Dat Leven vun de Liven - Lichthof Theater Hamburg
Aussterben mit Gelassenheit
25. Februar 2023. Off- meets Ohnsorg-Theater: Helge Schmidt untersucht mit seinem Team die Minderheitensprachen Livisch und Plattdeutsch. Sie haben sich dafür kompetente Verstärkung der berühmten Hamburger Mundartbühne geholt.
Von Falk Schreiber
25. Februar 2023. "En ole Mann, de keen Woort mehr seggt, hett en mööd Gesicht, to mööd to’n Smuustern un to mööd, üm vergrellt to sien. Dat lohnt sik meist nich, em to beschrieven, gifft meist nix, wat em vun anner Lüüd ünnerscheden deit." In Peter Bichsels Kurzgeschichte "Ein Tisch ist ein Tisch" geht es um einen Menschen, der seine Sprache verliert. Irgendwann nennt er den Tisch "Stuhl" und den Stuhl "Bett", und schließlich kann er mit niemandem mehr kommunizieren.
Das Off- mit dem Ohnsorg-Theater
Bichsels Geschichte ist eine Geschichte über Alter, über Einsamkeit, womöglich über Demenz, aber Helge Schmidt geht es nicht in erster Linie um diese Aspekte, wenn er "Ein Tisch ist ein Tisch" an den Beginn seines Recherchestücks "Dat Leven vun de Liven" am Hamburger Lichthof Theater stellt, es geht ihm ganz konkret um die Sprache. Und deswegen ist "Ein Tisch ist ein Tisch" hier in eine ganz bestimmte Sprache übersetzt: ins Plattdeutsche. Was die Kommunikation schon von vornherein erschwert – der zugezogene Nachtkritiker jedenfalls wäre ohne Übertitel aufgeschmissen.
Plattdeutsch beziehungsweise Niederdeutsch wird in Deutschland und den Niederlanden von rund vier Millionen Menschen verstanden. Livisch hingegen gilt seit 2013 als ausgestorben, eine Sprache, die von der (heute ebenfalls kaum noch existierenden) Ethnie der Liven an einem schmalen Küstenstreifen in Lettland um das Dorf Kolka gesprochen wurde. "Dat Leven vun de Liven" ("Das Leben der Liven") zeichnet die Geschichte dieser finno-ugrischen Sprache (die umgeben vom indogermanischen Lettischen eine Diasporasprache darstellte) nach, und dass Schmidt das mit dem auch in Norddeutschland eine im Verschwinden begriffene Minderheitensprache darstellenden Plattdeutsch macht, ist eine komplizierte, aber schließlich einleuchtende künstlerische Entscheidung. Als Partner hat sich das Lichthof dabei mit Koryphäen zusammengetan: "Dat Leven vun de Liven" ist eine Koproduktion zwischen der Off-Bühne mit dem Ohnsorg-Theater, einer auf Mundart-Stücke spezialisierten Privattheater-Institution, die sich seit einigen Jahren bemüht, das Image der ausschließlich Boulevard fabrizierenden Touristenfalle abzuschütteln.
Hier bedeutet das, dass sich die Ohnsorg-Ensemblemitglieder Erkki Hopf und Birte Kretschmer die Bühne mit dem (aus Oldenburg stammenden und deswegen Platt-kundigen, mittlerweile allerdings in Nürnberg spielenden) Cem Lukas Yeginer und der hauptsächlich am Berliner Gorki engagierten Lamis Ammar teilen. Und sich dabei in breitestem Platt über integrative wie ausschließende Aspekte von Sprache austauschen: 2De nedderdüütsche Språåk is en Kontinuum, also besteiht ut verscheden westgermåånsche Dialekten, de vör allen in Noorddüütschland un in’n Oosten vun de Nedderlannen snackt warrt", doziert Yeginer, und man kann sagen, was man will: Man lernt hier durchaus was. Derweil werden per Video Statements aus Lettland eingespielt: von Baiba Šuvcāne, Leiterin des Livonischen Gemeindehauses Kolka, dem Rigaer Linguisten Valts Ernštreits oder dem Chorleiter Ģirts Gailītis. Sie beobachten das Aussterben des Livischen mit heiterer Gelassenheit. Mag ja sein, dass die Liven immer weniger werden, aber: Es sei mittlerweile ein wiederkehrendes Ritual, den Tod der letzten Livin zu verkünden, doch dann tauche immer noch eine weitere auf, meint Ernštreits. Alles gut.
