"Leben Sie mehr!"

25. Januar 2023. In "Die Besessenen" hat Albert Camus – als Gegenstück zu seinem Stück "Die Gerechten" – Fjodor Dostojewskis Roman "Die Dämonen“ dramatisiert. In Hamburg inszeniert Jette Steckel das jetzt zum Auftakt der Lessing-Tage als Teufelsaustreibung.

Von Stefan Forth

"Die Besessenen" am Thalia Theater Hamburg © Armin Smailovic

25. Januar 2023. Revolution muss sexy sein. Sonst würde ja niemand an sie glauben. Ein teuflischer Zusammenhang. Im Hamburger Thalia Theater holt Regisseurin Jette Steckel jetzt die bösen Geister des sinnlosen Umsturzes zu einem frivolen Totentanz auf die Bühne. Ihre Inszenierung von Albert Camus’ Schauspiel "Die Besessenen" nimmt einen langen Anlauf zu einem fulminant-fatalen Sog der Verführung.

Ein Doppelschlag der Weltliteratur

Bevor der Tanz beginnt, entwirft das Ensemble erst einmal das Gemälde einer Gesellschaft im Umbruch. Ein raumgreifender, überdimensionierter schwarzer Holzkasten begrenzt die Vorbühne und damit auch die enge Spielfläche des gesamten Abends. Auf den riesigen Tafeln prangen Motive des Renaissance-Künstlers Hieronymus Bosch: durchbohrte Körper, Fabelwesen zwischen Mensch und Tier, Würfel, (Alb-)Traumlandschaften.

Von einer schwebenden Malerbühne aus zeichnet Tim Burchardt mit bunter Kreide immer mehr dieser Nicht-Orte und Gestalten, während vor ihm auf kleineren Holzkästen geredet und gestritten wird. Nikolai und Pjotr, zwei halbwegs junge Männer, kommen nach längerer Abwesenheit zurück in ihre Heimatstadt und mischen die Gegend ordentlich auf. Ordnung und Ideale der älteren Generation haben sich für sie überlebt, und so palavern sie um große Themen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. Und darüber, dass nun aber endlich wirklich bald mal gehandelt werden müsse.

Besessenen 1 ArminSmailovic uRevolution vor Bosch-Pandämonium: Ensemble in "Die Besessenen" © Armin Smailovic

Die Zeitenwende, die hier herbeigeredet wird, spielt ursprünglich im Russland des späten 19. Jahrhunderts. Der französische Existentialist Camus hat sich für seinen Theatertext in großer Treue zum Kern des Originals an einem Roman von Fjodor Dostojewski abgearbeitet, der in Deutschland oft unter dem Titel "Die Dämonen" verkauft wird. Ein Doppelschlag an Weltliteratur also, wobei beide Versionen der Vorlage passagenweise einen gewissen Hang zur theorielastigen Debatte haben, die auf einer deutschen Bühne der 2020er Jahre teils aus der Zeit gefallen wirkt. Noch ein paar Striche und Kürzungen mehr würden dem Abend im ersten Teil guttun.

Fakten, Fakten, Fakten (statt Liebe)

Beeindruckend trotzdem, wie konzentriert sich die Katastrophe von Anfang an aufbaut und wie viel Sinnlichkeit Jette Steckel zusammen mit ihrer Co-Bühnenbildnerin Nadin Schumacher und dem Ensemble immer wieder schafft. Zum Beispiel wenn unvermittelt Menschen zum Teil des apokalyptischen Hintergrundgemäldes werden. Mit einem heftigen Wumms presst etwa Schauspieler Sebastian Zimmler seine fast 80 Jahre alte Kollegin Barbara Nüsse weit nach oben gegen die Holzvertäfelung, irgendwo zwischen Vögel in Menschengestalt und Nager. Hilflos hängend muss sie sich als alter Hauslehrer Stepan die Tiraden ihres heimgekehrten Sohnes Pjotr anhören.

Dessen Ziel besteht vor allem darin, die bestehende Ordnung mit allen Mitteln ins Wanken zu bringen. Über Leichen geht er dabei im Zweifel auch. Denn: "An die Stelle der Liebe treten Fakten, Fakten, Fakten." Erst muss alles zerschlagen werden. "Und was dann passiert, schaue ich mir von meinem Wochenendhaus auf Sylt an." Ein skrupelloser Lifestylerevoluzzer, ein selbstverliebter Schmeichler, ein gefährlicher Charmeur.

