Sexuelle Neurosen an der Moskwa

von Robert Schröpfer 

Berlin, 2. Juni 2007. Für die einen war es allenfalls das "Gesellenstück", für die anderen einer der besten Theatertexte des Jahres 2003: Lukas Bärfuß’ "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern".

Die Lobredner wollten eine Dialektik von Liberalität und Repression erkennen, wenn bei Bärfuss eine autistische Teenagerin zuerst ihre Sexualität handfest auslebt, nach Schwangerschaft und Abtreibung jedoch zwangssterilisiert wird. Weil die junge Frau wie Sigmund Freuds erste Patientin Dora heißt und auch sonst – obwohl der Autor jede Absicht leugnet – Bezüge zur Psychoanalyse zu entdecken sind, galt ihnen die durchkomponierte Szenenfolge als kunstvoll gebautes Drama mit historischer Tiefendimension, das die Befreiung aus der Psychiatrie und zugleich den verhängnisvollen Weg in die Eugenik spiegele.

Unterschiede zwischen West und Ost?

Wie aber, so lautete eine der Fragen vor dem Gastspiel des Moskauer Zentrums für Dramatik und Regie im Berliner Maxim Gorki Theater, würde sich die Perspektive auf das Stück verändern, wenn es in Russland auf die Bühne kommt? Ist die bei uns übliche Interpretation womöglich eine genuin westliche? Oder existieren diese teils aus Vorurteilen, teils aus Unkenntnis erwachsenden, angeblichen Unterschiede in Wirklichkeit gar nicht mehr oder wenigstens nicht mehr auf der Bühne?

Für zimperliche Zugriffe steht Regisseur Georg Genoux, der seine bereits 2005 entstandene Version der "Sexuellen Neurosen" am Wochenende im Studio des Gorki vorstellte, jedenfalls nicht. Gegründet 1998, um den Mangel an professionellen Arbeitsmöglichkeiten für Theatermacher der jüngeren Generation zu beheben, avancierte das Moskauer Zentrum auch ohne eigene Spielstätte schnell zu einer wichtigen Plattform für zeitgenössisches Theater. Autoren der "Nowaja Drama" wurden von dem losen Arbeitszusammenhang genauso uraufgeführt und durchgesetzt, wie junge Schauspieler und Dramatiker von hier aus den Aufstieg an die großen Häuser mit festen Ensembles schafften.

Das Teatr.doc, auf dessen Kellerbühne die Produktionen herauskommen und zu dem Georg Genoux seit 2005 gehört, steht für den erfolgreichen Versuch, dokumentarische Material in verfremdeten, oft revuehaften Formen auf die Bühne zu bringen. Genoux, geboren in Hamburg, Mitte der 90er Jahre Castorf-Assistent und seit 1997 in Russland, legte mit Titeln wie "Demokratija.doc" in diesem Sinne polarisierende Arbeiten vor, erprobte vor allem aber die Tauglichkeit deutschsprachiger Gegenwartsdramatik für das zeitgenössische russische Theater.

Handfester Zugriff  

Für die "Neurosen" hat er nun einen überaus handfesten Zugriff gewählt. Zwischen überdimensionalen Gemüseattrappen und rosa Puppenbettchen zeigt er eine Typenkomödie. Er verschiebt das Stück ins kleinbürgerliche Milieu und betont das sketchhaft Pointierte der knappen Szenen. Er will das Lachen provozieren, um es dann den Zuschauern in den Hals zurückzustopfen.

Während Sergeij Ganin seinen Vater etwa mit Dosenbier und Fernbedienung im Sofa lümmeln lässt, stellt Olga Lapschina ein Muttertier aus, von Beginn an weniger von Liberalität als Besitzinstinkt getrieben. Den Ausbruch aus ihrem eintönigen Dasein gibt es als Videoprojektion, die das Elternpaar beim Gruppensex auf dem Campingplatz vorführt, und wenn sie, wieder live-haftig, einen großen Auftritt in Batman-Kostüm und pobackenfreier Teufels-Lederkluft absolvieren. Artem Smola lässt seinen eitel über die Bühne staksenden "feinen Herrn" – erst der Vergewaltiger, dann der Geliebte Doras –, zwischen seinem Hang zum Sadismus und Unterwürfigkeit schwanken. Und Evgenii Frolenkov, der Doras "Chef" mit spastischen Bewegungen, Hornbrille und Hängeschultern spielt, muss über einen ziemlichen Dachschaden verfügen, wenn er sich von seiner lebensfrohen Mama (Natalia Pavkenkova) per Trillerpfeife kommandieren lässt.

Triftig für die russische Gegenwart 

Gebrochen wird die Humorigkeit allein von Dora, die Alina Sergeeva als entrückte Unschuld spielt. In weißem Gardinenkleidchen blickt sie verzückt, verkrampft spastisch, und macht federnd tanzend sogar Papa handfeste Avancen. Am Ende zeigt ein Video, wie sie allein gelassen mit Koffern durch die verschneiten Straßen Moskaus wandert. Dass Bärfuß' Vorlage mit der Figur der Dora auch die Illusion ideale Liebe zertrümmert, klingt hier im Soundtrack an: die Akkordeonmelodie aus "Die wunderbare Welt der Amélie". 

So entschieden diese Inszenierung in ihrer Grobkörnigkeit ist, so befremdend wirkt sie auch auf den mit russischen Perspektiven unerfahrenen Berliner Beobachter. Die Moskauer Kritik hatte vor allem die Drastik der Stückvorlage und die Universalität der Problemstellung hervorgehoben, wenngleich der Gestus der Inszenierung dort als "altmodisch" empfunden wurde. Ihre Triftigkeit für die russische Gegenwart scheint Genoux’ Version aber unter Beweis zu stellen: Seit zwei Jahren hält sich die Inszenierung im Spielplan in der kleinen Kellerbühne des teatr.doc.

 

Die sexuellen Neurosen unserer Eltern
von Lukas Bärfuß
Inszenierung: George Genoux.
Mit: Sergeij Ganin, Artem Smola, Natalia Pavkenkova, Evgenii Frolenko.

Gastspiel des Moskauer Zentrum für Dramatik und Regie
www.gorki.de

 

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