"Der Mensch ist ein Abgrund"

4. Februar 2023. Wir wissen, wie diese Geschichte endet. Katharina Stoll erzählt trotzdem von einem der bekanntesten Bühnen-Femizide. Dabei erlauben Gegenwartsbezug und Fokusverschiebung ein Gegengewicht zu der zu vertrauten Erzählung. Ist Marie vielleicht einfach polygam und schläft deswegen mit Woyzecks Freund Andres?

Von Sascha Westphal

"Woyzeck" in der Regie von Katharina Stoll im Theater an der Ruhr, Mülheim © Franziska Götzen

4. Februar 2023. Gleich zu Beginn von Katharina Stolls sehr freier Annäherung an Georg Büchners Fragment "Woyzeck" fällt ein zentraler Satz, in dem sich das wunde Herz dieser Klassikerüberschreibung offenbart. Gerade haben wir noch miterlebt, wie Marie und Woyzeck fast trunken vom Verliebtsein einander geneckt und geküsst haben. Doch nun sind sie ins Schlafzimmer verschwunden, um ungestört weiterzumachen. Nur Margret, Maries Freundin und Mitbewohnerin, bleibt in der Wohnküche der WG zurück und fängt an zu erzählen. Kaum hat sie damit begonnen, schon kommt sie zum entscheidenden Punkt: "Ich schätze, wir alle wissen, wie diese Geschichte endet."

Fatalismus

Ja, wir wissen sehr genau wie die Geschichte von Marie und Woyzeck endet. Wir wissen von dem Messer und von "der roten Schnur" um Maries Hals. Wir wissen auch um die Begeisterung des "Polizeydieners" nach dem Fund von Maries Leiche: "Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen thun kann." Und wir wissen um den Fatalismus, der mit jedem Gedanken an Büchners unvollendeter Tragödie so fest verknüpft ist. Die Geschichte muss mit dem Mord Woyzecks an Marie enden.

Auf eben diesen Fatalismus, der weit über unser Wissen über das Stück hinausgeht, verweist die von Riah Knight gespielte Margret. Wir nehmen schließlich nicht nur diesen Bühnen-Mord hin. Wir leben auch in dem vollen Bewusstsein, dass jeden dritten Tag ein Mann seine (ehemalige) Partnerin tötet. Teile der Gesellschaft sehen diesen Femiziden nicht nur zu. Sie haben sie sogar als etwas akzeptiert, was halt passiert. Also als eine Art von Selbstverständlichkeit. Diese so seltsame wie fürchterliche Ergebenheit so vieler Menschen angesichts der Morde an Frauen, die von deren (Ex-)Partnern begangen werden, rückt das Kollektiv Glossy Pain ins Zentrum seiner "Woyzeck"-Überschreibung. Sie verlegt Büchners Tragödie nicht nur in die Gegenwart, in die Küche einer mehrsprachigen Großstadt-WG. Sie erzählt sie vielmehr als einen Raum von Möglichkeiten und Chancen, die ein anderes Ende denkbar machen, auch wenn es letztlich doch wieder wie immer kommt.

Woyzeck2 A Babaei Vieira J. Zilinske c Franziska GoetzenVideoprojektionen von Sebastian Pilcher unterstreichen den düsteren Lauf hin zum sicheren Ende – trotz utopischer Räume in der Überschreibung des Kollektivs. © Franziska Götzen

Glossy Pain verschiebt den Blick des Publikums gleich doppelt. Zum einen wird aus der Nachbarin Margret, die bei Büchner nur eine Nebenfigur ist, Maries beste Freundin, mit der sie weitaus mehr als nur die gemeinschaftlichen Räume einer Wohnung teilt. Zum anderen richten Katharina Stoll und ihre Mitstreiter:innen ihr Augenmerk auf den Anfang der Beziehung zwischen Marie und Franz Woyzeck, der eine Etage über den beiden Frauen wohnt. So wird aus dem Eifersuchtsdrama, das in einem Mord gipfelt, die Geschichte einer stürmischen Liebe, die keineswegs zwangsläufig zu dieser Bluttat führen muss.

In einer ihrer direkten Ansprachen an das Publikum bekennt die englischsprachige Margret, dass sie sich wünschen würde, dass sie nicht so viel Zeit ihres Lebens mit der Lektüre von feministischen Schriften verbringen müsste. Aber es geht eben nicht anders. Während der von Joshua Zilinske gespielt Woyzeck aufrichtig entsetzt darüber sein konnte, dass sie und auch Amanda Babaei Vieiras Marie im öffentlichen Raum ständig Opfer von sexuellen Übergriffen werden, müssen die beiden Frauen Wege finden, die Strukturen zu verstehen, die diese Übergriffe ermöglichen und zu etwas gänzlich Alltäglichem machen. Insofern verbringt nicht nur Margret sehr viel Zeit mit feministischen Schriften. Diese haben sich zugleich ganz direkt in Katharina Stolls Inszenierung eingeschrieben.

