Auf der Innenseite der Weltkugel

15. Februar 2023. Clemens Setz hat einen neuen Roman geschrieben. Darin geht es um Verschwörungstheorien, Nazis und einen Wissenschaftler, der es mit seinen sinistren Überlegungen zwar nicht in die Ahnengalerie der Parawissenschaftler schaffte, nun aber dafür im Zentrum eines ausgesprochen amüsanten wie klugen Buches steht.

Von Michael Wolf

15. Februar 2023. Der Schriftsteller Clemens J. Setz ist so etwas wie ein Ein-Mann-Genre. Singulär und geradezu isoliert steht sein Werk in der deutschen Gegenwartsliteratur. Es ähnelt einem Gast, der als einziger kostümiert zur Party gekommen ist, sich davon aber den Spaß nicht verderben lässt. Und die anderen? Sie können nicht einmal das Motto erahnen.

Seine Theaterstücke liefern gute Beispiele für die Verwirrung. Da delegiert ein depressiver Mann sein Sprachvermögen an einen Algorithmus, da halten Eltern ihr verunglücktes Kind gegen alle Widerstände virtuell am Leben, da stürzt eine Putzfrau ihre ehemaligen Kunden mit einer Kunstaktion in Verzweiflung. Solche Figuren, die andere Autoren beflissen in Sozialdramen versammeln würden, offenbaren bei ihm keine tieferen Einsichten in die Gesellschaft. Sie dürfen stattdessen Geheimnisträger bleiben, Kundige des Rätsels, wie es sich wohl anfühlen mag in fremden Seelen und Körpern.

Ausleuchtung des Intimen

Mitunter tragen die Erzähler in seiner Prosa den Namen des Autors, was eine Verwandtschaft zur jüngst mit dem Nobelpreis geehrten Autofiktion nahelegt, die ihr Programm in der Präsentation des Eigenen findet. Doch auch das ist nur Spiel, geht es ihm doch nicht um ein Erklären, um die Ausleuchtung des Intimen oder darum die richtige Sprache für etwas zu finden, das von dieser Welt wäre. Setz ist vielmehr ein Korrespondent, der seiner Leserschaft wie bei einer Mauerschau von dem berichtet, was jenseits ihres Horizonts vor sich geht. Als geradezu pedantischer Beobachter beschreibt er mit großer Präzision, was niemand außer ihm wahrnimmt. Es ist nicht bekannt, ob Setz gerne puzzelt, doch wenn, dann tut er es sicher mit dem größten Ehrgeiz und mit Blick auf die Rückseite der Teile. Ihn zu lesen, kann beides auslösen: Staunen und Frustration.

Cover SetzSein neuer Roman "Monde vor der Landung" ist insofern eine große Überraschung, weil der Büchnerpreisträger sich thematisch altbekannten und aktuellen Lieblingsthemen der deutschsprachigen Belletristik widmet. Es geht um Nazis und den Holocaust, um Kriegserfahrungen, Traumata, um Fake News und Verschwörungstheorien. Setz erzählt die Lebensgeschichte des Schriftstellers Peter Bender, der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren als Verfechter der Hohlwelt-Theorie hervortrat. Dieser zufolge liegen Kontinente und Ozeane nicht auf der Außen- sondern der Innenseite der Erdkugel. Blickt Bender in den Himmel, kann er hinter ihm Amerika erahnen.

Übersteigerte Vorstellungskraft

Es hat diesen Mann tatsächlich gegeben, Setz montiert sogar Originaldokumente aus Archiven wie Fotos, Gedichte und Briefe in seinen Roman. 1893 geboren, diente Peter Bender als Pilot im Ersten Weltkrieg, zog später mit seiner Frau Charlotte nach Worms, war kurzzeitig Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats, spielte auch eine Rolle in der rheinländischen Separatistenbewegung. Doch weder in die Ahnengalerie der Revolutionäre, noch der Parawissenschaftler hat er es geschafft. Bis heute bekannter als er sind die von Setz als Vorbilder und Rivalen gleichermaßen gezeichneten Mitstreiter Karl Neupert und Johannes Lang, denen Bender, der in der Öffentlichkeit wenig Zuspruch fand, zerknirscht Tribut zollt, indem er sich als "deutscher Drittentdecker des Innenweltkosmos" vorstellt.

