Utopie ist kein Zustand

25. Februar 2023. Fünf Freund*innen, in einer Vorstadtsiedlung "mit ökologischem Sandkasten in der Nelson-Mandela-Straße" aufgewachsen, erleben schmerzhaft, dass es trotzdem tiefe Gräben zwischen ihren Herkünften gibt. Guy Weizman macht aus einem Text von Antigone Akgün, Rasit Elibol, Mohamedou Ould Slahi, Rik van den Bos ein sparten- und sprachenübergreifendes Theaterfest.

Von Jan Fischer

"Yaras Hochzeit" am Schauspiel Hannover © Katrin Ribbe

25. Februar 2023. Es ist ein Gewirr auf der Bühne bei "Yaras Hochzeit". Es wird Arabisch, Deutsch, Niederländisch, Englisch und Französisch gesprochen. Blau gestrichene Lattenbauten fahren hoch und runter und ihre Schatten gemahnen an verbogene Stahlbetonträger als Reste einer Katastrophe. Irgendwo im Hintergrund sitzen zwei Musiker und arbeiten sich zwischen 1990er-Jahrmarkts-Pop und atonaler Atmosphäre quer durch die Genres, es gibt lange Textpassagen, lange Tanzpassagen und Musicalnummern.

Vier Autor:innen sind an dem Text beteiligt, der im Staatsschauspiel Hannover als Koproduktion mit dem niederländischen NITE Theater in Groningen unter der Regie des Regisseurs Guy Weizman zur Uraufführung kommt. Es sind Darsteller:innen aus Hannover und Groningen zu sehen, die drei Musiker stammen vom Asko|Schönberg Ensemble aus Amsterdam und dem Slagwerk Den Haag. 

Fünf Freund:innen und ein abgebranntes Herrenhaus

Und damit hört das Gewirre noch nicht auf. Denn die Sache ist kompliziert. In das Leben der fünf Freund:innen Yara, Greta, Monica, Sebastian und Tony kriecht 9/11 – zwar 10 Jahre zu spät, am 11. September 2011 – dann aber mit aller Macht: Versehentlich zündet Tony ein altes Herrenhaus an, der Vater von Sebastian und Monica wird, weil er offenbar einem rassistischen Attentäter-Täter-Klischee entspricht, versehentlich beschuldigt und vor den Augen der Kinder von Polizisten brutal festgenommen. Das Ereignis reißt den Freundeskreis auseinander: Sebastian und Monica beschuldigen Tony, nichts gesagt zu haben, Greta übt sich in Rechtschaffenheit, Yara, die Stille, ist von Tony ungewollt angefasst worden und hat nichts zu seiner Verteidigung zu sagen.

Dazu kommen andere Konflikte: Zwar leben alle in derselben Siedlung – mit "ökologischem Sandkasten in der Nelson-Mandela-Straße" – die sich Diversität und Gleichheit auf die Fahnen geschrieben hat. Dennoch offenbaren sich Unterschiede: Die einen sind reich, die anderen nicht, die einen haben dunklere Haut, die anderen nicht. Privilegien, Sichtweisen auf die Welt sind unterschiedlich verteilt, und die Verhaftung des Vaters reißt die Gräben wieder auf. Jahre später feiern Yara und Sebastian Hochzeit, die Kindheitsfreunde sind eingeladen, um die Gräben zu überwinden. Was erstmal ungefähr so gut funktioniert, wie man sich das vorstellt.

