Nebelhorn im Schattenreich

25. Februar 2023. "Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich", steht im ersten Notizbuch der "Acht Oktavhafte" von Franz Kafka. Der große Atmosphären-Erschaffer Thom Luz transformiert die Texte der Sammlung in ein verdichtetes Gesamtkunstwerk. Es ist traumwandlerisch schön und verstörend.

Von Jan-Paul Koopmann

"Die acht Oktavhefte" am Schauspielhaus Hamburg in der Regie von Thom Luz © Sandra Then

25. Februar 2023. Misstrauisch hätte man vor zwei Stunden schon werden müssen, darüber wie leicht hier alles scheint. Gar nicht mal nur dieses monströse Klavier, das an einem Seil von der Decke baumelt und hübsch funkelt, wenn es sich ins Scheinwerferlicht dreht. Direkt darunter liegt ein Mensch im Bett und wartet auf sein Ende. Und das wohl auch zurecht, weil unter dem mehrfach übersetzt durch den Raum gespannten Seil eine Kerze brennt, die rauchend und manchmal zischend die Fasern wegfrisst. Unruhig macht das, weil es so lange dauert und man viel Zeit für die Vorstellung hat, beim nächsten Zisch ein Klavier in den Rücken zu kriegen.

Das Sterben und die Verstopfung

Über sowas denkt man nach und vielleicht über die symbolische Reibung hoher Kunst und zertrümmerter Knochen. Was hingegen völlig in Vergessenheit gerät, ist die unsichtbare Sicherung des Klaviers – die Tricktechnik also, der man hier längst hoffnungslos erlegen ist. Denn wie gesagt: Misstrauisch hätte man zwei Stunden vorher werden müssen. Und war es nicht geworden.

Es ist Kafka, den der Schweizer Regisseur Thom Luz im Hamburger Schauspielhaus inszeniert. "Die Acht Oktavhefte" ist eine zunächst nicht mal lose zusammenhängende Sammlung von Skizzen: für Briefe oder Erzählungen, die Kafka zwischen Ende 1916 und dem Frühjahr 1918 mit Bleistift notiert und nicht selten gleich wieder durchgestrichen hat. Nüchtern notiert werden auch Stimmungslagen und Zustände: Angst, Einsamkeit und Sterben – aber auch profanere Angelegenheiten wie Hexenschüsse oder Verstopfung. Zwischen diesen Miniaturen und Fragmenten macht sich Thom Luz mit Musiker:innen und Schauspielensemble nun auf die Suche. Nach etwas Verbindendem und Gemeinsamen vielleicht, aber so ganz genau erklären sie einem eigentlich nicht mal das.

DieachtOktavhefte2 SandraThenAuf der Suche nach Verbindung: Lars Rudolph, Michael Weber, Bettina Stucky, Jan-Peter Kampwirth, Eva Maria Nikolaus © Sandra Then

"Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich", lautet der erste Satz des ersten Notizheftes, der durch die angebotene Beweisführung sogar noch irritierender wird: "Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen." Das klingt rätselhaft, ist aber programmatisch für diesen Abend. Alles befindet sich in permanentem Umbau: In Zimmermannshosen und schwarzen Kapuzenpullis eilt der Chor unentwegt durch Duri Bischoffs Bühnenbild, stellt Leitern und Türen auf und schiebt Gebäudeelemente durch die Gegend. Wie gestresste Gastgeber:innen zu kurz vor der Party wuseln Schauspieler:innen dazwischen, scheinen Anweisungen zu geben, oder gucken bestürzt drein, weil immer noch nichts fertig ist.

Eine Nebelwelt der Geister

So richtig wird es das zwar auch nicht, aber das Bild verdichtet sich immerhin: zu einem instabilen Raum zwischen hohen, nikotingelben Wänden mit grotesk großen Fenstern, durch die man ins windschiefe Modell einer abschüssigen Altstadtgasse blickt. Textfragmente flackern an den Wänden auf, die mit Daniele Pintaudis Klavierspiel zu korrespondieren scheinen, meist aber viel zu schnell verschwinden, um wirklich gelesen zu werden. "Stille" kann man des Öfteren in diesem Wörterkompott entdecken, aber auch "dröhnen". Es ist schon verblüffend, wie weit sich Kafkas Text in den Hintergrund zurückzieht, während er im Bühnengeschehen sogar gedruckt allgegenwärtig scheint.

 Natürlich wird er auch gesprochen. So eindringlich sogar, dass man sich fast Sorgen macht, wie traumwandlerisch sicher sich die Schauspieler:innen durch diese zutiefst verstörende weil hoffnungslose Nebenwelt voller Geister bewegen.

