Wem gehört die Geschichte?

25. Januar 2023. Die Sonne schien, ein Messer blitzte auf. Weitere Erklärungen gibt es nicht für den Mord, den der Protagonist in Albert Camus' Roman "Der Fremde" begeht. Im Roman "Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" erhält der namenlose Tote 70 Jahre später eine Identität. Co-Intendant Nicolas Stemann verspiegelt die Spiegelung erneut.

Von Andreas Klaeui

"Contre-enquêtes" am Schauspielhaus Zürich in der Regie von Nicolas Stemann © Phillippe Weissbrodt

25. Januar 2023. Der so genannte "Röstigraben" bezeichnet in der Schweiz die kulturelle Grenze zwischen deutsch- und französischsprachigen Regionen, im Französischen nennt sich die Barriere noch bildhafter "Rösti-Vorhang", "Rideau de rösti". Sie zu überwinden, zumindest in Bühnenbelangen, ist seit Jahren das Bestreben der Theater dies- und jenseits des Flüssleins Saane, das der Sprachgrenze ungefähr entlang läuft.

Absurder Gewaltakt

Die Fremdsprache bleibt ein Hindernis. Die ästhetischen wie auch die strukturellen Unterschiede der Häuser sind beträchtlich. Wobei man allerdings auch sagen muss, dass der Blick aus der Romandie in die Deutschschweiz neugieriger ist als vice versa. Regisseure wie Nicolas Stemann, Christoph Marthaler, Thom Luz arbeiten regelmäßig auf Westschweizer Bühnen; umgekehrt gibt es kaum Austausch. Nun nehmen das Lausanner Théâtre de Vidy und das Schauspielhaus Zürich, wo Stemann Kointendant ist, einen neuen Anlauf. Ende Februar werden in einem Showcase vier Arbeiten aus Vidy im Zürcher Schiffbau zu sehen sein (darunter Philippe Quesnes "Fantasmagoria"), und das Schauspielhaus bringt drei Inszenierungen nach Lausanne. Sozusagen als Auftakt dazu zeigt Stemann nun in Zürich seine Lausanner Koproduktion "Contre-enquêtes" nach dem Roman "Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" aus dem Jahr 2013 – die Fort- und Umschreibung eines berühmten Romans von Albert Camus.

Meursault, so heißt der Protagonist in Camus' Roman "L'étranger" ("Der Fremde") von 1942, der an einem Sonntag in der Mittagshitze am Strand von Alger einen Araber erschießt, ohne weiteren Grund, einzig wegen der Sonne und weil ein Messer im gleißenden Licht aufblitzt. Man hat seither viel geredet über diesen Meursault und seinen absurden acte gratuit, aber kaum über das Opfer, den namenlosen Araber. Bis ihm vor bald zehn Jahren der Algerier Kamel Daoud in seinem Roman eine Identität verlieh.

Contre Enquetes 05 805 Philippe Weissbrodt uMord ohne Grund: Thierry Raynaud, Mounir Margoum © Phillippe Weissbrodt

Er gibt dem Ermordeten, der sein Leben ja im Grunde genommen für Albert Camus' existentialphilosophische Erwägungen lassen musste und insofern ein doppeltes Opfer ist, eine Geschichte und einen Namen. Moussa heißt er bei Daoud. Sein Bruder Haroun erzählt die Geschichte siebzig Jahre nach der Tat, dadurch kann Daoud die Biografie von Moussa mit der Geschichte des Landes Algerien, mit Erfahrungen des Kolonialismus und Postkolonialismus verknüpfen; dass Camus ihn nur "l'Arabe" nennt, erzählt ja auch was über Albert Camus' Blick – den damals vorherrschenden französischen Blick. Was Daouds Sicht allerdings unterschlägt, ist die universale Absurdität, die aus der Anonymität des Opfers umgekehrt erwächst und die für Camus' Gedankengang nicht unerheblich ist. Mit dem Namen wird der Fall konkret, mithin zum Fait-divers – zur Meldung.

Die Fäden des Knäuels

Eine mehrfach verspiegelte Sache also, und Stemann verspiegelt sie nochmal mit den Biografien der Spieler. Aus der "Contre-enquête" werden "Contre-enquêtes" mit dem signifikanten Plural-s, Gegenuntersuchungen. Wer hat das Recht, Moussas Geschichte zu erzählen? Der Schauspieler Mounir Margoum hat maghrebinische Wurzeln und ist in der französischen Provinz aufgewachsen; sein Kollege und narrativer Rivale Thierry Raynaud kommt aus einer Familie so genannter "Pieds-noirs", Algerienfranzosen aus der Kolonialzeit. 

