Gegen den Sinnverlust der Worte

24. Februar 2023. Ein Jahr lang Krieg. Die ukrainische Dramatikerin Anastasiia Kosodii, derzeit Hausautorin in Mannheim, spricht über ihre Flucht aus Kyiv, über die Wut der Ukrainer:innen aufeinander und über die Verpflichtung, von den Toten zu erzählen.

Interview von Sophie Diesselhorst

Zivilist:innen suchen Schutz in einer U-Bahn-Station der Kyjiwer Metro © Kmr.gov.ua CC BY 4.0

24. Februar 2023. Wie haben Sie den 24. Februar 2022 erlebt, und wann und wie sind Sie nach Deutschland gekommen?

Anastasiia Kosodii: Als die Invasion begann, war ich in Kyiv, und am zweiten Tag beschloss ich mit Freunden, dass wir fliehen müssen. Wir sind mit dem Auto gefahren, es hat drei Tage gedauert, bis wir in Lviv waren. In Lviv war es sehr surreal: viel ruhiger, aber es kamen Tausende von Menschen dort an, die nicht wussten, was sie tun sollten. Lviv ist keine sehr große Stadt, so dass viele der Geflüchteten auch nicht wussten, wo sie unterkommen sollten. Während dieser Tage stand ich immer in Kontakt zu meinen Kollegen in Deutschland. Insbesondere Sasha Marianna Salzmann hat mir sehr geholfen. Am Ende überquerte ich die Grenze zu Fuß mit meiner Freundin und ihrer Katze. Sasha holte uns in Poznan ab und fuhr uns nach Berlin – so bin ich hier gelandet.

Natürlich hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich das Land verlassen hatte, und ich dachte: Was kann ich tun? Mit Mehdi Moradpour von den Münchner Kammerspielen, den ich auch schon von früher kannte, habe ich eine Lesereihe initiiert, um die ukrainische Perspektive auf den Krieg sichtbar zu machen, aber auch um Geld zu sammeln und ukrainischen Schauspielern Arbeitsmöglichkeiten zu geben, denn für Schauspieler ist es viel schwieriger als für Schriftsteller. Und dann bekam ich das Angebot aus Mannheim, Hausautorin zu werden.

Ihr Stück für das Nationaltheater Mannheim "Wie man mit Toten spricht – Як говорити з мертвими" wird im April uraufgeführt. Sie inszenieren es selbst. Worum geht es darin?

Ursprünglich wollte ich dem Stück eine märchenhafte Handlung geben, aber dann gab es im Oktober 2022 dieses Krim-Brücken-Bombardement, und eine Reihe von massiven Raketenangriffen, fast alle zehn Tage. Es starben außerdem einige Freunde, die Soldaten waren, an der Front. Märchenhaft ging nicht mehr, ich musste meinen Ansatz ändern. Und dann las ich ein Interview mit einem Mann, der ursprünglich Künstler gewesen war und als Freiwilliger mithalf bei der Exhumierung von Massengräbern in Butscha. Weil er dort keine Wohnung hatte, schlief er in der Leichenhalle, und er sagte in dem Interview, dass er nachts manchmal die Stimmen der Toten höre. Aber das mache ihm keine Angst, "weil es unsere Toten sind". Und das konnte ich nachempfinden, auch weil ich mir immerzu sage: Was kann ich als Schriftstellerin in dieser schrecklichen Situation tun? Ich kann die Geschichten der Toten so erzählen, dass sie relevant sind und nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Daher kommt der Titel des Stücks "Wie man mit Toten spricht".

Wir haben mit dem Team in Mannheim beschlossen, dass es eine deutsch-ukrainische Koproduktion wird. Es gibt viele ukrainische Flüchtlinge in Mannheim. Ich wollte auch Arbeitsmöglichkeiten für ukrainische Künstler schaffen. Ich werde mit zwei Schauspielern aus dem Mannheimer Ensemble und einer ukrainischen Schauspielerin sowie einem ukrainischen Komponisten/Musiker zusammenarbeiten. Und eine weitere ukrainische Person ist für die Untertitel dabei. Es wird ukrainische, englische und deutsche Untertitel geben, und wir wollen sie gut sichtbar machen, um alle einzubeziehen.