Polygamie

Nicht nur die Gedanken von Autorinnen wie Şeyda Kurt und bell hooks prägen diese "Woyzeck"-Variation. Deren Bücher stehen im Regal des von Wicke Naujoks entworfenen Bühnenkastens und liegen auf den Tischen der Wohnküche. Sie sind ein Teil von Maries und Margrets Alltag. Nicht zufällig legt sich Marie in einem Moment der Unsicherheit und der Traurigkeit auf die Couch, um in der Lektüre von Șeyda Kurts "Radikale Zärtlichkeit" Trost zu finden. Der Gedanke einer "radikalen Zärtlichkeit", die Beziehungen aus dem am Ende zerstörerischen Zweier-Konzept monogamer Partnerschaften befreien könnte, durchdringt Amanda Babaei Vieiras Spiel vollkommen. "There is plenty of room in my heart", sagt sie einmal zu Margret, als sie ihr zu erklären versucht, warum sie Woyzeck lieben und trotzdem mit dessen Freund Andres schlafen kann. Es gibt genügend Platz in unser aller Herzen, um auf Besitzansprüche zu verzichten und mit verschiedenen Menschen verschiedene Formen von Zärtlichkeit und Liebe zu teilen.

Utopischer Raum

Für diese unterschiedlichen Formen von Liebe und Wärme, Zärtlichkeit und Nähe findet Katharina Stoll immer wieder eindrucksvolle Theaterszenen. So ist das ständig zwischen Deutsch und Englisch hin und her wechselnde Zusammenspiel von Amanda Babaei Vieira und Riah Knight nicht nur ein wundervolles Beispiel für die tiefe Freundschaft zweier Frauen. Es eröffnet zugleich einen utopischen Raum, in dem keine starren Grenzen zwischen Liebe und Freundschaft, Fürsorge und Zärtlichkeit mehr bestehen. Und auch in den frühen Szenen zwischen Marie und Joshua Zilinskes Woyzeck wird Liebe und mehr noch der berauschende Überschwang des Verliebtseins auf eine Weise greifbar, wie nur selten auf der Bühne. Indem die Inszenierung Gefühle des Glücks, der Liebe und der Zusammengehörigkeit so überaus wirkmächtig heraufbeschwört, etabliert sie ein Gegenmodell zu der toxischen Beziehung zwischen Marie und Woyzeck. Ein Modell, das einem sehr deutlich sagt, dass es nicht so kommen muss, wie es Büchner einst niedergeschrieben hat.

Dass es trotzdem auch in dieser "Woyzeck"-Überschreibung wieder so kommt, ist eine Mahnung. Entsprechend langsam gleitet die Inszenierung in Richtung Tragödie. Die Unbeschwertheit des Beginns weicht auch aufgrund von Sebastian Pilchers subtilen Videos, die auf den Rahmen des weißen Bühnenkastens projiziert werden, nach und nach einer düsteren Stimmung. Büchners soziale Fragen treten zwar eindeutig in den Hintergrund, aber in Joshau Zilinskes Porträt eines Mannes, der sich mehr und mehr in schwarzen Gedanken und Visionen verliert, zeigt sich, wie schnell einige Männer in Beziehungen zu Tätern werden können.

 

Woyzeck
frei nach Georg Büchner – Eine Überschreibung von Glossy Pain
Textfassung von Amanda Babaei Vieira, Constanze Fröhlich, Riah Knight, Katharina Stoll und Joshua Zilinsk
Regie: Katharina Stoll, Musik / Komposition: Riah Knight & Hannes Gwisdek, Sounddesign: Hannes Gwisdek, Video: Sebastian Pircher, Bühne: Wicke Naujoks, Kostüme: Wicke Naujoks & Heinke Stork, Requisite: Bekim Aliji, Ton: Tom Straub, Lichtgestaltung: Jochen Jahnke und Toni Mersch, Dramaturgie: Constanze Fröhlich.
Mit: Amanda Babaei Vieira, Riah Knight, Joshua Zilinsk.
Premiere am 3. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de


Kritikenrundschau

"Einen büchner'schen Büchner bekommt man nicht zu sehen, aber ein Stück Theater, das viele Themen des Autors aufgreift und wichtige Textpassagen aus dem Original geschickt mit selbst verfassten Dialogen verbindet", schreibt Andrea Müller in der Neuen Ruhr/Rhein Zeitung (6.2.2023). "Dieser 'Woyzeck' ist für junge Menschen gedacht. Er übersetzt den nicht immer geliebten Abi-Stoff in ihre 'Sprache' (sic!)." Das könne dazu beitragen, das Fremdeln mit Hochkultur abzubauen, so Müller. "Der Applaus bei der Premiere war riesig. Das Publikum, dass zu 90 Prozent aus Schülern bestand, feierte das Stück."

 

Kommentare  
Woyzeck, Mülheim: Großartige Leistung
Eine sehr berührende Inszenierung, die noch nachhallt. Überwältigend, lustig, traurig, klug. Bei den letzten Worten von Amanda Babaei Vieiras Marie hatte ich Tränen in den Augen, was mir im Theater schon lange nicht mehr passiert ist. Bravo!
Woyzeck, Mülheim: Spieler*innen-Lob
So toll gespielt!
Woyzeck, Mülheim: Achterbahn
Das Stück ist wie eine Achterbahnfahrt, von Lachen zu Gänsehaut zu Kloß im Hals. Wir haben draußen noch lange geredet und kommen sicher noch einmal!
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