Wer erzählt wessen Geschichte? Wer hat das Recht, den Araber Moussa seinen – unseren? – "Bruder" zu nennen? Stemann und die beiden formidablen Spieler sortieren die Fäden mit aller Klarheit zum undurchdringlichen Knäuel. Mounir fängt an in der Rolle von Haroun, komödiantisch und mit aller gewünschten sinnlichen Fabulierfreude, Raynaud übernimmt mit französisch ziselierter Erzählkunst, und es ist erstaunlich, wie unterschiedlich der gleiche Text aus unterschiedlicher Haltung klingt. Im Hintergrund flimmern grobkörnige Postkartenbilder aus dem Algerien der Camus-Zeit, und immer wieder die Silhouette eines Mannes wie ein Phantom.

Contre Enquetes 01 805 Philippe Weissbrodt uWer war der Mann, dem all das passiert ist? Mounir Margoum © Philippe Weissbrodt

Auch die Texte von Camus und Daoud in Taschenbuchausgaben sind wichtige Requisiten, symbolische Versatzstücke, Da dient Daoud zum Beispiel als blitzendes Messer, Camus, um die Asche von Moussa aufzukehren – und zu allem Überfluss ruft aus dem Sarg auch noch Camus' Tochter Catherine an und verbietet die Verwendung von Texten ihres Vaters im Zusammenhang mit Daoud.

Sie lösen die Krämpfe, das Dilemma bleibt

Wer repräsentiert wen? Wen kann der Marokkaner Mounir Marghoun ("Also sind Algerien und Marokko kiff-kiff, super, Nicolas Stemann!") aus Clermont-Ferrand zeigen, der im Theater als "Arabe du service" gebucht wird und auch schon mal als Sohn von Saddam Hussein aufgetreten ist? Wen der Algerienfranzose Thierry Raynaud, der in der Banlieue von Paris aufgewachsen ist und auch schon mal Hamlet gespielt hat, obwohl er kein Däne ist? Und warum bleibt Nicolas Stemann nicht einfach bei "Faust" wie alle Deutschen?

Sehr aufgelockert kommt das rüber, entspannter als Stemanns jüngste Zürcher Arbeiten, mit sehr charmanter Ansprache des Publikums und dabei respektvoll festgezurrt in der Stoffbehandlung. Sie lösen die Krämpfe und das Dilemma gleichwohl nicht auf. Am Schluss tanzen beide Darsteller gemeinsam einen algerischen Tanz. Bis die Schüsse fallen.

 

Contre-enquêtes
nach dem Roman "Meursault, contre-enquête" ("Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung") von Kamel Daoud
In französischer Sprache
Regie und Bühnenbild: Nicolas Stemann, Kostüme: Marysol del Castillo, Video: Claudia Lehmann, Musik: Paloma Colombe, Nicolas Stemann, Licht: Jonathan O‘Hear, Dramaturgie: Katinka Deecke. Mit: Mounir Margoum, Thierry Raynaud.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
Zürcher Premiere am 24. Januar 2023
Koproduktion mit dem Théâtre de Vidy, Lausanne

schauspielhaus.ch
vidy.ch

 

Kritikenrundschau

Kamel Daouds Text sei voller Wut, die Nicolas Stemann auf ein "cooles Entertainment-Level herunterdimmt", berichtet Christian Gampert im Deutschlandfunk (online 25.1.2023). Thierry Raynaud mache seine Sache "großartig", wenn er Textbausteine spreche, die an diesem Abend schon einmal vorgetragen worden seien. Die koloniale Perspektive sei, wenn ein europäischer Schauspieler sie vertrete, merkwürdig, meint Gampert – mit diesen Schauspielern, dem Thematisieren ihrer Herkunft und ihrer Rollenzuschreibungen, treffe der Abend mitten in eine Identitätsdebatte. Nicolas Stemann mache aus dem Stoff "schönes, hochreflexives Diskurstheater". Er zeige die Aporien der Geschichte, die uns alle bis heute begleiten.

 

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