In einem Essay auf der Website des NT Mannheim schreiben Sie: "Möglicherweise werden wir eine neue Sprache finden müssen, um diese neue Realität beschreiben zu können: auf der Ebene der Sinne, der Worte und der Formen. Die alte erschöpft sich zu schnell. Ich überlege, wie diese Sprache sein könnte. Wer sie zuerst findet. Und ob sie uns gefallen wird. (darüber nachzudenken ist schon jetzt die Zeit)". Wie läuft Ihre Suche nach einer neuen Sprache?

In Kriegszeiten zu schreiben ist eine schwierige Aufgabe, weil Worte oft bedeutungslos scheinen. Außerdem sind wir gezwungen, uns in einem Feld von Theorien zu bewegen, die im 20. Jahrhundert entstanden sind – und die nicht funktioniert haben, wie zum Beispiel der Pazifismus. In der Theorie ist das schön, aber welchen Sinn hat es, wenn sich das eigene Land gegen einen völkermörderischen Krieg verteidigen muss? Oder das Verständnis von Kolonialismus. Normalerweise denken die Leute, dass der Westen den Osten kolonisiert, aber es kann auch andersherum sein, wie bei Russland und der Ukraine. Also, zu dieser neuen Sprache: Ich habe keine eindeutige Antwort, aber ich hoffe sehr, dass wir – vor allem zusammen mit dem Musiker – etwas finden können, zumindest eine Frage, die wir dem Publikum anbieten können. Das Publikum bedeutet mir sehr viel, und es ist eine Herausforderung, ein neues Publikum anzusprechen. Für ein ukrainisches Publikum hätte ich natürlich ein anderes Stück geschrieben.

Inwiefern würde sich das unterscheiden?

Ich hatte das Gefühl, dass ich den Deutschen etwas Kontext geben muss. Es gibt zum Beispiel eine Szene, die "Chor der Generatoren" heißt. Jeder in der Ukraine wüsste sofort, wovon ich spreche, und hätte die Assoziationen des Geruchs von Benzin und des Brummens der Generatoren, die bei den täglichen Stromausfällen verwendet werden. Für ein deutsches Publikum muss ich das viel mehr ausbuchstabieren. Sie kennen auch nicht das Gefühl der Unsicherheit, das mit diesen Stromausfällen einhergeht, wenn das Internet ausfällt, es also keine Nachrichten mehr gibt, auch keinen Alarm, was bedeutet, dass niemand weiß, wann der nächste Luftangriff zu erwarten ist.

Ein weiteres Beispiel für eine Erfahrung, die für mich sehr relevant ist, die ich aber einem deutschen Publikum erklären muss: In letzter Zeit "empfinden" die Russen sehr viel Mitgefühl mit uns. Beispiel: ein Facebook-Post eines russischen Mannes in meinem Bekanntenkreis, der sagt, er habe sich gefühlt, als ob eine Rakete, die in der Ukraine ein Haus getroffen und 40 Menschen getötet hat, ihn getroffen hätte. So stark war seine Empathie ... Russen verkleiden sich als Ukrainer. Plötzlich hat jeder entweder irgendwo eine Oma oder hat zumindest einen prägenden Sommerurlaub in der Ukraine verbracht. Aber ihre Empathie gilt nicht der Ukraine, sondern sich selbst. Es ist mir wichtig, dass die Menschen hier das verstehen.

