Medienschau: ZEIT / FAZ / SZ – Streit um russische Beteiligung bei Maifestspielen

Kultur des Aggressors?

Kultur des Aggressors?

1. Februar 2023. In Wiesbaden ist ein Streit über über eine Einladung der russischen Sängerin Anna Netrebko zu den örtlichen Maifestspielen entbrannt. Dort soll sie am Hessischen Staatstheater zwei mal in Verdis "Nabucco" singen.

Deren künstlerischer Leiter Uwe Eric Laufenberg, auch Intendant des Staatstheaters Wiesbaden, hält trotz Protest aus der Politik weiter an einem Vertrag mit Netrebko fest, der seinen Angaben zufolge bereits vor Beginn des Ukraine-Kriegs angebahnt wurde. Seit Januar 2023 steht Netrebko auf der Sanktionsliste der ukrainischen Regierung. 

"Höchst unsensibles Verhalten"

Zunächst hatte die Hessenschau (23.1.2023) den Fall thematisiert: "Der Magistrat der Stadt Wiesbaden als Gastgeber der Internationalen Maifestspiele hat sich gegen einen geplanten Auftritt der russischen Sopranistin Anna Netrebko bei den Maifestspielen 2023 ausgesprochen. Die Hessische Landesregierung unterstütze diese Haltung." In der gemeinsamen Erklärung der Stadt und des Landes habe es geheißen, "die Festspiele seien denjenigen gewidmet, die aufgrund ihrer Meinung im Gefängnis säßen wie etwa der russische Aktivist Alexej Nawalny. Netrebko stehe auf einer Sanktionsliste der Ukraine. Angesichts dessen sei es nicht zu vermitteln, weshalb Netrebko bei den Festspielen auftreten solle.

"Dieses Verhalten ist höchst unsensibel", so die Stadt Wiesbaden und das Land dem Bericht zufolge. "Wir haben den Intendanten gebeten, auf Frau Netrebko zu verzichten". Dies sei "leider erfolglos" verlaufen, so der Bericht weiter. Das Land Hessen ziehe deswegen Konsequenzen. Ministerpräsident Boris Rhein (beide CDU) werde seine Schirmherrschaft bei den Maifestspielen ruhen lassen. "Ich sehe mich nicht in der Lage, gegenüber Frau Netrebko, der persönlich keine Beteiligung an einem Angriffskrieg unterstellt werden kann, ein Auftrittsverbot zu verhängen", wird aus einem Brief von Intendant Uwe Eric Laufenberg an Magistrat und Landesregierung zitiert, indem er sich "empört" über die Einmischung der Politik zeige.

"Vermutlich spielen auch finanzielle Überlegungen eine Rolle, da das Theater Netrebko im Falle einer Kündigung wohl voll auszahlen müsste," mutmasst in der Süddeutschen Zeitung Reinhard Brembeck (24.1.2023) über die Weigerung des Theaters, Anna Netrebko wieder auszuladen. 

Die Werte der zivilisierten Welt

In der Zeit berichtete Hannah Schmidt wenig später (30.1.2023), dass der ukrainische Generalkonsul in Hessen, Vadym Kostiuk, erklärt habe, dass die ebenfalls zu den Wiesbadener Maifestspielen eingeladenen ukrainischen Ensembles – das Taras-Schewtschenko-Theater in Charkiw und das ukrainische Nationalorchester – "nun beim Festival nicht auftreten dürften, würde Netrebko dies ebenfalls tun." In einer schriftlichen Resolution vom 27. Januar stelle auch "die ukrainische Theaterintendantin Laufenberg vor die Wahl: 'Unsere Teilnahme beim selben Festival, bei dem auch Anna Netrebko auftritt, ist für uns, als Angestellte des Ukrainischen Staatstheaters, ausgeschlossen und unmöglich.' Es sei nun an Laufenberg, zu entscheiden, 'welcher Kultur Sie mit Ihrem Festival eine machtvolle Plattform geben wollen: der Kultur des Aggressors und einem terroristischen Staat, oder der Kultur des demokratischen Staates, der verzweifelt für die Werte der gesamten zivilisierten Welt kämpft'." Die ukrainischen Ensmbles hätten bei ihrer Einladung zu den Maifestspielen nichts von der Einladung Netrebkos gewusst.

