Ganz in Weiß

26. Februar 2023. Sieben Biografien, 13.712 weitere dahinter. Denn mindestens so viele Menschen ermordeten die Nationalsozialisten in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Die Dramatikerin Tine Rahel Völckers hat einige Biografien Ermordeter für ihr Stück recherchiert. Nicole Schneiderbauer inszenierte die Uraufführung.

Von Martin Thomas Pesl

Uraufführung "Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte" von Tine Rahel Völcker am Staatstheater Augsburg © Jan-Pieter Fuhr

26. Februar 2023. Wenn sie queer oder zu erfolgreich waren, zu viele, zu wenige oder zu uneheliche Kinder hatten, lebten Frauen früher gefährlich. Die Einweisung in Krankenanstalten wegen "Hysterie" ging nicht nur den Nazis locker von der Hand. Wenig überraschend schreckte das NS-Regime aber nicht einmal vor Mord zurück. In der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein nahe Dresden ließ Hitler Tausende "lebensunwerte" Leben gewaltsam beenden. 

Einige davon recherchierte die Berliner Dramatikerin Tine Rahel Völcker für ihr Schauspiel "Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte". Nach einer von ihr selbst äußerst aufwändig inszenierten Lesung im Ballhaus Ost 2019 
überarbeitete die Autorin das Stück. Nicole Schneiderbauer, Hausregisseurin am Staatstheater Augsburg, besorgt nun die offizielle Uraufführung.

Stellvertretend für 13.712 weitere

Auf der brechtbühne im Gaswerk, der Ausweichspielstätte während der Sanierung, bestreiten sieben Menschen den Abend. Sieben Frauen, sieben Akte, sieben Spieler:innen? So einfach macht es sich Schneiderbauer nicht. Einer der sieben ist nämlich der Musiker Fabian Löbhard. Bei Bedarf vom Ensemble unterstützt gibt er bedrohliche und mitunter erstaunlich peppige Rhythmen vor. Löbhard trommelt und singt, doch auch ein modulares Eisenklettergerüst dient ihm als Instrument, wenn es nicht gerade als Bühnenbildelement beklettert wird.

Auf den Prolog ("Wir trauern um sieben Menschen stellvertretend für mindestens 13.712 weitere") folgt die erste Geschichte, jene der lesbischen Journalistin und Arbeitskämpferin Ann Esser. Die Protagonistin ist keiner bestimmten Spielerin zugeteilt, wechselt schneller den Körper, als man schauen kann. Dazu reden ihre Geliebte, diverse Redakteure, später Krankenschwestern auf sie ein, begleitet von hektischem Schreibmaschinengeklapper und Steppsport auf Waagen – Esser forderte bei der Entlassung aus der Psychiatrie ihre dort verlorenen acht Kilo zurück.

Die nächsten zwei Stunden versprechen zu ermüden. Da hilft nicht, dass die subtilen Unterschiede in Miriam Buschs Grundkostüm sich nur mit zusammengekniffenen Augen erkennen lassen. Auf den ersten Blick wirken alle gleichermaßen nackt bis unschuldsweiß, ein Spiegel des guten Dutzends Krankenhemden, die symbolisch an Kleiderhaken über der Bühne schweben.

"In trauriger Pflichterfüllung"

Doch schon Akt zwei über die achtfache Mutter Frieda W., die sich zwecks Familienerhalts prostituierte ("Ja, das Leben als Frau ist absurd."), bietet Spannung. Die stolze Schwangerschaftsfanatikerin ist klar Ute Fiedler zuzuordnen, auch wenn die Babybäuche – eine reizvolle Verfremdung – die anderen tragen. Für jede Biografie findet Regisseurin Schneiderbauer eine neue Form des Sprechen, Zeigens und des Ensemblezusammenspiels. Denn ihre Leben verliefen höchst individuell, auch wenn die Szenen alle ähnlich enden mit haarsträubenden Diagnosen und "in trauriger Pflichterfüllung" übermittelten Todesnachrichten.

frauenderunterwelt3 Jan Pieter FuhrHöchst individuell: Ute Fiedler, Christina Jung, Katja Sieder © Jan-Pieter Fuhr

Akt fünf und sechs – beide dadurch gekennzeichnet, dass nicht das Opfer selbst spricht, sondern die Tochter bzw. der Bruder – sind miteinander verschnitten und münden in einen Chor der Ärzt:innen, der als kriechende, marschierende, haareraufende Menschentraube durch den Raum huscht und mit zynischen Argumenten das damalige Handeln verteidigt.