Die dunklen Seiten der Sprachpflege
Zumal Sprache kein Selbstzweck ist, sondern immer wieder auch politisch vereinnahmt wird. In einem Exkurs geht es um Sprachpflegevereine, die um die Jahrhundertwende das Plattdeutsche als Heimatkunst gegen Moderne, Weltbürgertum und nicht zuletzt Sozialdemokratie in Stellung brachten, und da streift der sprachtheoretische Diskurs überraschend deutlich die aktuelle Politik. Gerade in Hamburg, wo es nicht weit ist vom (auch schon durch die Sprachpflegevereine geführten) Kampf gegen Anglizismen durch den Verein deutsche Sprache zur lokalen CDU, die derzeit ein Volksbegehren unterstützt, um gendersensible Sprache zu verbieten (und dabei mehr oder weniger öffentlich gemeinsame Sache mit einer homophoben und antifeministischen Initiative macht). Pikant: ein besonders lauter Streiter für solch plattdeutsche Heimatkunst war Richard Ohnsorg, Gründer des Ohnsorg-Theaters. Und die Ohnsorg-Spieler:innen Hopf und Kretschmer beweisen ihre Souveränität, wenn sie mit "Dat Leven vun de Liven" so die dunklen Seiten des eigenen Hauses thematisieren.
Freilich hat es seinen Reiz, den beiden am Boulevard geschulten Akteur:innen zuzusehen, wie sie sich in Schmidts Theater zurechtfinden. Im Grunde passiert auf der Bühne nichts, mal wird ein Kajak zusammengebaut, mal gibt Yeginer eine Tanzeinlage, aber die meiste Zeit wird geredet. Und mit jeder Minute finden sich Hopf und Kretschmer besser in dieses ereignisarme Theater ein: Versuchen sie zunächst noch, mit weit ausholenden Gesten und auf die Pointe hingesprochenen Sätzen Aktion zu faken, ist nach einer Weile klar, dass Aktion nicht das Ziel dieses Theaters ist. Dieses Theater versteht sich als Diskursraum, als gemeinsames Nachdenken im Spiel, und solch ein gemeinsames Nachdenken braucht die Muße des Leerlaufs. Und vielleicht ist das die große Kunst von Helge Schmidt: dass er den Leerlauf zulässt, dass er keine Antworten sucht, dass ihm schon der Austausch über ein Problemfeld viel interessanter erscheint.
Keine Antworten, keine Fragen
Ganz zum Schluss wird noch einmal Literatur zitiert, diesmal Clemens J. Setz' "Die Bienen und das Unsichtbare". "Düsse gräsige, verdreihte Språåk, de nichmål en Nååm hett, de is doch bannig schöön", spricht Hopf mehr zu sich als ins Publikum. "Un dat Truurigste is, dat ik ehr vun Harten leef heff." "Diese verfluchte Sprache, die keinen Namen trägt, ist doch sehr, sehr schön. Und das Traurigste ist, dass ich sie von Herzen liebe." Keine Antworten, keine Fragen, aber immerhin: herzzerreißend melancholisches Überlegen. Das erlebt man nicht oft, dass dem soviel Raum gegeben wird.
Dat Leven vun de Liven
Von Helge Schmidt und Team
Regie: Helge Schmidt, Ausstattung: ATELIER LANIKA (Lani Tran-Duc, Anika Marquardt), Übersetzung ins Plattdeutsche: Christiane Ehlers und Cornelia Ehlers, Video: Jonas Woltemate, Musik: Frieder Hepting, Lichtdesign: Sönke C. Herm, Künstlerische Mitarbeit: Sina Brüggemann, Judith Weßbecher, Produktionsleitung: Kaja Jakstat (Zwei Eulen), Dramaturgie: Anke Kell.
Mit: Lamis Ammar, Erkki Hopf, Birte Kretschmer, Cem Lukas Yeginer.
Premiere am 24. Februar 2023
Dauer: 70 Minuten, keine Pause
www.lichthof-theater.de
Kritikenrundschau
Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (26.2.2023) schreibt: "Der spielerische Anteil ist auf der Bühne erfreulich hoch, auch wenn eigentlich gar nicht viel passiert, außer dem, worum es geht: Kommunikation und Diskussion." Das geschehe oft mit feinem Humor und sehe auch dank der tollen nordisch anmutenden Fantasiekostüme sehr gut aus. "Eine gelungene Selbstbefragung und ein kleiner großer Theaterabend dazu, wie mit Sprache auch Welten verschwinden."
"Was passiert mit der Welt, wenn Pflanzen, Tiere und Sprachen aussterben? Brauchen wir den Mosel-Apollo-Falter – Inbegriff bedrohter Schmetterlingsarten? Die Antwort gibt das Stück durch eine geschickte Textauswahl, die sich collagenhaft sinnvoll zusammenfügt", schreibt Dagmar Ellen Fischer von der Deutschen Bühne (25.2.2023). "Die gewollt aufgesetzten Verkleidungen der Spielenden hätte es nicht gebraucht. Auch, dass – als Hommage an das ehemalige Volk der Fischer – ein Boot zusammengesetzt und dann, weil nicht mehr gebraucht, umgedreht wird, wirkt eher bemüht." Nach einer Stunde Spielzeit blieben besonders die Sätze der Liven in Erinnerung.
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