Theater ohne Zuschauer ist nicht gut

9. August 2023. Unsere Kommentarspalte bewegte in dieser Saison oft ein bestimmtes Haus – beziehungweise seine Leitung. Im Februar war klar: Der Vertrag von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg am Schauspielhaus Zürich läuft Mitte 2024 nach nur einer Runde aus. In der Kritik steht die Doppelspitze schon länger, auch das Publikum kam nicht in Scharen. Dabei haben Stemann und von Blomberg auch vieles richtig gemacht.

Von Valeria Heintges

Schauspielhaus Zürich © Adrian Michel

6. Februar 2023. Die Kommentar-Seite des Tages-Anzeigers vom vergangenen Samstag sagte eigentlich alles. Unten in der Ecke ein Beitrag zum Abgang der Intendanten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg mit der Überschrift "Sie haben sich sehr bemüht". Und darüber, knapp dreimal so groß, ein kritischer Beitrag, dass die rechtspopulistische SVP ihren Wahlkampf mit Anti-"Woke-Wahnsinn" und Anti-"Gender Terror"-Sprüchen führen möchte. Titel: "Die SVP auf Trumps Spuren". Fazit: Die SVP sei zwar wieder nahe an der Stimmung im Volk. Aber nicht die Gesetzgeber wollten den Genderstern einführen, vielmehr seien es Marketingabteilungen und Einzelhändler selbst, die sich für eine geschlechtergerechte Sprache und gegen rassistisch konnotierte Produktenamen aussprechen.

Diversität: Bestellt und geliefert

Ein "Haus of Wokeness" zu sein, das war der Vorwurf, den die Intendanten Stemann und von Blomberg immer wieder zu hören bekamen. Dabei stand schon im Auftrag der Stadt an sie die Aufforderung, ein jüngeres, diverseres Publikum anzuziehen und stärkere kulturelle Teilhabe und Diversität zu ermöglichen.

Mit ihrem Konzept der acht Haus-Regisseur:innen verfolgten Stemann und Blomberg ihr Ziel, diverser zu werden, von Anfang an offensiv. Trajal Harrell gründete sein Zürich Dance Ensemble und erarbeitete dem Tanz verpflichtete Abende im Stilmix von Vogueing und Butoh. Wu Tsang mischte die Genres in ihren Performances, drehte mit "Moby Dick" einen Film, der von Streicher:innen des Zürcher Kammerorchesters begleitet wurde, und brachte "Pinocchio" als wunderbar genre- und genderfluides Weihnachtsmärchen. Suna Gürler, einzige Schweizerin im Team, übernahm die Verantwortung für die Jugendclubs. Christopher Rüping erfand sich selbst in seinen Arbeiten wie gewohnt immer wieder neu, wurde mit "Einfach das Ende der Welt" zum Berliner Theatertreffen eingeladen und gewann damit den Nestroy-Preis als beste deutschsprachige Aufführung 2021. Auch Leonie Böhm und Alexander Giesche gelang die Einladung zum Theatertreffen, doch wie Yana Ross kehrten sie dem Haus den Rücken (Leonie Böhm wird in der letzten Spielzeit 2023/24 allerdings wieder dazugehören). Insgesamt gab es vielseitige und herausfordernde Inszenierungen. Ein frischer Wind, den das Haus und die Stadt nach der kräftigen Dosis von gepflegter Langeweile à la Barbara Frey dringend benötigt hatten.

Zuviel Moral, zuwenig Humor

Divers waren die Stücke, das stellt keiner in Frage. Die beiden Intendanten, lässt sich der Verwaltungsrat in der Pressemitteilung zur Trennung zitieren, hätten "wichtige institutionelle Veränderungen umgesetzt und ein künstlerisch hervorragendes Programm auf die Bühne gebracht." Also Auftrag erfüllt, alles gut? Mitnichten! Denn das Konzept stieß zunehmend konservative Politiker:innen und konservativeres Publikum vor den Kopf. Aber auch Freunde guten Schauspielertheaters in großen Inszenierungen kamen immer weniger auf ihre Kosten. Halb coronabedingt, halb aus Überzeugung gab es kaum noch Arbeiten mit großer Besetzung. Im Gegenteil: Co-Intendant Stemann verfolgte seine Linie, große Werke wie "Besuch der alten Dame" oder "Ödipus" auf zwei Schauspieler:innen einzudampfen. Das Ergebnis überzeugte ästhetisch. Aber insgesamt war das Angebot unausgewogen, zu viel Anspruch, zu viel Moral, zu wenig Humor und Lust am Sprechtheater.