Der Mann, ein Daumenlutscher

Und doch, bei aller beachtlichen Beweglichkeit ist die Grundlage ein Text, der fast immer frontal ins Publikum zu sprechen ist: Dialoge wie Erzählstellen, Demoaufrufe wie Arztbriefe, ihr Zweck ist, an die unfassbaren Verbrechen zu gemahnen, die an diesen und vielen anderen Frauen begangen wurden. Und so ist man dankbar für die wenigen spielerischen Verdichtungen: wenn Christina Jung als unglücklich verliebte Lina in einen Mix aus Leintuch, Brautkleid und Zwangsjacke gekleidet tanzt oder Florian Gerteis vom Lachen der toten Zwillingsschwester ergriffen wird und sich mit dem Vater (Andrej Kaminsky) ein Schreiduell liefert.

Oder wenn Sarah Maria Grünig als Margarete B. ihrem Gatten so lang einschärft, dass sie kein Kind mehr will, bis der (wieder Kaminsky) sich zum Daumenlutschen in die Embryonalstellung zurückzieht. Margarete ist überhaupt die Coolste. Von einem Arzt übers Ohr gehauen, verbreitet sie in der Anstalt die Mär von einem Patienten, den es besonders schlimm getroffen habe. Er trage einen weißen Kittel, "denn die Farbe Weiß beruhigt ihn". Bitte lass das wirklich passiert sein!

Der ermächtigende Moment gegen Ende des siebenten Aktes ermöglicht der engagierten "Biografiktion“ jedenfalls den Übergang zu einem fast optimistischen Fazit: "Was stört, das lebt."

Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte
von Tine Rahel Völcker
Uraufführung
Inszenierung: Nicole Schneiderbauer, Bühne & Kostüm: Miriam Busch, Video: Stefanie Sixt, Komposition: Fabian Löbhard, Körperarbeit: Gabriella Gilardi, Licht: Moritz Fettinger, Dramaturgie: Sabeth Braun.
Mit: Ute Fiedler, Christina Jung, Sarah Maria Grünig, Katja Sieder, Florian Gerteis, Andrej Kaminsky, Live-Musik: Fabian Löbhard.
Premiere am 25. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-augsburg.de

Kritikenrundschau

"Eindringliche Chorszenen wechseln mit den Wutreden der Frauen, in denen der Wille nach Selbstbehauptung trotz größter Demütigung zum Ausdruck kommt", beschreibt Birgit Müller-Bardorf den Abend in der Augsburger Allgemeinen (27.2.2023). Regisseurin Nicole Schneiderbauer gebe "diesem Stimmenreichtum viel Raum, ja verstärkt ihn noch". Gelungen sei eine Inszenierung, "die in zwei Stunden ohne Pause viel Konzentration erfordert, und die bei aller Erschütterung über das Schicksal der Frauen auch Bewunderung für ihre Stärke hervorruft, weil sie einer grausamen Machtmaschinerie ihre Selbstbehauptung entgegensetzten". Ein Abend, dem "viele Besucher zu wünschen" seien, schließt die Kritikerin.

Tine Rahel Völckers Euthanasie-Stück ist zunächst ein starker, bedrückender Text. Ein Text über weibliche Emanzipationsversuche auf der einen und die Willkür auf der anderen Seite, mit der damals mit Frauen verfahren wurde", schreibt Christine Lutz in der Süddeutschen Zeitung (28. Februar 2023). Für die Umsetzung der starken Vorlage findet die im Kollektiv arbeitende Regisseurin dem Eindruck der Kriikerin zufolge dann, "wohl aus dem dringenden Wunsch heraus, den starken Text ernst zu nehmen und auch spielerisch interessant zu machen, eine Art kreativen Daueraktionismus: Die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler, die die ganze Zeit auf der Bühne stehen, sind immer in Bewegung, suchen Bilder für die Geschichte." All das führe zu einer Unruhe, die einiges von der Brutalität und der Poesie des Textes verwische. "Der Text aber braucht diese Über-Bespielung gar nicht, das Grauen kann für sich allein stehen, man muss nicht immer ausdekorierte Bilder dafür finden." Schneiderbauer gelängen jedoch auch berührende Momente, "in denen Aktion und Text wunderbar zusammen finden".

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