Offensichtlich politisch motiviert

"Die Agentur Andreas Richter, die sowohl die Ukrainische Nationalphilharmonie als auch Teodor Currentzis’ musicAeterna in Europa vertritt, hatte dem Chefdirigenten Mykola Diadiura und der Nationalphilharmonie frühzeitig mitgeteilt, dass in einem anderen Konzert auch Anna Netrebko im Rahmen der IMF auftreten werde. Die Künstler hat das nicht davon abgehalten, unsere Einladung anzunehmen," erklärte das Staatstheater Wiesbaden daraufhin. "Die vorläufigen Absagen, die uns nun sowohl seitens der Ukrainischen Nationalphilharmonie als auch seitens des Taras-Schewtschenko-Theater Charkiw erreichten, sind ganz offensichtlich politisch motiviert bzw. von der Politik auferlegt. Dies wird nicht zuletzt aus dem Schreiben des Kulturministers Oleksandr Tkachenko an Claudia Roth offenbar. Tkachenko stellt in diesem Schreiben klar, dass die ukrainische Seite weder die Zusammenarbeit mit Personen tolerieren werde, die die russische Kultur repräsentierten, noch überhaupt Veranstaltungen, in denen russische Kultur zur Darstellung käme ('the Ukrainian side does not tolerate any kind of collaboration with the aggressor state nor participation in any cultural event together with anyone representing Russian culture, nor being part of any event promoting russian culture.')."

In seiner Antwort an die Ukranischen Künstler habe Uwe Eric Laufenberg darauf hingewiesen, "dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Diskriminierung von Menschen wegen ihrer Nationalität, Rasse oder Religion verbiete" und die Presse- und Kunstfreiheit sowie das Verbot der Zensur unterstrichen, berichtet Ewald Hetrodt Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.1.2023). Außerdem habe Lauffenberg bekundet, "dass er dafür sei, die Ukraine in die Europäische Union aufzunehmen. Aber nur, wenn sie sich auch selbst zu den genannten Prinzipien bekenne. Es könne nicht sein, dass es einer Sängerin wie Anna Netrebko, die gegen den russischen Angriffskrieg Stellung bezogen habe und in Russland nicht mehr auftreten dürfe, nun auch verboten sei, in der freien Welt aufzutreten." Hetrodt bezeichnet Laufenbergs Kommunikation in der Sache als "absurd".

Verstrickungen und Verteidigungskämpfe

"Offenkundig genügt es nicht mehr, sich von Krieg und Gewalt zu distanzieren oder eine moralische Position zu behaupten," kommentiert wiederum in der Süddeutschen Zeitung Helmut Mauró die Causa (31.1. 2023). "Im Fall von Anna Netrebko, die wegen ihres Statements gegen den Krieg nun auch in Russland nicht mehr auftreten kann, wird die Distanzierung als kalt kalkulierte Schutzbehauptung gewertet. Bislang kannte man solche Verstrickungen und aussichtslosen Verteidigungskämpfe aus Schurkenstaaten oder Romanen Franz Kafkas. Die wehrhafte Demokratie möge solche Verhältnisse verhindern. Es scheint, als müsse sie sich dafür nicht nur gegen ihre Feinde, sondern nun auch gegen ihre leidenschaftlichen Freunde verteidigen."

