Opfer der ökonomischen Verhältnisse

18. Februar 2023. Warum wird Marie umgebracht? Wer "Woyzeck" inszeniert, muss sich dieser Frage stellen. Regisseurin Annette Pullen verlegt ihre Inszenierung am Hans Otto Theater in den Niedriglohnsektor. Woyzeck schleppt Müllsäcke, Kartons, und zwischendurch werden Berichte prekär Beschäftigter vorgelesen. Aber erklärt das den Mord?

Von Michael Wolf

 

Georg Büchners "Woyzeck" von Annette Pullen inszeniert am Hans Otto Theater Potsdam © Thomas M. Jauk

18. Februar 2023. Die anhaltende Attraktivität der Klassiker rührt auch daher, dass sie sich für immer neue Interpretationen eignen. Sie verfügen über eine hinreichende Offenheit, um immer wieder "so aktuell wie nie" zu erscheinen, wie es gerne in Programmheften heißt. Der "Woyzeck" besitzt diese hermeneutische Flexibilität wohl auch deshalb, weil das Drama Fragment blieb, Georg Bücher starb vor seiner Vollendung.

Die Titelfigur ist ein nervlich zerrütteter Soldat. Sein Hauptmann verspottet ihn, ein Arzt missbraucht ihn für seine Experimente. Eine Wahl hat er nicht, braucht er doch ständig Geld, um sein uneheliches Kind und dessen Mutter Marie durchzubringen. Doch die Geliebte strebt nach Höherem und lässt sich von einem Major umgarnen. Als Woyzeck dahinterkommt, kauft er sich ein Messer und ersticht sie.

Welche Kräfte haben aus diesem unglücklichen Mann einen Mörder gemacht? War es der Wahnsinn? Die Armut? Der gesellschaftliche Zwang? Oder doch die Eifersucht? Eine Antwort auf diese Frage ist bis heute das halbe Regiekonzept. Annette Pullen legt sich in ihrer Inszenierung am Hans Otto Theater Potsdam frühzeitig fest. Ihr Woyzeck hetzt gestresst über die Bühne, schleppt eilfertig Müllsäcke, putzt, stapelt Kartons, lässt sich von seinem Chef schikanieren. Ein Opfer der ökonomischen Verhältnisse also.

Zwänge des Systems

Neu ist diese Interpretation nicht, durchaus aber der Bezug zum niederen Dienstleistungssektor unserer Tage. Beherzt arbeiten Pullen und Dramaturg Christopher Hanf diesen Aspekt in ihrer Fassung heraus, die auch sonst sehr ungezwungen mit dem Original umgeht. Der Hauptmann (Henning Strübbe) ist ein ständig zugekokst wirkender Manager, der Woyzeck zynisch an das ethische Leitbild seines Betriebs erinnert.

woyzeck 5 ThomasMJaukOben oder unten? Jedenfalls außen vor: Hannes Schumacher als Woyzeck in Annette Pullens Inszenierung am Hans Otto Theater Potsdam © Thomas M. Jauk

Marie (Mascha Schneider) wirkt in ihrem kurzen Kleid wie eine Mutter im Teenageralter, "Verpiss dich, Schlampe!", ruft sie einer Bekannten im Streit hinterher. Der Nebenbuhler (Jan Hallmann) heißt hier noch – englisch ausgesprochen – Major, ist aber keiner mehr, sondern ein prolliger 70er-Jahre-Popstar. Eine Szene, in der die beiden sich näherkommen, zeigt treffend das Verhältnis zwischen Stück und Inszenierung. "Das war Büchner!", ruft Major da triumphierend ins Publikum, nachdem er Marie mit einem Bonmot des Dichters beeindruckt hat. Interessant! Hier wird also im eigentlichen Sinne gar kein Büchner gespielt. Die Inszenierung referiert weniger auf das Stück als auf eine spezifische Deutung desselben als Sozialdrama.

Schläge von allen Seiten

Woyzecks Arbeitgeber sind also Vertreter des real existierenden Neoliberalismus. Die Gummilamellen zwischen dem vorderen und dem hinteren Bereich der Bühne bringen bei jedem Versuch, diese Barriere zu überwinden, die Anstrengung, den krummen Rücken, mithin: die Zwänge des Systems zur Ansicht. Und wenn das Ensemble zu harten Technobeats abgeht, wird das Wochenende als Paradies der werktätigen Bevölkerung beschworen, freilich nicht für Woyzeck, der immer gleich wieder losmuss: "Frühschicht!".

woyzeck 6 ThomasMJaukZurichtungen: v.l.n.r. Henning Strübbe, Hannes Schumacher, Jörg Dathe © Thomas M. Jauk

Hannes Schumacher gibt ihn als verängstigtes Tier, als Hochleistungsleidender. Von oben kriegt er Schläge, von unten zerrt die Erdanziehung an ihm. Mit hängenden Schultern tigert er über die Bühne, ständig auf dem Sprung, doch ohne Fluchtweg in Sicht. Selbst Schumachers eindrückliches Spiel kann allerdings wenig gegen eine Leerstelle des Regieansatzes ausrichten. Dass Woyzeck hier ein moderner Sklave ist, genügt nicht als Erklärung für seinen Mord.