DieachtOktavhefte3 SandraThenMusikalische Puzzleteile: Michael Weber, Bettina Stucky, Lars Rudolph © Sandra Then

Ab und an senkt sich ein Nebelhorn vom Schnürboden herab, um lautstark dazwischen zu tröten – ganz besonders dann, wenn gerade wer ansetzt zu erzählen, was er oder sie wirklich gerne möchte. Vielleicht ist es die Autorität selbst, nach der man ja immer sucht im Kafka, für die er geradezu berüchtigt ist. Nur scheint sie hier sonderbar dezent – für Nebelhorn-Verhältnisse jedenfalls. Wie das Störgeräusch wird auch Musik wird zum Puzzleteil: in sich wiederholenden Motiven im Spiel von Klavier und Trompete, aber auch in den Texten, Melodien und Atmosphären französischer Chansons. Ganz besonders schön: Wie Aristide Bruants A Batignolles, mit dem der Chor hier durch die Gänge des Schauspielhauses wandert, mal sphärisch leise aus den Wänden hallt. Dann singen sie es plötzlich lautstark oben auf den Rängen.

Zum Schneiden dicht

Ja, die Lieder sind wunderschön. Auch im Schauspiel gibt es ergreifende Momente subtiler Zärtlichkeit, das Bühnenbild ist eine Augenweide, lustig ist es auch noch und selbst das banalste Textfragment klingt hier wie ein aufs Schärfste geschliffener Aphorismus. All das sind Zutaten, mit denen Thom Luz den Blick auf Textexegese wohl eher verstellt als schärft, die dafür aber eine zum Schneiden dichte Atmosphäre auf die Bühne zaubern. Und das ist so schön, dass man es am liebsten gleich nochmal sähe – nur um sich noch etwas tiefer darin zu verlaufen und beim nächsten Mal vielleicht sogar noch etwas weniger zu verstehen.

 

Die acht Oktavhefte
Von Franz Kafka
Regie: Thom Luz, Konzeptionelle Mitarbeit: Stephan Müller, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme und Licht: Tina Bleuler, Musikalische Leitung: Mathias Weibel, Dramaturgie: Ludwig Haugk.
Mit: Jan-Peter Kampwirth, Eva Maria Nikolaus, Daniele Pintaudi, Lars Rudolph, Bettina Stucky, Michael Weber.
Sowie: Frederick Börner, Julia Boogaerts, Philipp Buder, Minou Djalili, Valentin Flögel, Minna John, Mara Legler, Duncan Mahlenhoff, Lena Moszczynski, Patricia Camille Stövesand, Marthe Timm.
Premiere am 24. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Thom Luz und sein musikalischer Leiter Mathias Weibel verstehen es, Wort, Bewegung und Musik zu verbinden", so Katja Weise vom NDR (25.2.2023). „Luz gelingt ein Abend in der Schwebe, mit vielen poetischen Bildern, einem leisen Humor, der jedoch besser intuitiv erfasst als verstanden werden kann und in manchen Momenten zu viel will.“

Dieser Abend serviere nichts gabelfertig, lege aber alles offen, stelle alles zur Verfügung, "auf dass man selbst beim Hinschauen, Hinhören und Hinfühlen sein Hirn und sein Herz anschmeiße", schreibt Maike Schiller vom Hamburger Abendblatt (27.2.2023). Skurril sei das, lustig, melancholisch und poetisch. "Handlung? Nicht im eigentlichen Sinne. Eher ein mäandernder, assoziativer Bewusstseinsstrom, in dem die Schauspieler ihre Sätze schmecken und die Musik wie ein widersprüchlicher Wegweiser agiert, dem Text einen Rhythmus ablauscht, während man als Zuschauerin wie Wunderland-Alice sanft durch den Abend gleitet."

"Die Bilder, die Luz nach Kafkas Anleitung baut, wirken, so umstandslos in die Wirklichkeit umgesetzt, angestrengt und übertrieben. Als würde sich hier jemand eine expressive Zeichensprache für Kafkas tastende Gedankenprosa ausgedacht haben, die alle Andeutungen, alles Schwebende gnadenlos darstellt und handgreiflich macht. So wirkt vieles von dem, was Luz auf die Bühne stellt, rein symbolhaft. Wird die musikalisch unterlegte Traumweltproduktion zur geschäftigen Kulissenschieberei", schreibt ein enttäuschter Simon Strauß von der FAZ (27.2.2023). Stimmungsvoll, aber eben seltsam wirkungslos sei dieser Abend. "Der Text war seinem Adapteur zu nah, als dass er den richtigen Abstand zu ihm gefunden hätte, um ein poetisches Spiel daraus zu machen."

"Es ist ein wunderbarer Abend, dieses Porträtmosaik Kafkas als Lebensflüchtiger", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (28.2.2023). "Eine Art rückwärtslaufende Explosion mit Musik, in der die vielen Bestandteile aus tollen Sätzen, architektonischen Verweisen, surrealen Einfällen und hilflosen Ausweichmanövern in einem Moment implodieren. Der von allem erschöpfte Kafka im Bett, geduldig wartend, dass ein Piano am seidenen Faden ihn von seinen Widersprüchen erlöst. Das ist das Schlussbild einer Verzauberung, die aus einer poetischen Trickkiste melancholischer Fragmente zwei Stunden Zuschauerglück hervorholt."