Doch wie kam er überhaupt zu seiner weltumkehrenden Erkenntnis? Eine übersteigerte Vorstellungskraft seit Kindestagen war wohl notwendige Bedingung, doch erst Erlebnisse in der harten Wirklichkeit versteinerten all die Fantasien zu Gewissheiten. In einer Szene schildert Setz, wie der junge Bender als Pilot im Ersten Weltkrieg zusammen mit Kameraden über einem Aufklärungsfoto brütet. Inmitten einer Siedlung ist das Wort SPITAL zu erkennen. Die Diskussion der Offiziere folgt einem erwartungsgemäßen Muster spieltheoretischer Art. Kann man diesem Zeichen trauen, und muss man dementsprechend von einer Bombardierung absehen, oder deutet das Wort Spital nicht vielmehr daraufhin, dass die Russen hier ganz sicher ein Waffenlager verstecken? Eine Antwort ist nicht möglich, der Befehl zum Beschuss erfolgt gleichwohl. Es ist durchaus plausibel, dass ein junger Mann, der wie Bender mit allerlei psychischen und körperlichen Leiden aus dem Krieg zurückkehrt, später so vehement an einer Wahrheit festhält. Und auch, dass er nicht die Wahrheit der Mehrheit annimmt, sondern seine ganz eigene.

Quadratform der Geschlechter

Der große Witz, den Setz aus dieser Figur schöpft, liegt darin, dass sein Held als Einziger alles über die Welt zu wissen glaubt, doch allein in dieser leben muss. Mit verzweifeltem Ernst widmet er sich der Missionierung, forscht, schreibt Traktate und Briefe, gründet eine Gemeinde, in deren Zentrum er sich selbst und seine Frau setzt. Der Eifer gerät jedoch immer wieder auch in Konflikt mit alltäglichen Sorgen. So muss seine Gemeinschaft durchaus auch als Einnahmequelle herhalten und das Priesterpaar diese zwingend in der sogenannten "Quadratform der Geschlechter" regieren, eine Beziehungsart, die sich vornehmlich der Befreiung der Frau verschreibt, Bender insgeheim aber auch eine Rechtfertigung für seine Seitensprünge bietet.

Tragisch gerät die Geschichte an jenem Punkt, an dem die alternative Weltsicht in Konflikt mit einer mächtigen Weltanschauung gerät. Die Nazis verfolgen das Ehepaar, Charlotte, weil sie Jüdin ist, und Bender selbst, weil er als psychisch Kranker und als esoterischer Querulant gilt. Die Flucht aus Deutschland zögert er zu lange hinaus, weil er die politische Gefahr nicht als solche erkennt. Bemerkt er doch den Wahnsinn um ihn herum, steigt er sogleich nur noch tiefer in seine Theorien und Visionen hinab.

Erfreuliche Klarheit

Setz verfolgt den gegenteiligen Weg. Mit "Monde vor der Landung" legt er seinen bislang wohl zugänglichsten und unterhaltsamsten Roman vor. Die Vorgänger knirschten ein wenig unter der Last der formalen Spiele des Autors und seiner Vorliebe für Figuren, die immerzu an der Realität vorbei in eine Welt schielten, die dem Leser weitgehend unzugänglich blieb. Mit der Biographie des Peter Bender hat Setz einen Stoff gefunden, der bestens zu seiner Fokussierung auf das Abseitige und Verquere passt. Sein Schreiben kommt so zu erfreulicher Klarheit, zu emotionaler Wirkung und birgt sogar eine politische Botschaft. "Monde vor der Landung" lässt sich als Meditation über das Wesen der Ideologie lesen. Findet sie keine Bestätigung, ist sie schlicht zum Lachen. Das Gegenteil gilt jedoch ebenso: Eine Ideologie ist nur deshalb nicht lächerlich, weil viele an sie glauben.

Monde vor der Landung
von Clemens Setz
Suhrkamp Verlag
528 Seiten, 26 Euro

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