"Es dürfte also darauf hinauslaufen, dass Netrebko bei den Maifestspielen singt und das Theater aus Charkiw sowie die Ukrainische Nationalphilharmonie nicht auftreten, " schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (31.1.2023). "Unterdessen muss einem mit Blick auf Konzert- und Theaterspielpläne um die Präsenz russischer Kunst in Deutschland nicht bange werden. Dennoch betont das Staatstheater noch einmal: Die Maifestspiele 'entscheiden sich nicht für oder gegen eine nationale Kultur. Sie entscheiden sich für die eine Kultur, die alle verbinden sollte'."

(ZEIT / FAZ / SZ / Staatstheater Wiesbaden / sle)

Kommentare  
Medienschau Wiesbaden: Anwalt der Kunst
Herr Laufenberg sollte dafür geadelt werden - ein echter Anwalt der Kunst, der sich den unsäglichen Forderungen der Ukraine widersetzt. Chapeau !
Medienschau Wiesbaden: Kein homogener Kulturraum
Wer, wenn nicht die Theater, müssen Widersprüche permanent aushandeln – aber auch aushalten! Somit müssen wir mehr denn je daran arbeiten, dass Unterschiedlichkeiten nicht als Problem, sondern als eine Qualität empfunden werden und wir keinen homogenen Kulturraum schaffen wollen, in dem alle dasselbe denken. Das gilt auch dann, wenn uns geografisch Kriege näherkommen.
Der Wiesbadener Intendant handelt richtig. Er bringt russische und ukrainische Künstler und Künstlerinnen zusammen. Das ist gut. Und wenn beide Parteien sich auf dem Festival öffentlich streiten könnten – umso besser. „Die Perser“ von Aischylos gelten als Antikriegsstück. Interessant dabei: das Stück beschreibt die Sicht der Täter!
Medienschau Wiesbaden: Beschreibungs-Crux
#2: Ein Stück beschreibt nicht, sonst wäre es ein Roman oder eine Erzählung. Es kann (und sollte m.E.) Figuren enthalten, die mitunter beschreiben oder erzählen, die aus ihrer eigenen Perspektive erzählen/beschreiben undoder in ihre eigene Erzählung/Beschreibung auch eine von ihnen übermittelte fremde Sicht einbauen - In den meisten Fällen wird durch solche Figuren, die einander erzählen/berichten/beschreiben und dabei einander zuhören/zusehen sowie währenddessen auf das von/m jeweils anderen Erzählte/Berichtete/Beschriebene reagieren, optional DARSTELLBAR gemacht, was in wem und durch wen ausgelöst wie genau situativ in bestimmten Macht- und Lebensverhältnissen vorsichgehen kann. Und dadurch weiter darstellbar gemacht, wie das, was dabei vorsichgehen kann, das Handeln aller sichtbar und sogar unsichtbar Beteiligten beeinflusst.
Muss man jetzt nicht wissen, schadet aber auch nicht, wenn man das weiß. Besonders dann nicht, wenn man ein Theater leitet oder ein Stück inszenieren möchte...
Medienschau Wiesbaden: Endlich ...
... endlich weiß ich mal Bescheid! Danke.
Medienschau Wiesbaden: Nachvollziehbar
Ich finde es nachvollziehbar, dass ukrainische Künstler:innen sich hier nicht zum kulturellen Feigenblatt machen lassen. Es geht nicht darum, dass sich Positionen auf einem Festival begegnen, das ist eine pure Behauptung.