Sebastian Zimmler ist wirklich bestechend als abgründiger Verführer, der mit getönter Sonnenbrille und schweren schwarzen Boots auch als DJ am Live-Set die Party am Laufen hält. Sein Gesicht funkelt noch von der Seitenlinie, immer auf der Suche nach dem nächsten Opfer. Großartig! Mit einem Cocktailshaker und zwei Drinks bewaffnet macht sich dieser Typ auf der Malerbühne schwebend an Nikolai heran: "Sie haben ein außergewöhnliches Talent zum Verbrechen." Dabei blitzt Pjotr allerdings trotz allen Körpereinsatzes erstmal ab.

Da entlädt sich die Kraft der Verzweiflung

Schauspieler Jirka Zett entwirft mit seinem Nikolai ein Gegenbild des Welt-Neu-Denkers: viel kälter, manchmal bis zur Gleichgültigkeit, aber in seinem folgenschweren Selbstmitleid kein Stück weniger gefährlich (und kein Stück weniger genial gespielt). Er wird den Mord an seiner "spinnerten" Ehefrau wider besseren Wissens nicht verhindern - und sogar für ein paar erotische Momente davon profitieren.

Besessenen 4 ArminSmailovic uChoreografie des Grauens © Armin Smailovic

Dann öffnet sich aber endgültig der Abgrund, und die Bühne wird zum Elektro-Club der Zombies, in dem neben Zimmler auch noch Schauspielkollege Felix Knopp Musik macht. Er spielt und singt links an der Orgel, während der Rest des Ensembles in gesteppten Oberteilen und mit knallig bunt übergefärbten Haaren zu einer zuckenden Choreographie des Grauens antritt. Da entlädt sich die Kraft der Verzweiflung, die der Abend von Beginn an aufgebaut hat.

Das Schlusswort in dieser Inszenierung hat Barbara Nüsse. Das gebührt ihr schon allein deshalb, weil sie einmal mehr gezeigt hat, wie unglaublich vielseitig sie ist, wie nuancenreich, spannungsvoll und energetisch sie spielen kann. "Leben Sie mehr!", ruft sie Richtung Publikum -und dieser eine Satz entwickelt plötzlich eine ungeheure, hoffnungsvolle Schlagkraft.

Bis zum allerletzten Moment ist dieser Abend also mit Bedacht und Sorgfalt gearbeitet. Richtig gutes Schauspielertheater mit einem starken Ensemble. Ein Plädoyer gegen selbstgerechten ideologischen Starrsinn – wie der Versuch einer Teufelsaustreibung mit den Mitteln der Bühne.

Die Besessenen
von Albert Camus
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Regie: Jette Steckel, Bühne: Nadin Schumacher und Jette Steckel, Kostüme: Pauline Hüners, Musik: Felix Knopp und Lars Wittershagen, Choreografie: Yohan Stegli, Licht: Paulus Vogt, Dramaturgie: Emilia Linda Heinrich.
Mit: Julian Greis, Lisa Hagmeister, Nils Kahnwald, Maike Knirsch, Felix Knopp, Barbara Nüsse, Cathérine Seifert, André Szymanski, Jirka Zett, Sebastian Zimmler; Live-Bühnenmalerei: Tim Burchardt.
Premiere am 24. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

Kritikenrundschau

"Es ist das Kernproblem dieser bunten Inszenierung, die damit beginnt, dass alle sich Farbe in die Haare schmieren, dass sie die historischen Debatten um Gott, Russland, Gerechtigkeit und Freiheit nicht vor ihrer Künstlichkeit rettet", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (online 26.1.2023). Die Fassung, die Steckel mit der Dramaturgin Emilia Heinrich in der Hoffnung erstellt habe, Parallelen zum Totalitarismus von heute (etwa in Russland) ziehen zu können, konzentriere sich textlich zu sehr auf die männlichen Dispute über abstrakte Wahrheiten, um aktuelle Denkanstöße zu liefern. "Verloren im Stoff wie die Sünder in Boschs Höllenwelt rettet die Zuschauer nur, dass die Zerfahrenheit der Erzählung begeisternd gespielt wird", schreibt Briegleb. "Wenn man halt nur wüsste, was dieser Garten der Schauspielkünste eigentlich zu unserer gegenwärtigen Krisenzeit sagen will", seufzt der Kritiker.