Auch ein Ensembletheater war das Haus nie. Denn die Regisseur:innen brachten ihre eigenen Leute mit, so dass sich jeder und jede im Ensemble dem einen oder der anderen Regisseurin zuordnen ließ und immer noch lässt. Ein Wir-Gefühl kam nicht auf, manch Darsteller:in, frisch nach Zürich engagiert, verließ die Stadt, von der Einsamkeit der Corona-Pandemie völlig überfordert und ohne im Haus eine neue Heimat gefunden zu haben.

Post-Corona-Einbruch

Nach den Schließungen und wechselnden Bestimmungen der Pandemie fand das Theater nicht mehr zur Euphorie des Anfangs zurück. Das Publikum wurde jünger und diverser, doch in den Aufführungen blieben zu viele Sitze leer. Nur 72 Prozent der Abonnenten verlängerten ihr Abo, während es an den Dreispartenhäusern Bern und Basel 96 beziehungsweise 91 Prozent waren. Der Trend verschärfte sich, der Geschäftsbericht wies für die Spielzeit eine Auslastung von 57 Prozent im Pfauen und 64 Prozent im Schiffbau aus (19/20: 67 Prozent im Pfauen, 81 Prozent im Schiffbau). Die Verluste von 2,05 Millionen Franken konnten nur mit Covid-19-Rückstellungen zu einer schwarzen Null ausgeglichen werden.

Auch Stemann selbst gab zu, dass nicht alles rund lief. "Künstlerisch ist uns ziemlich viel gelungen", sagte er im Oktober 2022 der Autorin dieser Zeilen. "Aber wenn vor Ort nicht genug Leute kommen, ist das bitter. Theater, das gut ist, aber keine Zuschauer:innen erreicht, ist nicht gut."

Niedrige Einnahmen und hohe Forderungen

Dann begannen die Verhandlungen über das VerIängern der Verträge. Die Intendanten sahen sich in einer Position der Stärke. Die wollten sie nutzen, um seit langem bestehende Gagenungleichheiten zu beseitigen. So bekommen Darstellende mindestens 4200 Franken, Theatertechniker:innen oder Beleuchter:innen 2300 Franken mehr, nämlich 6500. Um das auszugleichen, wollten die Intendanten 1,8 Millionen Franken mehr. (Die Zahlen relativieren sich vor dem Hintergrund, dass Zürich seit Jahren als teuerste Stadt der Welt gilt und das Preisniveau rund 150 Prozent über dem deutschen liegt, wie der "Spiegel" erst kürzlich wieder errechnete.) Doch je länger die Gespräche dauerten, umso mehr verschob sich der Fokus. Hieß es erst noch, 38 Millionen Franken von der Stadt seien genug, war bald auch von weniger Geld und sparen die Rede. Spätestens jetzt sahen alle das vorzeitige Ende am Horizont. Es sah nicht mehr so aus, als würde die Stadt das Projekt noch weiter unterstützen wollen – Prestige hin oder her.

Kritik von innen und außen, wenig Einsicht

Auf einem Publikumsgipfel Anfang Januar versuchte das Haus noch, mit seinen Kritiker:innen ins Gespräch zu kommen. Dabei zeigten sich die Probleme deutlich: Schauspieler Michael Neuenschwander grummelte, es gebe kein Schauspielerensemble und kritisierte damit deutlich seine Chefs – von innen. Der Kritik von außen in Form eines Zuschauers, der sich am Gendern störte, wurde rüde von der Bühne herab beschieden, Frauen fühlten sich jetzt aber endlich mitgemeint.

Auch in der aktuellen Medienmitteilung zeigen sich Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg wenig selbstkritisch. Sie seien "stolz" auf das Erreichte, sagt Stemann. Und: "Wir hätten das Projekt gerne weitergeführt, mit allen Erfolgen, Kritiken und Debatten, denen wir uns weiterhin mit Hingabe gestellt hätten." Die "Öffnung des Theaters sei "alternativlos", findet Benjamin von Blomberg. Man wolle dem Zürcher Publikum auch in den letzten anderthalb Jahren "weiterhin ein außergewöhnliches und aufregendes Programm bieten". Auch in einem langen Brief an das "Liebe Publikum" ist von Reue kaum die Rede. Vielmehr heißt es stolz: "Die Welt weiss vom Schauspielhaus Zürich". Warum der Vertrag aus ihrer Sicht nicht verlängert wurde, erklärt der Brief nicht.

Anfang Januar wurde bekannt, dass sich auch die (weiterhin amtierende) Pressesprecherin Seta Thakur schon einen neuen Job gesucht hatte. Die Kommunikation stimmte aber schon vorher nicht mehr. Nicht nach innen, nicht nach außen.

 

Heintges ValeriaValeria Heintges, Jahrgang 1968, hat Germanistik, Geschichte und Philosophie in Münster und Freiburg/Breisgau studiert. Sie war u.a. Redakteurin für die Sächsische Zeitung in Dresden und die Tagblatt-Medien in St. Gallen. Sie lebt heute als selbstständige Journalistin in Zürich.