Im Allgemeinen gibt es hier in Deutschland sehr wenig Wissen über die ukrainische Kultur. Natürlich hatten wir nie so viel Geld wie die Russen, um unsere Kultur im Ausland bekannt zu machen. Ich mache den Deutschen aber sowieso keinen Vorwurf. Wir Ukrainer wissen auch nichts über die deutschen Erfahrungen, und es hat doch keinen Sinn, mit Fingern aufeinander zu zeigen. Ich denke, viele menschliche Erfahrungen sind international, wie der Verlust eines Hauses oder einer Person. Ob es im Krieg oder im Frieden passiert, das Gefühl ist das gleiche. Als wir die Lesungen gemacht haben, erinnere ich mich, dass das deutsche Publikum zum Beispiel sehr gut nachempfinden konnte, dass viele Menschen, die die Ukraine verlassen, ihre Haustiere mitnehmen. Für mich ist es wichtig, nach solchen Verbindungen zu suchen.

Ich hoffe, dass es die Art der Kooperation, in denen ich jetzt hier arbeite, noch mindestens ein weiteres Jahr geben wird, um eine gewisse Wirkung zu erzielen. Und dass es nicht nur Lesungen und andere einmalige Veranstaltungen gibt, sondern auch mehr richtige Produktionen wie das Stück, das ich jetzt mache.

Wie viel Theater gibt es im Moment in der Ukraine?

An den staatlichen Theatern läuft der Betrieb fast ausnahmslos. Mein Vater ist zum Beispiel Schauspieler in meiner Heimatstadt Saporischschja, er arbeitet ganz normal mit Morgenvorstellungen für die Kinder und Abendvorstellungen für die Erwachsenen. Wenn es einen Bomben-Alarm gibt, geht das Publikum in den Luftschutzkeller. Für das Freie Theater ist die Situation komplizierter, aber es war schon immer schwierig da Fördermittel zu bekommen. Mit dem "Theater der Dramatiker” in Kyiv (das Kosodii mitgegründet hat, Anm. d. Red.) überlegen wir zum Beispiel gerade in Zoom-Konferenzen, wie wir einen Beamer kaufen können. Wir haben Geld für eine Ton- und Lichtanlage bekommen und das alles eingerichtet, aber nun ist nichts mehr übrig, und wo soll das Geld jetzt herkommen.

Gab es eigentlich während der Pandemie eine Schließung der Theater in der Ukraine?

Ja, die gab es. Und die Pandemie hat schon ein paar unabhängigen Theatern den Rest gegeben. Aber sie hat immerhin auch eine Infrastruktur der Online-Zusammenarbeit geschaffen, die jetzt nützlich ist.

Arbeiten Sie zur Zeit für ukrainische Theater?

Ja, ich nehme jede Gelegenheit dazu wahr. Gerade war ich einen Monat lang in Lviv und habe für das Dramatische Lesja Ukrainka Theater ein Stück auf der Grundlage von Platon-Texten erarbeitet. Das Thema ist der Dialog innerhalb der ukrainischen Gesellschaft, denn es gibt eine Menge Irritationen. Diejenigen, die geblieben sind, sind wütend auf die, die gegangen sind. Diejenigen im Osten sind verärgert über diejenigen, die im Westen in einer sichereren Umgebung leben. Es gibt eine Menge unausgesprochener Gefühle in der Gesellschaft, und die Aussprache wird immer wieder verschoben auf den Zeitpunkt “nach dem Sieg”, nach dem Sieg. Aber wir müssen jetzt darüber sprechen.

Es war ein sehr komplizierter Probenprozess. Fast jeder hat jemanden an der Front, jeder arbeitet ehrenamtlich und ist körperlich einfach müde. Stellen Sie sich vor, Sie gehen den ganzen Tag herum, um Geld zu sammeln, um ein Nachtsichtgerät für die Armee zu kaufen, und dann gehen Sie zu den Proben. Theater kann einem in diesem Zusammenhang sinnlos erscheinen. So waren die Proben auch von einer ständigen Sinnsuche geprägt. Sollten wir das hier fortsetzen, mit dieser künstlerischen Arbeit weitermachen, oder nicht.

Ich nehme an, Ihr Standpunkt dazu ist: Ja, weitermachen – ?