Wucht, Poesie und bittere Ironie

Kern der Inszenierung von "Yaras Hochzeit" ist der Text von Antigone Akgün, Rasit Elibol, Mohamedou Ould Slahi, Rik van den Bos, deren Hintergründe selbst unterschiedlicher kaum sein könnten: Während Antigone Akgün an der Hessischen Theaterakademie studierte, begann Rasit Elibol journalistische Texte für den "De Groene Amsterdammer" zu schreiben, schrieb Rik van den Bos erste Theatertexte mit einem Stipendium im Rücken und Mohamedou Ould Slahi war in Guantanmo inhaftiert und begann später darüber zu schreiben.

yarashochzeit3 Katrin RibbeHochzeitfest der Identitäten. Ganz vorne: Anja Herden. © Katrin Ribbe

Trotzdem funktioniert die Zusammenarbeit: Das – übertitelte – Sprachgewirr entwickelt Wucht und Poesie, der 11. September, heißt es einmal voll bitterer Ironie, sei ein Feiertag geworden, wie Weihnachten, "am 11. September erinnern wir uns alle daran, wie gefährlich der Araber ist", oder: "Wir kannst du ein Kind lehren anzukommen, wenn du es selbst nicht weißt?"

Gezitter eines Streichinstruments meets Kirmestechno

Die Figuren in "Yaras Hochzeit" sind allesamt spannend, ungewöhnlich gezeichnet – nicht nur die fünf Freundin:innen, sondern auch Monicas und Sebastians Tante und Mutter, ihr Vater, der nie in Erscheinung tritt, Beau, Monicas Freund, und Penny, Gretas Freundin. Sie alle schleppen ihre eigenen Konflikte, Urteile, Vorurteile, Meinungen mit sich herum, sie alle geraten auf der Hochzeit immer wieder aneinander – über die Vergangenheit, über die Gegenwart, über ihr Verhältnis zueinander, und eben immer wieder: Über die unterschiedlichen Welten, in denen sie leben, egal, in was für einer utopischen Siedlung alle aufgewachsen sind. "Es gibt Welten", sagt Sebastian einmal, "die stehen nicht allen einfach offen."

Neben dem Text gibt es auch Musik – manchmal schlicht zur atmosphärischen Unterstützung mit Gezitter eines Streichinstrumentes, vager Percussion, einem Saxophon, einer Klarinette. Mal aber auch – weil eine Hochzeit ohne Musik nicht geht – als volles 1990er-Jahre-Kirmestechno-Brett. Hin und wieder aber auch zur Untermalung von Musicalnummern, die spontan passieren, beispielsweise, als die fünf Freunde sich zu ihrer fatalen Übernachtung begeben, als Sebastian über die Schönheit seiner Yara rappt oder Yara in einem sentimentalen Abschlusslied alleine in weißem Scheinwerferlicht steht. Hin und wieder dürfen es – zur Auflockerung, zur Visualisierung diverser Konfliktsituationen – auch mal Tanznummern sein.

yarashochzeit2 Katrin RibbeZwischen Text- und Tanzpassagen reißen Abründe auf. Und schließen sich wieder. © Katrin Ribbe

Es ist also ein wilder Ritt durch Genres und Sprachen, auf den der 1973 in Israel geborene Choreograf und Regisseur Guy Weizman das Publikum schickt. Vieles davon funktioniert ganz wunderbar: Der Text glänzt stellenweise ganz bezaubernd, die drei Musiker haben sichtlich Spaß an ihrer Aufgabe, die Musicalnummern sind, meist, ein surrealer Comic Relief zwischen ernsten Themenkomplexen, die, auch hier ein Lob für den Text, zwischen Figuren und Sprache keine generische Erörterung der Freuden von Diversität ist, sondern sich seinen Problemfeldern vorsichtig, aber bestimmt nähert, ohne zu belehren.

Stück über einen Generationenkonflikt

Zwar sind manche der Musicalnummern recht lang und statisch, aber gerade das markiert den Bruch einmal mehr. Zwar wirkt der Tanz manchmal etwas fehl am Platz, aber gerade das ist vielleicht, wo er sein soll. Zwar ist der Text der Musicalnummern oft recht naiv, aber gerade das ist Musicalnummern ja gerne eigen. Es lässt sich jedenfalls schwer argumentieren, formal sei hier etwas nicht rund – höchstens ungewöhnlich. Irritierend.

