Wie wollen wir sterben?

29. Januar 2023. Fast wie in einem lebendig gewordenen Monet-Gemälde: Maria Milisavljević erforscht realistisch und poetisch die Arbeit im Pflegeberuf. Und entdeckt eine Figur, die gut als ein Woyzeck des 21. Jahrhunderts durchgehen könnte.

Von Marlene Drexler

"Alte Sorgen" von Maria Milisavljević in Meiningen © Christina Iberl

29. Januar 2023. Kathrin ist keine Extremistin. Kathrin ist noch nicht mal unbedingt eine Idealistin. Kathrin ist eigentlich nur eine Frau im richtigen Beruf. Sie ist empathisch, geduldig, kann gut mit Menschen und ist Altenpflegerin. Widersprüchlicherweise wird Kathrin aber genau das, ihre Empathie, zum Verhängnis; die Tatsache, dass sie die Heimbewohner nicht als Patienten, sondern Menschen sieht und ein Gefühl dafür hat, wie man mit mit Alzheimer- oder Demenz-Erkrankten umgeht. Verkehrte Welt? Nein, Realität. Aus ihrem Umfeld wird ihr gespiegelt: Du bist der Sonderling, der Fehler im System. Es gibt doch ganz genaue Vorgaben und Ablaufpläne: Saubere Arbeitskleidung, Hände waschen, Hygieneschleusen, 15 Minuten Zeit für das Ankleiden. Schnell bitte, aber gerne ohne Hetze. Wo ist das Problem?

Abgang in Würde

Ein alter Mensch ist ein besonders schutzbedürftiges Mitglied der Gemeinschaft, ja. In einem Gesundheitssystem, in dem Mitarbeiter angesichts von Personalmangel ständig an der Belastungsgrenze arbeiten, ist ein alter Menschen aber auch ein weiteres belegtes Bett. Unter diesen harten Bedingungen zerreibt sich die Figur Kathrin bei dem Versuch, den alten Menschen einen Abgang in Würde zu ermöglichen, psychisch und physisch. Ihre eigene problematische Beziehung mit der Mutter bleibt unbearbeitet, das Verhältnis zu ihrer Tochter distanziert sich weiter.

alte sorgen 1 foto christina iberl uSchuften im Pflegedienst: Miriam Haltmeier und Evelyn Fuchs © Christina Iberl

Maria Milisavljevićs Drama "Alte Sorgen" wurde ursprünglich für das Theater in Münster geschrieben. Nachdem die Corona-Pandemie die dortige Uraufführung verhinderte, hat Schauspieldirektor Frank Behnke das Stück der derzeit viel gespielten Autorin ans Staatstheater Meiningen mitgenommen. Im weiteren Schreibprozess fand die Pandemie auch Eingang in Milisavljevićs Text.

Das Thema ist ja mittlerweile aus dem öffentlichen Fokus wieder weitgehend verschwunden. Da wirkt die Stückauswahl des Meininger Staatstheaters wie das Snooze des Weckers. Ach, da war doch etwas. Das Timing ist gut.

Unsentimentales Bild des Pflegeberufs

Die Stärke des Stücks liegt darin, dass die Autorin drastische Zustände ohne anklagenden Unterton beschreibt. Der Text ist keine frontale Gesellschaftskritik. Vielmehr liefert Milisavljević ein vielschichtiges Bild des Pflegeberufs, in dem sie sich nicht nur aus dokumentarischer Perspektive nähert. Dramatische Texte wechseln sich mit lyrischen und poetischen ab. Die große Kunst dabei ist, dass der Ton weder ins Kitschige, noch ins Sentimentale abdriftet.

Für die Regie hat sich das Meininger Staatstheater die Nachwuchsregisseurin Anna Stiepani ans Haus geholt. Eine gute Entscheidung. Stiepani, die vorher unter anderem am Bochumer Schauspielhaus gearbeitet hat, weiß mit diesem anspruchsvollen Genre-Mix umzugehen. Sie hat ein gutes Gespür für die ungewöhnlichen Gangarten des Stücks. So tauchen neben Geistern auch mehrere allegorische Figuren – Luft, Nebel, Schatten – auf. Die märchenhaften Elemente bringen auch mal Komik mit sich, wirken aber nie albern oder gar naiv. Im Gegenteil: Erst mit Hilfe dieser, einer anderen Welt entnommenen Wesen, gelingt es, die amorphe Struktur der zentralen Themen abzubilden: Altern, Endlichkeit, Sterben und Tod – allesamt mystische Vorgänge, weil sie für uns letztlich unbegreiflich bleiben.