Berichte prekär Beschäftigter

Grund dafür ist eine folgenschwere Entscheidung Pullens. Sie unterbricht die Handlung an zwei Stellen, Janine Kreß und Jakob Schmidt treten dann an die Rampe, um Berichte prekär Beschäftigter zu referieren. Woyzeck wird hier als deren Leidens- und Klassengenosse eingeordnet. Die Inszenierung tut sich mit diesem Einbruch des Realen keinen Gefallen, denn nun muss der Mord nicht nur im Rahmen der Geschichte, sondern in der sozialen Wirklichkeit plausibel erscheinen.

Aber natürlich würden die zitierten Hilfskräfte ihre Partner nicht erstechen und für derartige Gewaltausbrüche auch kein Verständnis aufbringen. Die, hier sehr konventionell inszenierte, Tat wirkt somit nicht logisch, nicht mal wahrscheinlich. Pullen folgt einfach dem Verlauf des Stücks, das sie in anderen Aspekten doch stark variiert hat. Im Jahr 2023 sollte es inhaltlich deutlich besser begründet werden, wenn eine männliche Figur eine weibliche ersticht.

Woyzeck
von Georg Büchner
in einer Fassung von Annette Pullen und Christopher Hanf
Regie: Annette Pullen, Bühne und Kostüme: Iris Kraft, Choreografie: Anja Kożik, Dramaturgie: Christopher Hanf.
Mit: Hannes Schumacher, Mascha Schneider, Jan Hallmann, Henning Strübbe, Jörg Dathe, Jakob Schmidt, Janine Kreß, Miu Whigham / Luise Zinsmeister.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
Premiere am 17. Februar 2023

www.hansottotheater.de


Kritikenrundschau

"Dies ist keine Inszenierung, die Rätsel aufgeben will. Wie Büchner in in seinen politischen Schriften will sie Missstände beklagen", schreibt Lena Schneider in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (20.2.2023). Genau dort, im konkreten Heute-Bezug, zeige Pullens Inszenierung "vielleicht auch das bisschen Licht auf, das noch in der dunkelsten Zustandsbeschreibung steckt. Denn öffnet sich nicht dort, wo Probleme benannt sind, auch ein Handlungsspielraum?" Bei so viel Bekenntnis zu Büchner hätte man, so Schneider, nur "ruhig auch der aufgepeppten Bühnensprache selbst etwas mehr Büchner lassen können".

Eine "geradlinige Inszenierung" hat Karim Saab gesehen und schreibt in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (20.2.2023): "Viele Szenen erscheinen wie Röntgenaufnahmen, die das Skelett der erzählten Geschichte sichtbar machen und historischen Schnickschnack ausblenden." Pullen setze nicht auf Katharsis, Fiebrigkeit und Expressivität, sondern bleibe nüchtern. "In ihrer Lesart will sie nicht psychologisieren, sondern nur Schlaglichter in eine Geschichte werfen, die der Zuschauer dann selbst ausdeuten darf." "Dass es in der Demokratie ein vergleichbares geschundenes Prekariat gibt, ist die Hauptaussage dieser Aufführung", so Saab. Mascha Schneider fülle "das emotionale Zentrum der Inszenierung mit wenigen Mitteln aus": Ihre Marie sei "ein Mensch, wie er auch 200 Jahre später noch leibt und lebt. Dem Konsum zugetan, immer auf dem Sprung, sich zu verbessern, aber nicht frei von Gewissensbissen".

Zum Glück ist es ein kurzer Abend, der jedoch dennoch seinen Längen hat, schreibt Gunnar Decker im Neuen Deutschland (online am 20.2.2023). Das Problem der "eher läppischen Inszenierung" sei: "Sie läuft einer imaginären Zielgruppe hinterher, um nicht zu sagen, sie biedert sich an", so Decker. "Ein Wort noch zur Ehrenrettung der durchaus kraftvoll gegen das ihnen verordnete simple Korsett anspielenden Schauspieler, die ihre Ausdrucksfähigkeit immer nur portionsweise zeigen können. Doch zum Ende hin, dem Mord an Marie durch Woyzeck, schlägt es die Zuschauer durchaus in Bann." Hannes Schumacher etwa "würde ich gern nochmal als Woyzeck sehen. Dann in einer anderen Inszenierung."

Kommentar schreiben