Wege der Vielstimmigkeit

28. Januar 2023. Der Roman "Herkunft" von Saša Stanišić ist preisgekrönt und oft gespielt. Jetzt hat Peter Kastenmüller den Stoff in Bielfeld inszeniert. Mit tollem Ensemble, Musik und vielen Referenzen. Zwischen Schmerz, Ironie und Leidenschaft.

Von Karin E. Yeşilada

"Herkunft" von Saša Stanišić am Theater Bielfeld © Philipp Ottendörfer

28. Januar 2023. Es gibt diese Magie im Erzählen des bosnisch-deutschen Autors Saša Stanišić, die seine Bücher trotz ihrer nicht leichten Themen zu Bestsellern macht: Schon sein Erstlingsroman "Wie der Soldat das Grammophon repariert" eroberte 2006 trotz der Kriegsthematik das Lesepublikum. Auch der zwölf Jahre später erschienene Roman "Herkunft" wurde ein großer Erfolg.

Der starke Text ist schwierig auf die Bühne zu bringen, da es kaum eine lineare Handlung gibt in dieser Mischung aus Autobiografie, Erzählungen, Recherchen und (scheinbar) verstreuten Erinnerungen: Ein Enkel, der aus der neuen Heimat Deutschland mit der in Bosnien gebliebenen Großmutter kommuniziert, seine Fluchtgeschichte, sein Deutschland-Leben und die jugoslawische Familien- und Kriegsgeschichte reflektiert. In dem Maße, wie die Großmutter ihr Gedächtnis verliert, sammelt der erzählende Enkel ihre und seine Erinnerungen.

Verschiedene Räume und Zeiten

Aber was davon ist wahr und was nicht? "Wir sind in Višegrad. Ich bin dein Enkel und vier Jahre alt oder vierzehn oder vierundzwanzig oder vierunddreißig“, heißt es zu Beginn im Roman, auf dessen Grundlage Dramaturgin Katrin Enders und Regisseur Peter Kastenmüller eine eigene Bühnenfassung erarbeitet haben. Es ist ein hochkonzentrierter Abend, der den Text feiert und das ihm auf der Bühne eingehauchte Leben. 

Dabei kommt die Aufmachung zunächst eher unaufdringlich daher, auf der von Alexander Wolf in monochromen Grautönen gestalteten Bühne. Auf einer drehenden Plattform erscheinen abwechselnd eine altmodische Küche (Oma Kristina in Višegrad) oder ein spärlich eingerichtetes Wohnzimmer (Familie Stanišić in Heidelberg), wobei die Seitenbereiche zwischenzeitlich für Land- und Ortschaften wie Oskoruša oder Emmertsgrund genutzt werden. Diese Räume bleiben unauffällig, dienen eher der Orientierung, in welcher Zeitebene sich die (häufig in den Zeitebenen wechselnde) Erzählung gerade befindet.

Bukolische Figuren mit Blumenkränzen

Auch die Kostüme der insgesamt sieben Spieler:innen sind fast monochrom schwarz oder anthrazit. Oma Kristina im 1970er Polyesterkleid, die Eltern Stanišić in Anzug und Kostüm, die drei Sašas in "Jugo“-stereotypischen 1990er-Polyester-Trainingsanzügen. Einzig die Tito-Figur sticht im Militär-Habit zunächst heraus, später dann noch die bukolischen Figuren auf dem Friedhof mit blumenbekränzten Jungmädchen (Kristina und Maria). Was optisch zunächst als fast schon enttäuschend dezent anmutet, erweist sich jedoch über den Abend hinweg als kluge Gestaltung, hilft sie doch dabei, sich auf den Text, auf das Erzählte, auf das Spiel der sieben Schauspieler:innen zu konzentrieren.

Herkunft1 805 PhilippOttendoerfer uAlt-Jugoslawien auf Campingstühlen: rauchend © Philipp Ottendörfer

Gadgets wie Reallife-Video oder Konfettikanone kommen sparsam genug zum Einsatz, Soundeffekte ebenso, dafür wird aber der Musik viel Raum gegeben: So singt die vom spartenübergreifenden Projekt Bielefelder Studio stammende, temperamentvolle Mayan Goldenfeld wunderschön jugoslawische Lieder. Später stimmen in der Sterbeszene der Großmutter alle Sieben in melancholische Volksweisen ein. Der letzte Tanz der Eltern vor dem Krieg auf einen alten Jugoslawien-Schlager berührt, und wenn die drei Sašas ihre geile Jugend im Heidelberger Emmertsgrund beschwören, dürfen Goldenfeld und Graser auf Elektrogitarre und Bass ordentlich abrocken.

Richtig so, Bielefeld!

Und dann dieser großartige, poetische Text von Stanišić. Vielstimmig und verwirrend, beim Lesen lässt es sich gut pausieren, doch auf der Bühne? Peter Kastenmüllers Inszenierung geht, ähnlich wie schon andere "Herkunft“-Inszenierungen, den Weg der Vielstimmigkeit mit und lässt gleich drei (bisweilen mehr) Sašas sprechen (alle drei sehr präsent: Alexander Stürmer, Rosalia Warnke, Faris Yüzbașıoğlu, dessen Nachname alle diakritischen Zeichen tragen darf, wie auch Stanišić – richtig so, Bielefeld!), dazu Großmutter Kristina im zumeist verwirrten Zustand (den Lukas Graser eindringlich wütend spielt) und die beiden Eltern (Doreen Nixdorf und Oliver Baierl).