alte sorgen 2 foto christina iberl uSchwein muss man haben, wenn's dem Ende zugeht: Das Meininger Ensemble auf der Bühne von Thurid Peine © Christina Iberl

Stiepani inszeniert fantasievoll und mit Hingabe für jedes kleinste Detail. Im Zusammenspiel mit dem eindrucksvollen Bühnenbild von Thurid Peine aus riesiger Spiegelwand und Bodenbemalung, das in der Lage ist, Welten zwischen den Welten zu kreieren, entsteht ein stimmiges Gesamtkunstwerk. Atmosphärisch changiert der Abend irgendwo zwischen Tim-Burton-Film und einem lebendig gewordenen Monet-Gemälde. Stiepani und Peine, das ist ein Duo von dem man gerne mehr sehen will.

Ein Woyzeck fürs 21. Jahrhundert

So stellt der Abend entlang des einsames Kampfes der Figur Kathrin implizit die große, tabuisierte Frage in den Raum: Wie wollen wir sterben? Und er bricht die Krisen der Pflegerinnen und Pfleger auf jeden Einzelnen von uns herunter.

Kathrin bleibt bei ihren Prinzipien treu, auch wenn sie sich dafür immer wieder den harschen Zurechtweisungen der Pflegeleiterin stellen muss. Erträgt es stur für die Sache. Evelyn Fuchs' stressverzehrtes Gesicht, der gehetzte Gang, ständig außer Puste, überträgt die Anspannung und Erschöpfung dieser Figur bis in die letzten Zuschauerreihen, lässt die wunden, vom Desinfektionsmittel entzündeten Fingerkuppen vorstellbar werden. Dazu der Kontrast: Im Kontakt mit den Heimbewohnerinnen und -bewohnern wandelt sich ihr Gesicht ganz plötzlich in einen Ausdruck liebevoller Milde. Selbst körperliche Attacken, als Folge von Orientierungslosigkeit und geistiger Verwirrung, lastet sie den alten Menschen nicht an. Eine beeindruckende Haltung, die Evelyn Fuchs ihrer Kathrin verleiht.

Köstlich anzuschauen sind auch die beiden Geister Hanni und Nanni, gespielt von Emma Suthe und Carmen Kirschner. Zwei verstorbene alte Frauen, die im Jenseits ihre jugendlichen Körper zurückerhalten haben. Grauhaarig, aber Rad schlagend und tanzend versuchen sie, Altenpflegerin Kathrin vor ihrem unheilvollen Schicksal zu bewahren, und sind dabei schlechtes Omen und gute Prophezeiung in einem. Ein Satz, den Kathrins Tochter sagt, hallt als nüchterne Bilanz und Hoffnungsschimmer zugleich nach: "Traurig, unwürdig, menschengemacht."

Autorin Maria Milisavljević schreibt im Untertitel des Stücks "gedacht entlang Georg Büchners Woyzeck". Und tatsächlich kann die Figur der Kathrin und ihr innerer Kampf zwischen Selbstaufopferung und Selbstschutz, für einen Woyzeck des 21. Jahrhunderts stehen. Ein weiblicher Woyzeck, aus junger, weiblicher Sicht auf die Bühne gebracht – eine Produktion, mit der das Staatstheater Meiningen Perspektiven erweitert.

 

Alte Sorgen
von Maria Milisavljević
Uraufführung
Regie: Anna Stiepani, Bühne: Thurid Peine, Dramaturgie: Olaf Roth.
Mit: Evelyn Fuchs, Miriam Haltmeier, Gunnar Blume, Christine Zart, Renatus Scheibe, Carmen Kirschner, Emma Suthe.
Premiere am 28. Januar 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-meiningen.de

 

Kritikenrundschau

"Einen wunderbaren Text voller Poesie. Keinen Text über den Tod hat die Autorin Maria Milisavljevic geschrieben", so Peter Lauterbach im Meininger Tageblatt (30.1.2023). Einen Text, der mühelos die Ängste und die Umstände verbindet mit einem geradezu heiteren Blick, "so leicht, dass seine Figuren darin zu schweben scheinen". Regisseurin Anna Stiepani konzentriere sich auf seine Stärken, inszeniere die poetischen Momente zwischen diesseits und jenseits mit Lust. Fazit: Es gelinge eine Inszenierung, "die das Heitere und das Traurige zusammenführt. Die anhand eines Pflegebetts über Leben und Sterben sinniert – und vielleicht am Ende ein Gefühl erzeugt, dass da lautet: Sei achtsamer mit dir selbst!"

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