Es ist eine Star-Sopranistin mit für hohen Gage engangiert worden, sie wird die wohlhabende Bevölkerung glücklich machen und danach wieder abreisen, nicht mehr und nicht weniger.
Medienschau Wiesbaden: Es geht nicht um Cancel Culture
Man hat mich nach meiner Einschätzung gefragt, da ich im Zusammenhang mit dem Festival RADAR OST engen Kontakt zu ukrainischen wie russischen Künstler:innen habe und aktuell auch am Düsseldorfer Schauspielhaus mit Theatermachern aus der Ukraine zusammenarbeiten. Warum es hier nicht um Cancel Culture geht, versuche ich im Deutschlandfunk zu formulieren:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/sollen-ukranische-und-russische-kuenstler-nicht-mehr-gemeinsam-auftreten-dlf-kultur-ab2a5863-100.html
Medienschau Wiesbaden: Schon arg
Das ganze Bohei mag ja im Falle von Anna Netrebko noch, wenngleich mühsam, nachvollziehbar erscheinen (Blumensträuße von Wladimir Wladimillowitsch, Geburtstagskonzert im Kreml usw.), aber wenn ich es richtig verstehe, dürften die ukrainischen Künstler*innen, doktrinbedingt, auch dann nicht auftreten, wenn auf dem Programm der Maifestspiele eine Kindervorstellung von "Peter und der Wolf", dargeboten vom Orquesta Filarmónica de Buenos Aires, stünde? Was würde "das Land Hessen" denn hierzu sagen?
Medienschau Wiesbaden: Widerspruch
#7: Ja, offenbar ist das so angedacht: Wir behaupten zwar lauttönend, das zweifelsfrei rechts und Nazi ist, wer auf einer kulturellen Identität als Lebensrealität beharrt.
Aber eigentlich verstehen wir das voll, dass es solche festgefügten Identitäten sogar in der Art gibt, dass selbst geografisch benachbarte russische und ukrainische nationale kultuerelle Identität absolut nix miteinander zu tun haben könnensollendürfenmüssen! - Klar, verstehen wir voll und fragen uns, wie dieser berlinfremde naive und emotional-sadistische Branchen-Idiot Laufenberg nur zu dem Irrtum hat gelangen können, dass Kunst und Kultur prinzipiell völkerverbindende, kriegs-überwindende Zeichen setzen können. Zumal Musik-Kunst, die soviel zeichenreicher ist als Darstellende oder Bildende Kunst!... Hm. Auch bemerkenswert, wenn es nach Sprache geht: Dass der Vertreter der hessischen Landespolitik im von Birgit Lengers verlinkten Beitrag meint, dass sie diese "Empfehlung getroffen" hätten. Epfehlungen gibt man und Entscheidungen trifft man - Hätte Klemperer seine emotional Depressionen auslösende aber immerhin fachliche Freude dran gehabt... ja, gut, wenn der Laufenberg nicht spurt, dann ziehen sie eben ihre Schirmherrschaft zu rück. Begrüße ich. Rückzug von HERRschaft ist immer gut! - Mein Vorschlag: Birgit Lengers sofort als neue Festivalleiterin nach Wiesbaden und Laufenberg nach Anklam oder so zum Festival West-Ost-West-West-Ost... Und in das Ost-Festival des DT 10 Jahre lang nur noch Urkainische KünstlerInnen zur Identitätssicherung, am besten unter Böhmermann-
Medienschau Wiesbaden: Nicht verbieten
#6 - Birgit Lengers. "Cancel Culture" habe ich immer so verstanden: Es bezeichnet den Versuch, ein vermeintliches Fehlverhalten, beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen - häufig von Prominenten - öffentlich zu ächten. Es wird zu einem generellen Boykott dieser Personen aufgerufen. - Und das betrifft doch hier die russische Künstlerin Anna Netrebko. Oder etwa nicht?
#7 - Blumiboy. In der Tat "Bohei". Was das "Land Hessen" sagen würde im Fall von "Peter und der Wolf"? Ich weiß es nicht. Über Kunst lässt sich nun mal gut streiten. Ich erinnere an die Documenta. - Mir geht's nur darum, dass wir in der Kunst weiterhin den freien Austausch von unterschiedlichen Sichtweisen weder verbieten, drangsalieren noch einschränlken dürfen. Deswegen bin ich dafür, russischen Küntlerinnen und Künstlern auch hier im Westen Auftrittsmöglichkeiten zu bieten.
Medienschau Wiesbaden: KunstundFreiheit
#8 - KunstundFreiheit. Liest sich gut und ist inhaltlich gut.
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