Die Gespräche zwischen dem Enkel und der zunehmend verwirrten Großmutter bilden einen Rahmen. Ein weiterer ist die Fluchtgeschichte der Eltern, die fast noch stärker reinhaut als die von Saša: Denn während sich der Teenager doch irgendwie im migrantischen Milieu und in seiner Zukunft zurechtfindet, müssen die intellektuellen Eltern ihre Lebensentwürfe ganz aufgeben und auf prekären Stellen schuften – Baierl und vor allem Nixdorf geben sie entsprechend frustriert und abgearbeitet –, und am Ende werden sie auch noch abgeschoben, der Sohn aber nicht. Wie bitte? Und das im Land der ach so hochgehaltenen Menschenwürde? Schande, Deutschland!

Herkunft3 805 PhilippOttendoerfer uZwischen Herkunft und Zukunft: Lukas Graser, Alexander Stürmer, Faris Yüzbaşıoğlu, Doreen Nixdorf, Rosalia Warnke, Oliver Baierl © Philipp Ottendörfer

Die Premiere in Bielefeld fällt übrigens auf den Holocaust-Gedenktag, und es tut gut, Stanišićs klare Ansagen gegen Rassismus und die Verletzung der Menschenwürde durch Ausbeutung und Abschiebung zu hören. Zwischen seine sonst oft bezaubernden, ironischen Passagen schieben sich immer wieder solche, die vom Vergewaltigen und Morden während des Bosnienkriegs berichten und die serbischen Täter klar als Kriegsverbrecher benennen. Stanišić wetterte 2019 in seiner Dankesrede zum Buchpreis gegen die Literaturnobelpreis-Verleihung an Kriegsverteidiger Peter Handke, bezieht immer wieder klar Stellung und findet deutliche Worte, auch zu den Verbrechen der rechtsextremen Mörder von Mölln und Solingen oder zu hetzerischen Tweets von FDP-Politikern. Solche Stellen werden auch auf der Bühne engagiert vorgetragen. Auch das tut gut.

Mitgehangen, mitgefangen

Viel Text ist zu bewältigen. Dass der Roman dabei kein Monument bleibt, verdankt sich der Inszenierung und der Spielfreude des Bielefelder Ensembles. Es gibt viel Dynamik und Bewegung, treffsicher ausgespielte Ironie – ein Bändertanz auf einer Bosnien-Völkerschau zum Beispiel – und auch immer wieder entlastende Komik. Gerade die Gruppenszenen schaffen originelle Bilder: Etwa, wenn das alte Jugoslawien als synchron rauchende Menschen-Reihe auf Campingstühlen choreografiert wird. Und: Was rauchen die da eigentlich für ein scheußliches Kraut? Es stinkt schauderhaft, das Publikum vorne muss mitrauchen.

Wir sind ja im Theater, nicht zuhause bei Netflix, mitgehangen, mitgefangen also. Die Frau in der dritten Reihe hustet. Dafür lachen wir aber dann auch gemeinsam, als es oben auf der Bühne um den Kampf mit deutschen Verb-Endungen und balkanischen Wortendungen geht und "Stanišić-tsch-tsch" als verspieltes Echo über die Bühne tanzt. Szenen, wie die versuchte ethnische Einteilung im Klassenraum ("Serbe oder Moslem? – Fick‘ dich!“), die schon im Buch lustig sind, brillieren erst im Spiel so richtig. Stimmt also, "Herkunft" eignet sich für die Bühne, auch hier in Bielefeld. Nicht immer ein leichter Abend, aber ein zutiefst beglückender.

Herkunft
von Saša Stanišić
Theaterfassung von Peter Kastenmüller und Katrin Enders
Inszenierung: Peter Kastenmüller, Bühne und Kostüme: Alexander Wolf, Musik: Misha Cviković, Dramaturgie: Katrin Enders
Mit: Oliver Baierl, Mayan Goldenfeld (Bielefelder Studio), Lukas Graser, Doreen Nixdorf, Alexander Stürmer, Rosalia Warnke und Faris Yüzbașıoğlu
Premiere am 27. Janaur 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

theater-bielefeld.de

 

Kritikenrundschau

Aus der Gegenüberstellung der distanzierteren, ironisch-lakonischen Form des Romans und des Spiels auf der Bühne, "dem Trauma der Vertreibung gleichsam 'in the making'", gewinne die Inszenierung ihre Spannung, schreibt Marcus Ostermann in der Neuen Westfälischen (30.1.2023). Die Bühnenfassung dramatisiere nicht den Roman, sondern kommentiere ihn, indem sie etwa auf die Schicksale der Eltern fokussiere, die in Deutschland nicht mehr als Politologin und Betriebswirtschaftler arbeiten konnten, sondern als Wäscherin und Montagearbeiter ihr Geld verdienten.

 

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