Die große Desillusion

29. Januar 2023. Das Schlachtengemälde ist schon in vielen Farben ausgemalt worden. Regisseur Guy Clemens kitzelt in seiner Inszenierung von Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" eigene Wahrheiten heraus und zeigt das Endspiel eines Paars, das zeitgeschichtlich vor einem neuen alten Totalitarismus steht.

Von Andreas Wilink

Seelenlastenträger und ihre Doubles: "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" am Schauspielhaus Bochum von Guy Clemens inszeniert © Birgit Hupfeld

29. Januar 2023. "One grows fond of one's burdens" – Man gewinnt seine Lasten lieb. Diese Haltung und Selbsterhaltung beschreibt der amerikanische Philosoph George Santayana in seinem einzigen Roman "Der letzte Puritaner". Leidenschaftlich zwar und sinnenfreudig sind sie, die Ehepartner George und Martha, die Edward Albee in "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" nicht von ungefähr mit den Vornamen des ersten US-Präsidentenpaars Washington ausgestattet hat, aber eben auch Seelenlastenträger dieser Grundeinstellung der amerikanischen Gesellschaft. Das Private ist immer auch politisch.

Das Drama dauert nur eine Nacht lang, wenig Zeit, doch genug, dass ein in Fetzen gehendes ganzes Eheleben in die Stunden bis zur Dämmerung hineinpasst. So viele Tricks, Finten und Lügen, die sich am Ende der Wahrheit zweier Leben annähern (und zweier weiterer); falls man es denn Ende nennen kann und nicht vielleicht Neubeginn oder Erreichen eines Zustands, der Wiederholung und die Wiederkehr des immer Gleichen ausschließt.

Zärtlichkeit der Wölfe

Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" öffnet das Gitter zu einem Bestiarium, aber wir erkennen in dem Zwinger, den der Mann George und die Frau Martha seit 23 Ehejahren bewohnen, auch, dass es etwas gibt wie die Zärtlichkeit der Wölfe und – ja, sogar – Gnade. Amerika, das Gottesland der Pilgerväter, puritanischen Mütter, Betschwestern und Kain und Abel-Bruderschaften, liegt "Jenseits von Eden", wie John Steinbecks Roman heißt, der zehn Jahre vor Albees Drama aus dem Jahr 1962 erschienen ist. Beides sind Passionsgeschichten. Die Figuren tragen ihr Kreuz, konfrontiert mit der Revolte der Chromosomen, getrieben vom sexuellen Impuls, geschlagen mit Kinderlosigkeit, Scheinschwangerschaft, Abtreibung und Impotenz. Heimsuchung durch das Erotische und das Religiöse.

Wer hat Angst vor Virginia Woolf2 c Birgit Hupfeld u Die Bühne sperrt das Raubtier-Maul auf: "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" mit Konstantin Bühler, Jele Brückner, Victor IJdens © Birgit Hupfeld

Das Schlachtengemälde ist schon in vielen Farben ausgemalt worden. Unauslöschbar sind Hassliebe, Angstlust, intellektuelle Überlegenheit und im selben Atemzug die Unterlegenheit des Kopfmenschen, sind sinnliche Dominanz sowie der Ritualmord (an einem imaginären Sohn), die dieser Mitternachtsparty auf einem College-Campus mit vier Personen ihre hochtourige, von Alkohol flüssig gehaltene Energie geben. Bis zur Erschöpfung. In dem Quartett wollen "Zwei einander aufessen, bevor sie gänzlich geschmacklos geworden sind" (Heiner Müller). Kannibalismus am lebenden Körper.

Eigene politische Wahrheiten

Die Bühne (Dorothee Curio) im Bochumer Schauspielhaus sperrt ihr Maul auf. Die Öffnung der vierten Wand ist wie herausgebrochen, als hätte ein monströses Raubtiergebiss die Zähne gezeigt und einen kräftigen Biss genommen. Ein Spiegel erweitert die Perspektive, die Getränkebar als das wesentliche Requisit ist in einer Schrankwand verklappt. Die 1960er Jahre als Entstehungszeit des Dramas treffen sich in den Schlaghosen von Georges flaschengrünem Anzug und in den wie von Paco Rabanne gehämmerten und gepanzerten glitzernden Kleider-Rüstungen der Frauen.

Wer hat Angst vor Virginia Woolf1 c Birgit Hupfeld u George gibt den Ton vor: v.l.n.r. Victor IJdens, Jele Brückner, Konstantin Bühler, Anne Rietmeijer © Birgit Hupfeld

Guy Clemens' besonnene Regie gestattet, dass wir uns sogleich wieder von Albees analogem Killerspiel und gewalttätigem Schaustück (Diskurshoheitsansprüche freundlich außer acht lassendem) gefangen nehmen lassen, aber dennoch frei bleiben, sodass die Gedanken Tanzschritte machen dürfen und das Ende der Illusionen zweier Menschen in ihrer geteilten Einsamkeit mit dem Untergang eines Imperiums verbinden, was gerade in diesen Tagen eines neuen alten Totalitarismus eigene Wahrheit hat.