 

Kommentare  
Die acht Oktavhefte, Hamburg: Träumerisch
Eine zutreffende Kritik, die meinen Eindruck widerspiegelt. Mit einer Ausnahme: In den letzten ca. 30 Minuten gab’s zu viel Text…
Die acht Oktavhefte, Hamburg: Symbolisch überfrachtetet
Vielleicht hat sich nach der Lehrerprobe am Dienstag, den 21.2., noch maßgeblich etwas geändert an dieser symbolisch überfrachteten Bilder- und Musikshow, aber mein Eindruck war ein völlig anderer als der der oben zitierten Rezensenten. Um ehrlich zu sein: ich habe mich furchtbar gelangweilt. Ich konnte auch nicht - wie Jan-Paul Koopmann - die "Tricktechnik" vergessen, die angeblich die Illusion eines schwebenden und bald herabstürzenden Klaviers hervorruft - dieses Schlussbild über die letzte Viertelstunde der Aufführung wirkte lächerlich, zumal nun gar nichts mehr passierte. Wunderschöne Bilder, schöne Musik, ja, aber absolut kein Humor und außer der kafkaschen Verzweiflung über die Wirklichkeit des Schreckens oder die schreckliche Wirklichkeit keine wirklich nachvollziehbare oder bedeutsame Aussage. Es fragt sich wiedermal, ob man einen ganz und gar nicht dramatischen Text sinnvoll und "nachhaltig" auf die Bühne bringen kann.
Die acht Oktavhefte; Hamburg: Zustimmung für FAZ und Bäuerin
Ein quälender Abend. Frei drehende Bilder, nervtötende Musik und ein fehlendes Gespür für das rechte Timing: Das Nebelhorn unterbricht einen Sprecher? Guter Einfall. Beim nächsten Mal wieder? Ah, okay. Beim nächsten Mal schon wieder?! Gähn. Jeder (!) Einfall wird totgeritten. Das Klavier hängt länger als zwei Minuten über dem Bett? Dann fällt es sicher nicht mehr. Leider dauert es über zwanzig Minuten dieses Nicht-Fallen.
Ich habe mich selten noch mehr gelangweilt im Theater als an diesem Abend. Kein Vergleich zur wunderbaren Schloss-Inszenierung!
Oktavhefte, Hamburg: Zum Abirren verleitet
Thom Luz inszeniert „Die acht Oktavhefte“ als ein Sinnenfest des Horchens und Schauens. Performatives Theater vom Feinsten. Ausgangspunkte dieser Inszenierung sind zum einen Kafkas Musikvorlieben für die Operette, die Opern von Abraham Goldfaden und französische Chansons, weiter spielen Orte wie eine Stadt, ein Haus, ein Zimmer und das Zimmer in mir wichtige Rollen und letztendlich die fragmentarischen Inhalte der Oktavhefte Kafkas. Aus diesen Elementen zaubern Thom Luz und Mathias Weibel einen kafkaesken Abend überraschender Bilder und emotionaler Klangvariationen. Für mich hat sich dieser Abend aus dem Beobachten des Bühnengeschehens und dem Lauschen der Klänge erschlossen und nicht durch primäre Sinnsuche in dem Geschauten. Die Räume wurden durch die ständige Bewegung der Bühnenelemente erschaffen und riefen dabei immer wieder Erinnerungen an die Bilderwelten von M.C. Escher in mir wach (z.B.: Türfluchten unterschiedlicher Größe, auf- und absteigende Treppenstufen, die kleine Stadt, dass überdimensionale Zimmer, sich ständig verändernden und wandernden Schatten; im Grunde multistabile Wahrnehmungsphänomene). Die Verknotungen des durch den Raum gespannten Seiles, des über dem Bett hängenden Klaviers, erinnerten mich an Verhüllungen Christos. Untermalt wurde dies von Geräuschen, Gesang und Musik, um die Bilderwelten weiter emotional aufzuladen. Schauen und horchen waren für mich der Zugang, der ständig neue Bilder in mir erzeugte, die genauso flüchtig waren, wie sie entstanden waren – Traumfrequenzen, die sich zu einer fragmentarischen Story formten. Unvergessene Bilder sind Lars Rudolph, wie er das Klavier mit äußerster Kraft am Seil an der Zimmerdecke hält, die Treppe, die mit den Personen im Boden versinkt und die durch den Lichteinfall im Zimmer wandernden Schatten. Luz lässt dem Betrachter viel Zeit für seine Bilder und entschleunigt so immer wieder das Geschehen. Je länger der Abend dauert um so gewaltiger, düsterer und bedrohlicher werden die Bilder. Kafka hält Einzug – Einsamkeit, Angst, Tod erobern die Bühne. Wundervoll, wie „A Batignolles“ im Chorgesang durch das Schauspielhaus wandert und mal leise und laut erklingt und so den Raum erfahrbar macht. Kafka ein Magier der Wortlabyrinthe wird durch Bilderlabyrinthe (Escher) körperlich erfahrbar. Dieser Abend hat mich im Sinne der Oktavhefte zum Abirren verleitet und ich bin gefolgt. Ich habe mich absichtlich verlaufen und mich selbst in Unsicherheit begeben, geschaut, gehorcht, gestaunt und überrascht was ich alles gesehen und gehört habe, mit allen meinen Sinnen.
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