Ja. Für mich bleibt die Antwort auf diese Frage: Ja. 2014 hatten wir bereits große Diskussionen mit meinen Kollegen, als wir in die östlichen Regionen fuhren, die bereits von den Russen angegriffen wurden. Die Menschen dort wollten nicht über den Krieg sprechen, und einige meiner Freunde meinten auch, wir sollten sie nicht retraumatisieren. Natürlich stimmt das, aber ich denke, eine Retraumatisierung lässt sich vermeiden, ohne gar nicht über den Krieg zu sprechen. Und es ist doch auch sehr wichtig, dass die Menschen ihre Lebensrealität in der Kunst wiederfinden, dass sie sich repräsentiert fühlen. Das kann schmerzhaft sein, aber ich denke, wenn man sich selbst in einem Stück sehen kann, dann existiert man und merkt: Meine Erfahrung ist relevant. Das kann auch wichtig sein um einen Dialog in der Gesellschaft anzustoßen.

Wie ist Ihre persönliche Zukunfts-Perspektive derzeit: Wollen Sie in Deutschland bleiben oder in die Ukraine zurückkehren?

In der Ukraine gibt es im Moment sehr wenige Arbeitsmöglichkeiten, besonders für Künstler. Vor der Invasion konnte ich meine Rechnungen auch nicht mit dem Schreiben für das Theater bezahlen – ich arbeitete als Werbetexterin. Aber selbst das ist im Moment kompliziert. Ich könnte es mir aber ohnehin nicht leisten, nach Hause zurückzukehren und in Armut zu leben, selbst wenn ich es wollte, weil ich eine Familie habe, die ich unterstütze. Ich denke, 50 Prozent hier und 50 dort ist eine realistische Perspektive. Ich fahre schon, wann immer ich kann, denn ich habe große Angst, den Sinn für die Realität in meinem Heimatland zu verlieren. Ich sehe das bei vielen Menschen, die seit einem Jahr nicht mehr dort waren. Ich sehe es auch bei mir selbst. Jedes Mal, wenn ich fahre, habe ich mehr Angst. Aber dann fahre ich trotzdem, und was auch immer passiert, passiert. Denn wie kann ich darüber schreiben, wenn ich nicht dort gewesen bin.

 

Anastasia Kosodii 1200 Christian Kleiner uAnastasiia Kosodii ist Mitbegründerin des Theaters Zaporizka nova drama in ihrer ukrainischen Heimatstadt Saporischschja, wo einige ihrer Stücke aufgeführt wurden. Von 2014 bis 2016 waren mehrere ihrer Stücke für die Festivals "Week of Modern Plays" in Kyiv und "Lubimovka Young Russian Playwrights Festival" in Moskau nominiert. 2017 arbeitete sie als Kreativdirektorin am Projekt "Theatrical Laboratory: Behind the Borders of Fear" mit, das vor allem in kleinen ukrainischen Städten an der Grenze zu den damaligen Besatzungsgebieten einen Ort für Theater schaffte. 2019 wurde sie leitende Dramatikerin des PostPlay Theaters in Kyiv. Im gleichen Jahr wurde ihr Stück "Timetraveller's guide to Donbas" am Lesi Ukrainki Theater in Lviv aufgeführt, in dem sich zwei Zeitreisende aus dem Jahr 2036 auf den Weg ins Jahr 2013 machen, um nach dem Ursprung des Krieges im Donbass zu suchen. Das Stück entstand für das Projekt "Krieg im Frieden" des Internationalen Dramatiker*innenlabors in Berlin. 2019 war Kosodii als Autorin an dem Projekt "City To Go", das in drei Städten der Regionen Donezk und Lugansk (Bakhmut, Popasna, Mykolaivka) mit Kindern in lokalen Schulen aufgeführt wurde. In der Spielzeit 2022/23 ist Kosodii Hausautorin am Nationaltheater Manheim. (Foto: Christian Kleiner)

 

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