Die Inszenierung gehe "ästhetisch wie dramaturgisch völlig aus dem Leim – und mutiert nicht zum ersten Mal bei Steckel zur Disco", stöhnt Jens Fischer in der taz (30.1.2023) auf. In "zweieinhalb pausenlosen Denktheaterstunden" habe sich die Produktion zu einer aktuellen Lesart des philosophischen Kerns des Stoffes "leider nicht vorgearbeitet".

"Steckels Inszenierung ist ein streckenweise durchaus herausfordernder Debattiermarathon, aber sie schafft es, die theorielastigen Dialoge mit enormer Sinnlichkeit aufzuladen", urteilt Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (27.1.2023). "Die Balance zwischen Gleichgültigkeit, Weltekel und dem Potenzial zur Revolte, zum Widerstand ist einer der Hauptspannungsbögen, getragen wird er von einem Ensemble zum Niederknien."

Hier sei "ein lauter, streitsüchtiger, hasserfüllter, sehnsüchtiger, selbstmörderischer Debattierclub“ zu sehen, berichtet Peter Helling im NDR (26.1.2023) durchaus angetan. "Ein Wimmelbild aus angehenden Terroristen und Verrätern. Irre, wie schnell das Ensemble spielt, wie fix es denkt und in die Rollen schlüpft. Jette Steckel inszeniert ein organisiertes Chaos, dem nur die Zündkapsel fehlt."

Kommentare  
Die Besessenen, Hamburg: Erschlagend
Wie auch schon in ihrer letzten Inszenierung - Das mangelnde Licht - scheint die von mir sehr geschätzte Jette Steckel ein wenig das Gefühl dafür zu verlieren, welche Mengen an Text Zuschauerinnen und Zuschauer in der Lage sind aufzunehmen, zu verstehen, zu begreifen ...

Ich muss gestehen gestern nach einer Stunde "ausgestiegen" zu sein, soviel pausenlos vorgetragene Theoriegebilde in Verbindung mit persönlichen Befindlichkeiten hat mich den Blick aufs Ganze verlieren lassen.

Natürlich bleibt wie immer im Thalia-Theater die Freude über das spielfreudige und grossartige Ensemble, doch eine konzentrierte Reduktion des Textes hätte deutlich dem Stück, dem Verständnis und auch dem Theatergenuss gut getan.
Die Besessenen, Hamburg: Ächzende Diskurshölle
Unermüdlich wälzen die Figuren mit quietschbunt gefärbten Haaren ihre philosophischen Diskurse. Das Publikum ist zu harter gedanklicher Arbeit herausgefordert. Kaum eine Atempause und nur wenige spielerische Momente gönnt Thalia-Hausregisseurin Jette Steckel ihrem Publikum und ihrem Ensemble. Zu Beginn ihrer Karriere hat sie bewiesen, dass sie auch aus so schwerer philosophischer Kost wie dem „Caligula“-Thesenstück von Albert Camus gemeinsam mit Mirco Kreibich in der Box des Deutschen Theaters herausforderndes und miteißendes Theater machen konnte. Doch diesmal lasten die statischen Tableaus und die enormen Textmassen gewaltig auf diesem langen Premierenabend mitten in der Arbeitswoche, mit dem das Thalia Theater sein Lessingtage-Festival einläutet.

Völlig unvermittelt explodiert das über zwei Stunden bedeutungsschwer kreisende Diskurstheater in einer hypernervösen Choreographie, in der das Ensemble zuckt und zappelt. Erstaunlich, mit wie viel Elan und Beweglichkeit Barbara Nüsse in diesem Trubel mittendrin ist, obwohl sie in wenigen Wochen ihren 80. Geburtstag feiern wird. Ihr gehört auch der schöne Schlussmoment: „Leben Sie mehr!“, ruft sie uns im Saal zu und haucht ein letztes „Adieu“ hinterher, bevor sie seitlich am Bühnenrand abgeht.

Mehr Lebendigkeit wäre auch ein Wunsch für diese ambitionierte, aber unter ihrer Materialfülle ächzende philosophische Diskurshölle, durch die Jette Steckel, Albert Camus und Fjodor Dostojewski das Publikum an einem Abend schicken, der vor der Premiere noch auf 2,5 Stunden gekürzt wurde. Eigentlich müsste er fünf Stunden dauern, erklärte Jette Steckel im Programmheft-Interview. Nur dann könnte sie alle philosophischen Gedanken der Vorlage unterbringen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/26/die-besessenen-jette-steckel-thalia-theater-kritik/
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