schluss für eine Aufführung, die in der Strecke nicht immer ganz überzeugen konnte", findet der Rezensent.
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(Anm. Redaktion: Ein persönlicher Anwurf wurde aus dem Kommentar entfernt.)
Die Form, die sich ständig selbst gebrochen hat, hat sich nicht verraten, sondern eher entlarvt, dass das Ganze eine große Anklage, vielleicht sogar ein lauter Nachruf auf unsere Gegenwart ist, mit der meine Schüler extrem viel anfangen konnten! Den letzten Satz der Rezension "ein präziser Spiegel der Gegenwart" kann ich nur dick unterstreichen. Vielen Dank auch für die Erwähnung unserer Anwesenheit in dieser Rezension!
(Anm. Redaktion: Eine überzogen polemische Passage ad personam wurde aus diesem Kommentar entfernt)
das die Situation ungewohnt verstehe ich. Allerdings würde ich doch fragen, warum Schüler:innen nicht ebenso Mal in den Genuss einer Theaterpremiere kommen sollten. Es gibt kein Vorkaufsrecht für Angehörige und letztlich ist es eine Entscheidung des Theaters, eine Klasse für eine Premiere zuzulassen.
Die übliche Praxis der Schulvorstellungen halte ich für etwa elitär, der Theaterraum sollte für alle zugänglich sein.
Wie kommen Sie beim Namen Koppeck auf “Herr” ?
Wenn Sie beschreiben, dass die ersten 10 Minuten sehr störend waren ist das interessant. Waren die SchülerInnen danach ruhiger weil gespannt zuhörend?
Liebe Schüler, wenn ihr zukünftig ins Theater geht, dann müsst ihr erst mal fragen, ob alle anderen, die vielleicht wichtiger sind als ihr, bereits ihre Karten haben. Ist das die Message? Dass es wichtige und weniger wichtige Zuschauer gibt? Und das kommt von den Freunden und Angehörigen der Schauspieler? Wow.
Oh bitte, mehr Unruhe in den Sälen, mehr Gelächter und Lautstärke und mehr Wow's am Ende.
"Viele Angehörige und Freunde, die mit dem Ensemble die Premiere feiern wollten, bekamen deshalb keine Karte mehr"
Come on, sind wir jetzt der Kulturadel der nicht gestört werden soll, oder was?
Und ein wenig mehr Kreativität wäre schon schön wenn man so gern dabei sein will: reinschleichen, Treppe sitzen, sich als Requisit verkleiden, irgendwas wird schon klappen
@Lehrerin und Lehrerin2
Toll, dass sie mit Ihren Schüler*Innen bei der Premiere waren. Ihre Schilderung ihres gemeinsamen Besuches ist mir mehr wert als jede Podiumsdiskussion über die Zukunft des Theaters
Vielen Dank für die Worte! Aus unserer Sicht ist das absolut ok und auch verständlich! Es ist in der Tat so, dass es ab und zu laut war und die Kommentarspalte sensibilisiert eher dafür, dass man die Schüler besser auf solche Projekte sensibilisieren muss!
Außerdem wurden wir vom Theater Münster sehr nett empfangen und haben uns sehr wohlgefühlt! Das besondere und tolle Stück wird uns auch noch lange beschäftigen!
Von uns auf jeden Fall ein voller Erfolg!
Mit freundlichen Grüßen
Ich fordere: noch mehr und viel mehr junge Menschen mit lauter Reaktion ins Theater.
Ist das etwa Konzept?
Ich fand es großartig, das ganze Teil und so im "Jetzt", dass es weh tut.
Diese Figuren lösen in einem ein wirklich ungutes Gefühl aus, um so menschlicher sie werden, um so mehr...! So viel Form und trotzdem so viel Mensch!
Das war ein crazy Abend! Thx dafür!
Gehen die Menschen (besonders die jungen) deshalb lieber ins Kino?
Ich verstehe das Problem mit der Konzentration und ja es ist keine leichte Sache als Schauspieler.
Ich wäre mir da nicht so sicher, in keiner dieser Aussagen. Aber schön, dass dieser Diskurs hier stattfindet, vielen Dank dafür (ganz ironiefrei)!
(Anm. d. Red.: Der Kommentar greift die Tonlage von #24 auf und schwappt wie dieser leicht ins Persönliche. Wir möchten bitten, bei aller Lust an Polemik auf die Sache orientiert zu bleiben. Mehr zu den Regeln im Kommentarbereich: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12:impressum&catid=1459&Itemid=100945)
Eher Nietzsches ewige Wiederkunft des Gleichen?
http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2023/01/muenster-nachkommen.html
Liebe Schüler*innen;
kommt bitte in die Premieren!
Kommt in die Theater!
Seid lebendig!
Wir brauchen euch!!
In anderen Ländern gibt es die Trennung von Jugend und Erwachsenen Publika kaum mehr. Wie es auch nicht die hierarchische Trennung gibt von der Frage welches Theater für wen gemacht ist?
Würde mich interessieren! Klingt jedenfalls nach einem vibranten polarisierenden Abend.
Da gibt es was zu entdecken!
P.s. Tolles Ende!
Surreale, kluge und bildhafte Installation. Spannend und direkt in die menschliche Magengegend treffend, trotz oder gerade wegen der Abstraktion.
Großartig gemacht und ein Gewinn für Münster!
Mehr davon!
Jedenfalls die beste Kommentar-Diskussion seit sehr langem! Daumen hoch!
Ich werde es ansehen und berichten.
Ein verständlicher Handlungsstrang wäre mal schön gewesen. Seltene Einwürfe, die lustig sein sollten, gingen eher nach hinten los. Was sollte der Plasitkfisch?
Die Schauspieler haben ihre Sache sehr gut gemacht.
Die verworrenen Texte zu lernen war sicher sehr schwer.
Das Bühnenbild hat mir gut gefallen.
Komme erst mal nicht mehr ins Theater.
War im Rahmen eines Abo von einem Bekannten dort.
Somit GSD kostenlos für mich.