Konstantin Bühler als Geschichts-Professor George ist, lässig und schlaksig, von lang geringelten rötlichen Locken umloht – halb Wildgruber, halb absolutistischer Marquis de Valmont, dessen maliziöse Diktion er beherrscht. Da wird nichts verschenkt, nichts ausgekostet, nichts verschliffen. Seine brillante zynische Vernunft hat er unter Kontrolle, aber sie lässt das wilde Denken zu. Jele Brückner als Martha, auf der realen Ebene Tochter des Rektors und in einem höheren Sinn männermordend mythisches Mutter-Imago, beherrscht ihre Partitur der Königin der Nacht, herb, rabiat, garstig, gallig, girrend und grölend. Biegsam wie ein Bond-Girl, sind ihr Kampfmontur rosa Hotpants mit viel, viel Bein. So lauert sie auf den Kick, der in ihr die Offensive auslöst und ihr zugleich den Schlag versetzt.

Endspiel bis ins Morgengrauen

Gegen Martha und George und die rasante Routiniertheit ihres Matchs aufzukommen, ist schwer für die beiden jungen Gäste (und deren Darsteller), die Martha zu später Stunde auf einen Drink eingeladen hat: den gut gebauten, Karriere orientierten Biologen und Zukunftsmenschen Nick und seine zarte Honey, eine Predigertochter, der Gottes Wort Reichtum beschert hat. Während Victor IJdens den Nick treuherzig und sehr brav vorstellt, auch wenn er schnell die Hosen fällt lässt und sie gegen einen knappen Rock tauscht, erspielt sich die hoch präsente Anne Rietmeijer eine rührende Tragik, erinnernd an die ganz junge Shirley MacLaine in Vincente Minnellis "Some came running".

George repetiert im letzten Akt die liturgischen Formeln des katholischen Requiems, als Martha noch von ihrem fiktiven Kind fantasiert, dessen selbst inszenierten Tod hinzunehmen er sie nötigt. Die Geister sind ausgetrieben. Am Ende, im rötlich leuchtenden Tagesanbruch, sitzen Martha und George miteinander allein. Beckett-Figuren, Wartende, zu Ende Gespielte.

Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
von Edward Albee
Aus dem Englischen von Alissa und Martin Walser
Regie: Guy Clemens, Bühne und Kostüme: Dorothee Curio, Lichtdesign: Bernd Felder, Dramaturgie: Vasco Boenisch.
Mit: Jele Brückner, Konstantin Bühler, Victor IJdens, Anne Rietmeijer. 
Premiere am 28. Januar 2023
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Die Ausgangskonstellation hat ordentlich Staub angesetzt, aber das scheint den Regisseur Guy Clemens nicht sonderlich zu kümmern", schreibt Hubert Spiegel in der FAZ (30.1.2023). Albee begreife das Spiel als Wettkampf, "bei Clemens ist es die lustvoll-qualvolle Gemeinschaftsarbeit an der eigenen Identität: Wir sind, woran wir leiden." Zugleich verleihe er dem rüdem Realismus eine Prise Existenzialismus und rückt das Stück näher an Beckett heran.

"Fast 60 Jahre später ist nun die Zeit reif, den famosen Dreiakter als eine Art Liebesgeschichte zu erzählen, was ansehnlich gelingt", so Sven Westernströer in der WAZ (30.1.2023). "Es begeistert immer wieder, wie sorgfältig dieses Stück gebaut ist und wie wundervoll die Dialoge klingen." Eine leichte Ehrfurcht vor dem Stoff bleibe Guy Clemens' Einrichtung anzumerken. Der Erfolg stehe und falle mit der Besetzung, und da ist vor allem Jele Brückner ein Glücksfall. 

Die Aufführung werde immer surrealer, bleibe aber psychologisch packend, ein Schauspielerfest, so Stefan Keim auf WDR 3 Mosaik (30.1.2023). Clemens inszeniere nicht nur ein Psychodrama, sondern das Porträt einer zutiefst verstörten Gesellschaft. "Es geht nicht nur um in Hassliebe ineinander verbissene Intellektuelle, sondern um Menschen, die verunsichert sind und darauf mit Aggression reagieren."

Regisseur Guy Clemens setze den Fokus ganz "auf sein tolles Mimen-Quartett", schreibt Britta Helmbold in den Ruhr Nachrichten (31.1.2023). Am Ende dieser alkoholreichen Nacht seien "alle um einige Illusionen ärmer", das Publikum aber danke dieser "zweistündigen, dicht gespielten Ehe-Schlacht" mit "tosende(m) Applaus".

Der Abend sei eine "saftige Auseinandersetzung mit kuriosen Schauwerten und seelischen Untiefen", befindet Achim Lettmann im Westfälischen Anzeiger (31.1.2023). Die Figur der Martha werde durch Jele Brückner "zum Mittelpunkt eines packenden Ehedramas" und lasse "das Begehren der Frau, eine Familie zu haben, schmerzhaft implodieren", zeigt sich der Kritiker erfreut.

 

Kommentare  
Virginia Woolf, Bochum: Beeindruckender Abend
Ein beeindruckender Abend und eine beeindruckende Darstellung!! Chapeau! Wir haben den ganzen Abend über Albee‘s Stück diskutiert, welche Interpretationen sich eröffnen und über die tolle schauspielerische Leistung.
Vielen Dank für den schönen Abend.
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