Fährte ins Trauma

30. Januar 2023. Mit "Pirsch" gewann Ivana Sokola im vergangenen Jahr den Autor:innenpreis beim Heidelberger Stückemarkt. Ex-Dorfbewohnerin Marinka schleicht sich darin wie eine Jägerin an ein Verbrechen heran, das ihr hier einst angetan wurde. Christina Gegenbauer hat die düstere Spurensuche in Göttingen zur Uraufführung gebracht.

Von Simon Gottwald

"Pirsch" in der Inszenierung von Christina Gegenbauer © Lenja Kempf

30. Januar 2023. Das Gedächtnis kennt keine Verjährungsfrist: Lange, nachdem sie das Dorf verlassen hat, kehrt Marinka zurück. Sie will endlich wissen, was vor fünfzehn Jahren auf dem Fest passiert ist – und wer der Täter war. Nur Fragmente sind ihr geblieben, ein Geschmack, ein Geruch, ein Gefühl wie von einem wilden Tier.

In Ivana Sokolas "Pirsch", das nun seine Uraufführung am Deutschen Theater in Göttingen erlebte, kommt Marinka als Fremdkörper in die alte Heimat zurück. Sie ist ein Störenfried, der die Vergangenheit nicht ruhen lassen will – dass sie das auch gar nicht kann, versteht ihr Bruder Jan nicht, der ihre Erinnerungen als die an einen Traum abtut und sie fragt, ob sie nicht vielleicht selber schuld sei: zu viel getrunken, falsch gekleidet, falsches Signal gegeben, man kennt es. 

Spurensicherung ergebnislos

Das Bühnenbild aus Stoffstreifen, die während der Aufführung mehrmals anders platziert werden, empfängt den Besucher gleich zu Beginn: Er muss sich seinen Weg durch den Wald bahnen, um zu seinem Platz zu kommen. Die Streifen dienen als Projektionsfläche für abstrakte Muster, die schwindelig machen, wenn sie zu lange betrachtet werden – man wird vom Sog, den Marinkas Erlebnis auf das ganze Dorf ausübt, beinahe verschluckt.

Wie eine verwirrte Puppe tanzt Marinka (beeindruckend gespielt von Mirjam Rast) zu Beginn des Stückes, und schnell wird im Gespräch mit ihrem Bruder Jan (Lukas Beeler in einem starken Wechselspiel aus Selbstgerechtigkeit und Angst) eines klar: Das Leben auf dem Dorf ist ziemlich trist, das Fest der einzige Lichtblick. Das will man sich nicht vermiesen lassen wegen irgendeiner alten Geschichte, für die es keine handfesten Beweise, nicht einmal eine konkrete Erinnerung gibt. Einer hat allen Grund, die Vergangenheit ruhen lassen zu wollen. Der Rauch, in dem hier zu stampfender Musik wild gezappelt wird, verschlingt alles, das Publikum wird Teil der gesichtslosen Menge im Festzelt. Jeder könnte es gewesen sein. Die Polizei ist machtlos, die erniedrigende Spurensicherung an Marinka natürlich ergebnislos. Zwar will die Polizistin Lene helfen, aber wie soll das gehen, wenn nichts geblieben ist, wenn Zeit und Trauma alles ausgelöscht haben, das helfen könnte, den Täter zu überführen? 

Pirsch 1 LenjaKempf uIm Lamellenwald von Bühnenbildner Frank Albert: Ensemble aus "Pirsch" © Lenja Kempf

Ein Geruch genügt einem Jagdhund, und Marinka findet gleich drei, die sie dabei unterstützen, den Schuldigen zu suchen. Aber Gerüche sind trügerisch und führen Marinka und ihre Meute zu den Falschen. Rache schafft neue Opfer, wenn sie nicht den Richtigen trifft, darum offenbart Lene sich Marinka schließlich: Auch ihr wurde in jener Nacht vor fünfzehn Jahren etwas angetan, sie aber lässt nicht den Festplatz in Flammen aufgehen, sondern pirscht sich an den Täter heran. Leise Schritte, die ihm Raum lassen für nichtssagende und wertlose Rechtfertigungen: zärtlich sei er gewesen, es gar nicht so schlimm.