Im Herzen ist "Yaras Hochzeit" dann ein Stück über einen Generationenkonflikt – es ist die Elterngeneration, die nur das Beste für ihrer Kinder wollte, eine abgeschottete Utopie in einer geschützten Wohngegend errichten, ohne die Gräben zwischen Hautfarbe und Status. Diese Utopie scheitert, teilweise an 9/11, teilweise, weil sie eben naiv darauf besteht, keine Unterschiede zu kennen, wo sie aber dennoch deutlich sichtbar bleiben. Weil Gleichmacherei nicht funktioniert.

Das heißt aber nicht, dass alles verloren ist. Schließlich hat Yara ja alle auf ihrer Hochzeit zusammengebracht. "Was hindert uns daran, es mit dem, was wir wissen, nochmal zu versuchen?", sagt sie am Ende. Utopie ist kein Zustand. Utopie ist ein Prozess. Und am Ende steht das Publikum lange klatschend da.

Yaras Hochzeit
von Antigone Akgün, Rasit Elibol, Mohamedou Ould Slahi, Rik van den Bos
Uraufführung
Regie: Guy Weizman, Choreographie: Roni Haver, Bühne: Ascon De Nijs, Kostüme: MAISON the FAUX, Lichtdesign: Maarten van Rossem Komposition: Karima El Fillali, Loradeniz, Musikdramaturgie: David Dramm, Dramaturgie und Plotentwicklung: Friederike Schubert
Mit: Bien De Moor, Karima El Fillali, Anja Herden, Sarah Janneh, Nicolas Matthews, Igor Podsiadly, Katherina Sattler, Jésula Toussaint Visser, Sanne den Hartogh. Livemusik: Jochem Braat, Oriol Marès, Niels Meliefste
Premiere am 24. Februar 2023
Dauer: ca. 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

staatstheater-hannover.de
nnt.nl

 Kritikenrundschau

Man könne "Wut kaum sinnlicher kanalisieren als in dieser Produktion, die niedrigschwellig als Musical daherkommt", betont Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (27.2.2023). Die Erzählweise sei "vielschichtig, verschlungen, arabesk", der Abend eine "Empathieschulung", die Koproduktion des hannoverschen Staatstheaters mit dem NITE Groningen sei "maximal zugänglich und brutal eindringlich" zugleich, so der begeisterte Kritiker. 

Das Stück sei erfreulicherweise "alles andere als Thesentheater", schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen (27.2.2023). "Nur selten wird es plakativ und ein bisschen kabarettistisch." Stattdessen sei der Abend vor allem "eine bunte Revue, ein Musical mit hervorragenden Sängerinnen und Sängern (etwa Karima El Fillali als Yara oder Sarah Janneh als Freundin Monica) großartigen Tänzerinnen, tollen Livemusikern, die öfter mal klug ins Spiel einbezogen werden, und großartigen Schauspielerinnen (etwa Katherina Sattler, Anja Herden oder Bien de Moor), die eine berührende Geschichte erzählen."

Kommentare  
Yaras Hochzeit, Hannover: So toll
Jan Fischers Kritk stimme ich voll und ganz zu. Glückwunsch allen Beteiligten zu dieser Produktion! Das Stück scheint auch deswegen so toll zu gelingen, weil die Akteure eigene Lebenserfahrungen einbringen und so alles besonders lebendig werden lassen können. Die theamatisierten Koflikte, die belastenden individuellen Lebenssituationen, die immer komplizierte werdenen gesellschaftlichen Strukturen, die kaum noch zu durchschauen sind, mit Hoffnung auf Besserung(Yaras Schlußworte) zu versehen und resignativen Tendenzen entgegen zu wirken - eine Stärke des Stückes!
Kompliment auch für die Kooperation mit Groningen und die nachdenkliche Premierenfeier!
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