 

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Kommentare  
Kommentar Zürich: Richtige Gesinnung
Das Problem ist doch, dass Theater für wirklich ALLE offen sein sollte. Die inzwischen inflationäre Forderung nach "Diversität" ist zu einer hohlen ideologischen Phrase verkommen. Echte Diversität führt zu mehr Toleranz und nicht zu weniger.
Was hat man jahrelang die angeblich "konservativen" und "bürgerlichen" Zuschauer beleidigt und geschmäht. Und sie kamen trotzdem ins Theater, weil sie drüber standen. Sie waren über Jahrzehnte das Rückgrat des Satdttheaters. Sie waren Abonnenten und gingen regelmässig hin. Darauf war Verlass. Ich kenne Leute, die in ihrem Leben hunderte von Stücken gesehen haben und damit eine weitaus größere Expertise besitzen, als so mancher junge Theatermacher. Diese Leute sterben aus oder haben aufgegeben. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die jungen "Progessiven" und "Diversen" jemals soviel ins Theater gehen werden. Klar, die waren jetzt auch mal hin und wieder im Pfauen. Reicht das? Offensichtlich bei weitem nicht. Zu erwarten, dass dieses "neue und junge" Publikum jemals mit der gleichen Leidenschaft, Begeisterung und vor allem: Frequenz (!) ins Theater stürmen wird, ist illusorisch. Die sitzen lieber vorm Laptop und machen "Virtue Signalling" auf Instagram. Und ja, es sind längst nicht nur die "Rechten" die das gut gemeinte Ideologietheater kritisieren, allerdings findet die "Debatte" hinter vorgehaltener Hand statt. Was vor kurzem noch als "rechter Verschwörungsglaube" verlacht wurde, hat uns nun ereilt: man muss aufpassen, was man sagt. Es ist dringend nötig, darüber auch von "links" eine ehrliche Debatte zu führen. Kunst ist frei und sollte sich keiner Ideologie in den Dienst stellen, egal aus welcher Richtung. Theater ist kein Umerziehungscamp für die "richtige" Gesinnung. Der Elefant im Raum ist schon zu einem Mammut herangewachsen. Zeit für eine offene und angstfreie Debatte über dieses Debakel.
Kommentar Zürich: Richtig, richtig traurig
Für mich stellt sich das so dar: die Intendanz Stemann/von Blomberg wollte viel und sie hat viel bewegt und verändert. Jede*r erlebt und sieht das hier im Theater und in den Vorstellungen! Es ist so anders. Ich bin 29, ich hab Marthaler nicht erlebt, aber vorher war ich kaum bis gar nicht da. Und jetzt zum Beispiel fand ich Pinocchio von Wu Tsang einfach umwerfend, aber auch Einfach das Ende der Welt von Christopher Rüping, Monkey off my back von Trajal Harrell und zuletzt auch Leonie Böhms Schwestern. Für mich sind das richtig besondere Stücke, die ganz anders daherkommen, mit anderen Menschen und Themen und Stimmungen. Ich zumindest bin davon berührt und erlebe das dann eben, dass sich etwas verändert hat. Ich bin einfach gerne da. Dazu ist offensichtlich, dass sie in der Art der Zusammenarbeit Dinge verändert haben. Es gab diesen 3sat Kulturzeit Beitrag https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/kampf-um-israels-demokratie-sendung-vom-20-01-2023-100.html (ab Minute 26 und ein bisschen), über den alle in meinem Umfeld reden. Da klingt das an. Ich kenne auch Menschen, die da arbeiten, die finden das alles nicht so super. Und die machen natürlich auch Stimmung. Zürich ist klein und es ist Wahlkampf und alle diskutieren übers Schauspielhaus. Ich wusste gar nicht, wen ich wählen sollte! Die haben doch alle das Schauspielhaus nicht genug unterstützt soweit ich das mitbekommen habe. Mein Gefühl ist eben: die wollten mit ihrem Projekt wirklich hoch hinaus. Und das kommt hier nicht gut an, das mögen wir Schweizer*innen eigentlich nicht. Jetzt wird es wieder zurückgestutzt. Und ich finde das richtig, richtig traurig.
Kommentar Zürich: Dialektik
"Richtiges" Theater, das keinen erreicht, ist falsch.
Kommentar Zürich: Lese-Tipp
Hallo zusammen. Ich heiße Ayishat Akanbi. Ich wohne in London und Deutsch kann ich gar nicht. Ich lese gerade Thomas Chatterton Williams. Und mir scheint: sämtliche Dramaturg*innen des Deutschsprachigen Theater sollten das auch tun. John McWhorter lohnt sich auch. Special mention geht an dieser Stelle raus an Herrn von Blomberg. Haltet die Ohren steif, ihr Weißbrote, ihr – Peace!
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