Auf dem Dorf verändert sich nie etwas: Feuerwerk oder Schüsse, auf jeden Fall ist der Lärm nett anzuhören, das Fest ist eine Institution, und man trägt noch Tracht (starke Kostüme von Frank Albert). Bevor die Bluse ausgezogen ist, hat ihre Schluppe sich schon in eine Schlinge verwandelt. Wieder zappelt der Täter, aber es ist das letzte Mal. Dieses Mal wird es beim Fest keine Vergewaltigung geben.

Vom Sog verschluckt

Durchgehend angenehm ist der Theaterabend mit "Pirsch" wahrhaftig nicht – aber alles andere wäre bei dem Thema des Stückes auch ein Fehlschlag. Mit ganzem Körpereinsatz spielt das Ensemble, versteckt sich hinter dem grünen Gitter eines Waldes (oder sind es Erinnerungen, in denen man sich verheddert?), um nur als fragmentiert sichtbar zu sein, schreit und schwitzt. Judith Strößenreuter fängt als Polizistin Lene den Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit, der die Figur zu zerreißen droht, beeindruckend ein, und die drei Hunde (Florian Donath, Moritz Schulze, Christoph Türkay) schaffen es, das Spannungsverhältnis zwischen Spiel auf der einen Seite und tödlichem Ernst auf der anderen, die eine Jagd zwangsläufig sein muss, einzufangen.

Nikolaj Efendis Musik, irgendwo zwischen sehr düsterem Ambient und Drone à la Yellow Swans, verdeutlicht, dass dieses Fest anders ablaufen wird als die anderen. Viel zu lange waren die Opfer einem System ausgeliefert, das viel zu häufig nicht helfen kann, obwohl es das doch eigentlich soll. Ivana Sokola hat mit "Pirsch" ein starkes Stück vorgelegt, äußerst gekonnt inszeniert von Christina Gegenbauer. Wahrscheinlich wird es viele Besucher noch einige Zeit begleiten. Das Gedächtnis kennt keine Verjährungsfrist.

Pirsch
von Ivana Sokola
Uraufführung
Regie: Christina Gegenbauer, Bühne und Kostüme: Frank Albert, Musik: Nikolaj Efendi, Dramaturgie: Sarah Lena Tzscheppan.
Mit: Mirjam Rast, Lukas Beeler, Judith Strößenreuter, Florian Donath, Moritz Schulze, Christoph Türkay.
Premiere am 29. Januar 2023
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.dt-goettingen.de

Kritikenrundschau

Es sei "ein schwieriges, anspruchsvolles Stück, das unter der Regie von Christina Gegenbauer aber trotzdem mit eindrucksvoll komponierten Bildern in den Bann zieht", findet Hanna Sellheim im Göttinger Tageblatt (30.1.2023). Den "kunstvoll gestrickten Monologen" zu folgen und die "rätselhafte Metaphorik zu entschlüsseln", falle zwar nicht immer leicht, aber die Inszenierung unterstreiche die Wirkung des Textes "mit gelungenen Einfällen". Wer bereit sei, sich auf ein Stück einzulassen, das "das bedrückende Frage aufwirft und die Zuschauer mit einem anspruchsvollen Text und gespenstischen Bildern herausfordert", werde "nicht enttäuscht", so die Kritikerin.

Sokolas Text habe "ein spannendes Thema", so Jan Fischer in Die Deutsche Bühne (30.1.2023): "Da ist einmal der normalisierte sexuelle Missbrauch, hier am Beispiel von Dorffesten aufgezeigt. Dann ist da die Frage, inwieweit Selbstjustiz, oder: Rache, angemessen oder zumindest nachvollziehbar sein kann, wenn alle anderen Wege verschlossen sind." Doch das sei alles "in einem Textwust versteckt, der mal poetisch wirken kann, manchmal Poesiesimulation ist, manchmal aber auch nur ganz knapp an der Grenze zur unfreiwilligen Komik entlang schrabbt". Die Inszenierung setze dem zwar "die Klarheit des Bünenbildes entgegen", dennoch bleibe der Eindruck, dass "sich hier ein Thema, das erkundenswert ist in einem Text verbirgt, der sich hinter zu viel Sprache und zu viel Bildern versteckt". 

 

Kommentare  
Pirsch, Göttingen: Hervorragend
Frau Gegenbauer hat trotz ihrer Jugend das Format auch schwierige und anspruchsvolle Stücke hervorragend zu präsentieren .
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